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# taz.de -- Vorstoß aus Niedersachsen: „Catcalling“ soll verboten werden
> Hinterherpfeifen auf der Straße, anzügliche Kommentare: Frauen müssen
> kein Freiwild sein, meint die niedersächsische Justizministerin.
Bild: Was Mädchen sich so anhören müssen: Kreideaktion in Berlin
Hamburg taz | Niemand solle für einen „verunglückten Flirtversuch bestraft
werden“, betonte Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD)
vergangene Woche. Da hatte die rot-grüne Landesregierung beschlossen, einen
Gesetzentwurf in den Bundesrat einzubringen, um einen neuen Straftatbestand
zu schaffen: Auch nicht-körperliche sexuelle Belästigungen, sprich verbale
Äußerungen und Gesten, sollen künftig Eingang in das Strafgesetzbuch
finden.
„Viel zu viele Mädchen und Frauen müssen bislang erleben, dass Männer sie
mit Worten oder Gesten zum bloßen Sexualobjekt degradieren“, sagte
Wahlmann. Sexuell belästigende Äußerungen und damit vergleichbare
nonverbale Verhaltensweisen seien „nicht harmlos – und schon gar kein
Kompliment“.
Als „[1][Catcalling]“ hat dieses Phänomen in den vergangenen Jahren
vermehrt Aufmerksamkeit bekommen: Gemeint sind damit Pfeif- oder
Kussgeräusche, aufdringliche Blicke, vermeintliche Komplimente, anzügliche
Bemerkungen, Kommentare über das Äußere oder auch sexuelle Belästigung auf
Social Media.
[2][Einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen]
zufolge sind 97,2 der Täter*innen männlich. Frauen und diverse Personen
dagegen sind deutlich stärker als Männer von Catcalling betroffen. 93,4
Prozent aller Befragten berichteten von nonverbalem Catcalling in Form von
Pfeifen, Anstarren oder Anhupen, 75,4 Prozent von anzüglichen Bemerkungen,
sexuellen Fragen und obszönen Witzen oder sexuellen Aufforderungen.
Verfolgung, sexuelle Annäherungsversuche und Aufdringlichkeit erlebten 72,2
Prozent der Teilnehmer*innen.
## Je jünger, desto mehr
Je jünger die Befragten, desto mehr wurden sie zur Zielscheibe. Während
53,6 Prozent der über 45-Jährigen über unterschwellige sexuelle Kommentare
oder Gesten klagten, waren es bei den 16- bis 19-Jährigen 82,1 Prozent.
Catcalling findet besonders oft an öffentlichen Plätzen wie Straßen oder
Parks und im öffentlichen Nahverkehr statt, in Clubs und Kneipen, aber auch
im Internet und an Universitäten. Nur 5 Prozent der Opfer meldeten ihre
Catcalling-Erfahrung der Polizei. Das Erlebte sei ihnen zu „trivial“
erschienen, und ihnen hätten die Beweise gefehlt, so die Studie.
Damit sich das ändert, hat die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt
Salzgitter, Simone Semmler, 2022 [3][eine Meldeplattform für Catcalling]
einrichten lassen. „Es braucht ein deutliches, sichtbares, rechtliches
Zeichen, dass dieses Verhalten unrecht ist“, sagt Semmler, die bei ihrem
Vorstoß mit einem [4][Netzwerk aus Frauenbüros und
Gleichstellungsbeauftragten] zusammengearbeitet hat, die Aktion trug den
Namen „#kein Kompliment“.
Sie sei „entzückt“, dass die Aktionen nun Wirkung zeigten, sagt Semmler. Es
brauche das Zeichen, um einerseits die Täter in ihre Schranken zu weisen
und andererseits zur Bestätigung der Wahrnehmung der Betroffenen, dass
nicht tolerierbar ist, was ihnen geschieht.
