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# taz.de -- Catcalling auf Berlins Straßen: Nur mit Pulli sicher
> Verbale sexuelle Belästigung ist für Frauen im Sommer Alltag. Catcalling
> ist keine Vorstufe zu einer Tat, sie ist eine, findet unsere Autorin.
Bild: Catcalling, also verbale sexuelle Belästigung, kann in den USA mit Gelds…
Es wird kalt, ich kann mir einen Pulli überziehen. Mir fällt ein Stein vom
Herzen: Endlich Schutz. Der Sommer war eine Qual, die verbalen
[1][sexuellen Belästigungen] kaum auszuhalten.
„Warum kannst du keinen BH tragen?“, schrie [2][mich ein Mann] neulich
vorwurfsvoll an, als ich auf die Straße trete. „Ich kann deinetwegen auf
der Straße nicht laufen!“, sagt er und zeigt auf seinen erigierten Penis.
Ob ich denn nicht verdammt noch mal einen BH hätte?
„Doch, klar“, entgegne ich ihm. Was würde dir denn heute gefallen, was ich
mit meinen Brüsten mache? „Glaubst du, dir würde nicht der Sabber aus dem
Mund fließen, wenn ich einen BH tragen und meine Brüste noch größer wirken
würden?“, frage ich den Erigierten-Penis-Mann. „Fick dich Bitch!“
Bei diesen Reaktionen verstehe ich, dass der Großteil meiner Freundinnen
die sexualisierenden Kommentare wortlos über sich ergehen lässt. Es
erfordert Mut und Kraft, sich zur Wehr zu setzen.
Die [3][Erfolgschancen der Verfolgung] einer Strafanzeige sind derweil
verschwindend gering – auch weil diejenigen, die die Straftaten aufnehmen,
sich selbst oft sexistisch verhalten.
„Schöne Beine“, kommentierte ein Polizist neulich, als ich auf einer
feministischen Demo an ihm vorbei lief. Sein Kollege (weil ich eine
Boxerhose trug): „Boxt du auch im Bett?“ Schallendes Gelächter in den
Reihen der Polizei. Fast muss ich selbst lachen, weil ich früher allen
Ernstes dachte, sie seien diejenigen, die mich beschützen.
## Internalisierter männlicher Blick
Dabei sind sie es, die die Gewalttaten gegen Frauen häufig verteidigen,
indem sie Frauen einschüchtern, nicht ernst nehmen oder Täter-Opfer-Umkehr
betreiben. Sie sind es, die Fragen stellen, die an die Kategorie „Was
hattest du an?“ erinnern und implizieren, dass die erfahrene sexualisierte
Gewalt eine adäquate Reaktion auf eine „Provokation“ der Betroffenen sei.
„Provokationen“ sind dann wohl, es als Frau zu wagen, ein T-Shirt zu
tragen.
Studien ergeben, dass das Durchschnittsalter für den ersten Catcall, also
verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, in Deutschland 13,8
Jahre beträgt. Die Täter sind zu fast 100 Prozent Männer. Dadurch
internalisieren Mädchen ab dem Kindesalter den male gaze, die Projektion
männlicher Fantasien auf Frauen, sodass viele im Erwachsenenalter gar nicht
mehr wissen, wie sie ihren Körper schön finden. Wehrt man sich gegen die
ständig ausgesprochene Bewertung durch Männer, wird einem häufig
unterstellt, man habe ein persönliches Problem.
Was, wenn kein strukturelles Problem, ist es, wenn ich nahezu jeden zweiten
Tag Erfahrungen mache, wie mit dem Mann auf der Hermannstraße in Berlin,
der sich im Vorbeilaufen an mir, die Lippen leckt und fragt: „Darf ich mal
abbeißen?“.
