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# taz.de -- Konflikt um Bergkarabach: Armenien in Alarmbereitschaft
> Ein Jahr nach der Flucht von hunderttausend Menschen aus Bergkarabach
> bleibt die Lage in Armeniens Grenzdörfern angespannt. Besuche vor Ort.
Gohar Vardanjan ist nervös. Die 27-Jährige steht am Rande ihres Dorfes, nur
wenige Meter vom neuen Grenzzaun entfernt, der Armenien von Aserbaidschan
trennt. Ihr Blick fällt auf einen großen Betonbau mit rotem Dach. „Die
Schule von Kirants liegt jetzt mitten in der möglichen Schusslinie“, klagt
die junge Frau, die in der Verwaltung des Ortes arbeitet.
Geschossen wird zwar nicht, dafür dröhnen Baumaschinen über den Berg. Sie
asphaltieren eine neue Straße. Seit die Grenze verlegt wurde, ist die alte
Zufahrt zum Dorf nur noch für Anwohnende passierbar. Vardanjan bittet, an
einen ruhigeren Ort im Dorfkern zu gehen. Im Streit mit einem armenischen
Soldaten läuft sie die Straße hinauf.
Kirants ist ein armenisches Grenzdorf, das Land an Aserbaidschan abgeben
musste. Für den Besuch braucht es eine behördliche Sondergenehmigung.
Armenien, militärisch deutlich schwächer als Aserbaidschan, gibt in der
Hoffnung auf einen Friedensvertrag Gebiete zurück. Kirants rückte so direkt
an das verfeindete Nachbarland heran. Ein Jahr nach dem jüngsten Krieg um
Bergkarabach wächst in Armenien die Angst, noch mehr Land zu verlieren.
Aserbaidschan hatte am 19. September 2023 eine großangelegte Blitzoffensive
auf die überwiegend von Armeniern bewohnte Kaukasusregion Bergkarabach
gestartet. Am Tag danach erklärten die proarmenischen Kämpfer ihre
Kapitulation, bis zu 120.000 Menschen flohen über eine enge Bergstraße, den
sogenannten Latschin-Korridor, nach Armenien. Das EU-Parlament kritisierte
Aserbaidschan für eine „ethnische Säuberung“ der armenischen Bevölkerung
und forderte Sanktionen gegen die Regierung in Baku.
Beide Länder befinden sich offiziell in einem Friedensprozess. Mit der
Rückeroberung von Bergkarabach, das international als Territorium
Aserbaidschans anerkannt wird und bis 1991 als autonomes Gebiet zur
Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörte, haben sich die
Machtverhältnisse jedoch zugunsten Bakus verschoben.
Vardanjan geht in den Schatten eines alten Zürgelbaums in der Ortsmitte.
Gerade will die stellvertretende Dorfvorsteherin, die sich um Steuern und
Finanzen kümmert, über die Bedrohung durch den mächtigen Nachbarn sprechen.
Da schimpft ein älterer Mann laut im Vorübergehen: Premierminister
Paschinjan habe das ganze Land „verkauft“. Er fühle sich von der Regierung
in Jerewan verraten. Der Passant ist nicht der Einzige, der mit der
Situation unzufrieden ist.
Kirants war ab April Ausgangspunkt einer landesweiten Protestbewegung.
Hunderte Einwohner*innen des kleinen Grenzdorfes und der
Nachbargemeinden marschierten in die Hauptstadt Jerewan, um gegen ein
erstes territoriales Zugeständnis der Regierung zu demonstrieren: Vier
verlassene Dörfer entlang der Grenze wurden an Aserbaidschan abgetreten,
als Zeichen guten Willens, um zur Normalisierung der Beziehungen
beizutragen.
Die dortige aserbaidschanische Bevölkerung hatte die Dörfer in den frühen
1990ern im Zuge der Kriegswirren aufgeben müssen. In Kirants fürchtete man
ein ähnliches Schicksal. Hier wurden 54 Grundstücke an Aserbaidschan
übergeben, trotz armenischer Katastereintragungen.
Nun sieht Vardanjan jeden Tag aserbaidschanische Soldaten vom Nachbarhaus
aus. „Wenn ich nachts Geräusche höre, habe ich Angst“, sagt sie. Es hätt…
sich freiwillige Wachen gebildet, die an der Grenze patrouillieren. Das
armenische Militär habe alles unter Kontrolle, beruhigt der Grenzsoldat
neben ihr, doch die Vizeortsvorsteherin glaubt ihm nicht.
