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# taz.de -- Lehren aus den Gaza-Protesten: Zaghafte Strukturen einer radikalen …
> Die Gaza-Proteste zu kritisieren ist leicht. Deutschland hat die Bewegung
> bekommen, die es verdient: Die einen schreien, weil die anderen
> schweigen.
Bild: Eine propalästinensische Demonstration unter dem Motto „Stoppt den Gen…
Lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Am Freitag wird ein ansehnliches
Bündnis zivilgesellschaftlicher, humanitärer und humanistischer Kräfte vor
dem Kanzleramt Forderungen vertreten, die so selbstverständlich wie
unerhört sind: „Menschenleben dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen
werden. Palästinensisches Leben ist genauso kostbar wie israelisches
Leben.“ Und deshalb bitte keine [1][doppelten Standards] bei den
Menschenrechten und im Völkerrecht.
Warum hat es fast ein Jahr gedauert, bis solche schlichten Grundsätze
universellen Zusammenlebens mit Selbstbewusstsein auf einen zentralen Platz
der Republik getragen werden? Weil wir ein trauriges, feiges, verlogenes
Land geworden sind. Weil in diesem Jahr viele Hoffnungen zertreten wurden,
nicht zuletzt die Hoffnung auf eine gelingende Einwanderungsgesellschaft.
Weil wir eine defekte Demokratie sind, von oben wie von unten.
Hier also meine persönliche kleine Bilanz eines Jahres der zerronnenen
Gewissheiten. Nachdem die deutsche Politik mit dem Völkermord an Juden und
Jüdinnen die Unterstützung einer Kriegsführung begründen konnte, die andere
Teile der Welt als Genozid betrachten, ist auf wenig mehr Verlass.
## Die Staatsräson ist komfortabel
Die humanistische Substanz der offiziellen Erinnerungskultur hat sich als
erschreckend dünn erwiesen. Und eine repressiv auftretende Staatsräson, der
aus Mangel an Zivilcourage nur wenige widersprechen mögen, hat noch eine
weitere Annahme erschüttert: nämlich den Glauben, das Gedenken an die
NS-Verbrechen werde helfen, künftigem Faschismus und Autoritarismus
vorzubeugen.
Noch können wir das Ausmaß der moralischen und intellektuellen Krise, die
mit all dem einhergeht, kaum begreifen. Aus globaler Sicht umreißt der
Historiker Enzo Traverso in seinem neuen Buch „Gaza im Auge der Geschichte“
diese Krise so: Wie die Erinnerung an den Holocaust im Gazakrieg
missbraucht worden sei, „kann diese Erinnerung nur beleidigen und
diskreditieren“. Und er befürchtet: „Das Gedenken an den Holocaust wird
seine erzieherische Kraft verlieren.“ Zahlreiche Menschen, die weltweit in
der Holocaust-Education arbeiten, treibt eine ähnliche Sorge um, auch wenn
sie zurückhaltender formulieren als Traverso. Warum wird diese Krise in
Deutschland so wenig gespürt?
Weil das Denksystem der Staatsräson nicht nur autoritär ist, sondern auch
überaus komfortabel, eine Art nationales Sofa der gebildeten Schichten. Es
erlaubt eine Trägheit der Herzen und des Verstandes, es erlaubt, sich
moralisch überlegen zu fühlen, während man brennenden Fragen von
Menschlichkeit aus dem Weg geht. So ist eine Mentalität vorsätzlicher
Ignoranz entstanden: Als gäbe es ein spezielles deutsches Recht, nicht zu
wissen – nicht zu wissen, was genau in Israel, Gaza oder im Westjordanland
vor sich geht oder wie gefährlich Israels radikale Rechte tatsächlich ist.
Weil sich Deutsche in Watte packen, sich schützen müssen vor diesem Wissen.
Sich bloß nicht berühren lassen, nicht herausfordern lassen, weder
emotional noch intellektuell. Zu zweifeln, wäre nicht mehr komfortabel.
## An die Vulnerablen delegiert
Dies alles sind keine Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Sie zeigen
eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, ein erwachsenes, reifes
Gespräch mit sich selbst und der Welt zu führen. Wir sehen ein Land, das so
lächerlich wie traurig Jagd auf Pappkartons mit [2][„From the River to the
Sea“-Slogans] macht, anstatt eine kluge Diplomatie zu entwerfen gegenüber
der politisch längst verflochtenen Realität zwischen Fluss und Meer.
Die [3][Gaza-Proteste auf den Straßen] sind mit allem, was an ihnen zu
kritisieren ist, wie ein Spiegelbild der Mentalität des Mainstreams.
Zynisch formuliert: Deutschland hat genau die Bewegung bekommen, die es
verdient. Darin sind viele migrantisch, viele ohne deutschen Pass, manche
staatenlos, die meisten sehr jung und viele mit prekären Jobs.
An diese sozial und juristisch vulnerable Minderheit haben die
Kartoffel-Deutschen delegiert, was ihnen selbst hin und wieder gut zu
Gesicht stehen würde: einen Einspruch wagen gegen das nicht enden wollende
Töten von Zivilisten.
Von Beginn der Proteste an wurden viele Demonstranten wie Kriminelle auf
Freigang behandelt, nun vermummen sich viele von ihnen und liefern so die
erwünschten Bilder: Unsere Banlieue, da traut sich nur Polizei in
Kampfmontur hinein.
Ach, wie leicht ist es, sich zu überheben – über eine Bewegung, die
schreit, auch in Misstönen, weil all jene schweigen, die gefahrlos sprechen
könnten, mit dem guten Job, der richtigen Hautfarbe, dem sicheren Pass. Und
weil sich nicht einmal eine Hand ausstreckt, um zu signalisieren: Ich lehne
eure Parolen ab, aber ich verstehe euren Schmerz.
Die Bewegung auf der Straße ist mit steigenden Todeszahlen in Gaza (und nun
im Libanon) [4][kaum größer geworden], nur verzweifelter. Gewachsen ist
indes etwas anderes: eine Szene derer, die der Einschränkung der
Meinungsfreiheit, der deutschen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit mit
anderen Mitteln widersprechen, als Künstlerinnen, Anwälte oder
Wissenschaftler. Die Aktivsten unter ihnen sind, neben Palästinastämmigen,
nicht zufällig oft Juden/Jüdinnen.
So ist etwas im Entstehen, das seinerseits ein Produkt dieses grässlichen
Jahres ist: Gegen eine missbräuchliche Geschichtspolitik von oben entstehen
zaghafte Strukturen einer radikalen Demokratie und universalistischen
Erinnerungskultur von unten. Ich hoffe, dass ich mich damit nicht täusche.
Und als Nachtrag wäre vielleicht noch dies zu bedenken: Ein Staat, der so
außer Rand und Band gegen eine Minderheit vorgeht, die keinerlei Lobby im
öffentlichen Raum hat, ist potenziell gefährlich für alle.
16 Oct 2024
## LINKS
[1] /Waffenruhe-zwischen-Israel-und-Libanon/!6035843
[2] /Verbot-von-from-the-river-to-the-sea/!6039211
[3] /Nahost-Demos/!6034896
[4] /Palaestina-in-der-Schwarzen-Community/!6039758
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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