## Mit Zeugen nicht unmöglich
Für eine Strafverfolgung braucht es Beweise, das ist Semmler klar. „Mir ist
bewusst, dass das schwierig ist, aber mit Zeugen nicht unmöglich.“ Vor rund
30 Jahren hätten die alten Männer im Bundestag gelacht, als Petra Kelly von
den Grünen Vergewaltigung in der Ehe als Strafratsbestand forderte. Heute
würde niemand mehr das Unrecht infrage stellen. Warum solle das bei
Catcalling anders sein?
„Hast du kurz Bock auf eine Runde Sex?“, „Geiler Arsch, da kann man was
machen“: Das sind nur zwei Beispiele von hunderten, die Hannoveranerin
Lisanne Richter mit Kreide auf die Straße malt. Richter, die auch den
Instagram-Channel „Catcalls of Hannover“ gegründet hat, ist Vorsitzende des
Vereins „Chalk Back Deutschland“, der solche Aktionen in vielen Städten
durchführt.
Eine Aufnahme von verbaler Belästigung ins Strafgesetzbuch gebe Betroffenen
Sicherheit, aber das reiche nicht, sagt sie. „Um dieses Verhalten
nachhaltig zu beenden, braucht es gesellschaftliches Umdenken.“ In Hannover
habe „Chalk Back“ die Ratsinitiative „Catcalling is over in Hannover“
angestoßen, dabei sei das Ordnungsamt geschult worden.
Im niedersächsischen Vorstoß wird der Begriff „Catcalling“ allerdings
bewusst vermieden: Er könne als „unangemessen verniedlichend“ empfunden
werden; insbesondere sei es herabwürdigend, „die Betroffenen mit Katzen
gleichzusetzen“, heißt es in der Einführung des Gesetzentwurfs.
## Weder Belästigung noch Beleidigung
Nötig sei die Ergänzung im Strafgesetzbuch, weil nicht-körperliche sexuelle
Belästigung „derzeit grundsätzlich nicht strafbar und in der überwiegenden
Anzahl der Fälle auch nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden“ könne.
Weder stellten Sprüche wie „Ich will dich ficken“ den Straftatbestand der
sexuellen Belästigung dar noch den der Beleidigung. Ersterer setze eine
körperliche Berührung des Opfers voraus; zweitere erfordere den Angriff auf
die Ehre der betroffenen Personen. „Du Schlampe“ zum Beispiel gelte als
Beleidigung der Ehre, „geiler Arsch“ hingegen nicht. Auch als
Ordnungswidrigkeit können diese Taten meistens nicht verfolgt werden.
Dass eben nicht ein „verunglückter Flirtversuch“ zu einer Verurteilung
führt, soll gewährleistet sein, indem nur belangt werden kann, wer
„erheblich“ belästigt. Wie auch bei anderen Straftatbeständen braucht es
für eine Verurteilung hier also schon einen umfassenden Angriff auf das
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. In Frankreich, Belgien, Spanien,
Portugal und den Niederlanden gibt es bereits entsprechende Tatbestände.
Als Strafmaß ist eine Geldstraße oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem
Jahr vorgesehen.
Ob mit dem niedersächsischen Vorstoß tatsächlich das Strafgesetzbuch
erweitert wird, ist offen. Mit der Bundesratsinitiative müssen zunächst die
anderen Bundesländer überzeugt werden, ehe auch der Bundestag zustimmen
kann. Niedersachsen schätze die Erfolgsaussichten aber als gut ein, sagte
eine Sprecherin Wahlmanns: „Das ist eine Sache, die über die Parteigrenzen
hinweg überzeugt.“
27 Oct 2024
## LINKS
[1] /Catcalling-auf-Berlins-Strassen/!6034464
[2] https://kfn.de/forschungsprojekte/catcalling/
[3] https://www.salzgitter.de/pressemeldungen/2023/gleichstellung-catcalling.php
[4] https://www.gleichberechtigt.org/pressemitteilung-catcalling-ist-kein-kompl…
## AUTOREN
Fanny Schuster
André Zuschlag
## TAGS
Sexismus
sexuelle Nötigung
Sexuelle Übergriffe
sexuelle Belästigung
Niedersachsen
Dokumentarfilm
sexuelle Belästigung
sexuelle Belästigung
Hinter den Kirschblüten
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