Oder dem Typen, der aus dem Auto auf mich spuckt und sagt: „geil“. Oder den
Männern auf der Boddinstraße, die sich lautstark über mich unterhalten:
„Ey, guck mal die geile Schlampe, so eine muss man direkt nehmen, lecken
und ficken, von vorne und von hinten.“
Aus diesen Worten müssen keine Taten werden, sie sind es bereits. Trotzdem
ist Catcalling hierzulande als berührungslose Belästigung nicht strafbar.
Geahndet werden kann es höchstens als Beleidigung nach Paragraf 185 StGB,
der die Ehre schützt. Doch es gibt eine Strafbarkeitslücke: Viele
degradierende Sprüche fallen nicht darunter.
„Du Schlampe“ etwa gilt als Beleidigung der Ehre, „geiler Arsch“ hingeg…
nicht. 2017 urteilte der Bundesgerichtshof, die Aussage eines 65-jährigen
Mannes gegenüber einem 11-jährigen Mädchen, er wolle ihr „an ihre Muschi
fassen“, enthalte keine „herabsetzende Bewertung“.
Während die schwammigen Grenzen dieser Mikroaggressionen das deutsche
Rechtssystem vor Herausforderungen stellen, gilt Catcalling in Frankreich,
Belgien, Portugal und den Niederlanden als mit Geldstrafen bewehrte
Straftat.
In Deutschland unterzeichneten 2020 knapp 70.000 Menschen eine Petition für
eine Gesetzesverschärfung. Anfang des Jahres hat die niedersächsische
Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) angekündigt, eine
Bundesratsinitiative für eine Gesetzesänderung auf den Weg bringen zu
wollen. Passiert ist bislang nichts. Selbst wenn Catcalling strafbar wäre,
ist fraglich, ob es Männer abschrecken würde.
## Normalisierung von niedrigen Gewaltformen
Für physische sexuelle Belästigung können Täter mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft werden. Das hält sie
nicht gerade von den Taten ab. Laut Bundesfamilienministerium wird jede
dritte Frau in Deutschland einmal in ihrem Leben Opfer von physischer
und/oder sexualisierter Gewalt. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.
Frauen erstatten nicht zuletzt deshalb häufig keine Anzeige, weil
Institutionen und die Justiz Gewalt gegen Frauen nicht hinreichend ahnden.
Neben unzureichender Rechtsprechung fehlt es auch an einem Verständnis für
ihre Lebensrealitäten und echtem Willen, Frauen zu schützen. Das wird am
Beispiel von Catcalling und dem verzerrten Ehrverständnis des Justizsystems
deutlich, das überwiegend von weißen Männern geprägt wird.
Wie wirksam eine Strafbarkeit von Catcalling wäre, ist daher unklar.
Aufgabe der Rechtsprechung ist es, die Moralvorstellungen der
Öffentlichkeit widerzuspiegeln. Verbale sexuelle Belästigungen sind Gewalt.
Sie können der Anfang der Gewalt sein, die im Femizid gipfelt.
Catcalling nicht unter Strafe zu stellen, trägt dazu bei, dass niedrigere
Gewaltformen als „normal“ und akzeptabel gelten. Es strafrechtlich zu
verfolgen, würde signalisieren, dass Sexismus nicht erst bei körperlicher
Gewalt beginnt.
Es könnte Frauen die Legitimation geben, ihre Erfahrungen als belastend zu
empfinden. Mir ist es peinlich, dass ich in letzter Zeit so oft deshalb
weinen muss. Ist doch nichts passiert.
Aber es ist etwas passiert. Ich schränke mich täglich ein. Jeden Morgen
stehe ich vor dem Schrank und frage mich: Habe ich genug Energie für das
Tanktop oder trage ich doch lieber Pulli, auch bei 30 Grad? Um in Ruhe
gelassen zu werden, um die Sprüche nicht mehr ertragen zu müssen.
20 Sep 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Lilly Schröder
## TAGS
sexuelle Belästigung
Misogynie
Gewalt gegen Frauen
Carsharing
Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
Sexismus
Kolumne Alles getürkt
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