## Beschuss um Mitternacht
Eine Autofahrt in das Grenzdorf Sotk, rund 180 Kilometer von Kirants
entfernt: Hier im Hochgebirge ganz im Osten des Landes rückte Aserbaidschan
in der Vergangenheit direkt auf armenisches Territorium vor. Bürgermeister
Sevak Khachatrjan berichtet von einer Attacke in der Nacht vom 13. auf den
14. September 2022, noch bevor Bergkarabach vollständig an Aserbaidschan
fiel. Um Mitternacht schlugen die ersten Granaten ein.
„Wir leben an einem Ort, an dem ein friedlich schlafendes Kind jederzeit in
seinem Haus getroffen werden kann“, sagt der 33-Jährige. Vier Tage dauerte
der Beschuss, 152 Häuser wurden getroffen, auch die Schule und das
Verwaltungsgebäude. Die graue Fassade hinter ihm ist von Einschlägen
übersät. Auch Dutzende Häuser, so der Bürgermeister, seien von Granaten
getroffen worden. Inzwischen wurden die meisten wieder instandgesetzt,
erkennbar an roten Metalldächern.
Khachatrjan ist Kriegsveteran, hat zweimal in Bergkarabach gekämpft. Jeder
im Dorf habe dem Tod in die Augen gesehen, sagt er. „Ich bin froh, dass ich
hier stehe und mit Ihnen sprechen kann.“ Und heute? Die Menschen würden
versuchen, den Umständen entsprechend ein normales Leben zu führen. Doch
die Landwirtschaft, von der die meisten leben, sei gefährlich.
Gleich hinter dem Gemeindehaus liegen aserbaidschanische Militärstellungen
oberhalb der Bergkette, mit freiem Blick auf das Land darunter. Ein Farmer
mit Vieh würde dort schnell zur Zielscheibe, warnt Khachatrjan. Geschehen
ist bisher nichts, aber die Landwirt*innen hätten Angst. Von
Aserbaidschan aus sei auch schon nachts mit Suchscheinwerfern ins Dorf
hineingeleuchtet worden, um die Bewohner*innen zu verunsichern.
Beim Besuch in Sotk ruckeln Militärtransporter mit Soldaten an Bord über
die holprige Schotterpiste in Richtung Grenze. Schutz verspricht sich
Khachatrjan von ihnen kaum: Im Ernstfall könnte das Militär das Dorf kaum
verteidigen, sagt er. Ab und zu fahren auch die Jeeps europäischer
Beobachter vorbei. Denn Europa ist in den jahrzehntelangen Konflikt im
Kaukasus involviert. Um die Lage zu beruhigen, besteht seit Ende 2022 eine
unbewaffnete Beobachtungsmission (Euma). Das erklärte Ziel: Routinemäßige
Grenzpatrouillen sollen „Fortschritte auf dem Weg zu einem Friedensabkommen
zwischen Armenien und Aserbaidschan“ ermöglichen.
Für Armenien, das eigentlich Russland als Schutzmacht hatte, ist das ein
Novum: Premier Paschinjan hat im Juni angekündigt, aus dem kollektiven
russischen Militärbündnis OVKS auszutreten. „Grund ist die Enttäuschung
über das Nichteingreifen russischer Friedenstruppen in Bergkarabach“,
erklärt Marcel Röthig, Landesvertreter der SPD-nahen
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Georgien, Armenien und Aserbaidschan.
„Also nähert sich Armenien in Sicherheitsfragen zunehmend der EU an.“ Die
EU-Mission würde gern auch auf aserbaidschanischer Seite beobachten – Baku
lehnt deren Präsenz auf eigenem Gebiet allerdings strikt ab. In einer
Erklärung vom Februar 2023 stellte das Außenministerium die
Unparteilichkeit der Mission in Frage und warnte davor, „der territorialen
Integrität Aserbaidschans Schaden zuzufügen“.
In einem gemeinsamen Appell im Herbst 2023, an dem Röthig beteiligt war,
warnten die parteinahen politischen Stiftungen von CDU, SPD, Grünen und FDP
in der Region, dass nach der militärischen Eskalation in Bergkarabach eine
aserbaidschanische Offensive auch auf völkerrechtlich armenischem
Territorium wahrscheinlicher geworden sei. Befürchtet wird eine gewaltsame
Landnahme im Süden Armeniens. „Die EU muss in diesem Fall genauso mit
harten Sanktionen auf eine Aggression reagieren, wie sie es nach Russlands
vollumfänglicher Invasion der Ukraine getan hat“, heißt es im Appell.
Deutschland und Europa müssten sich dringend mehr engagieren, um eine
weitere Destabilisierung Armeniens zu vermeiden.
## Importe aus Aserbaidschan in die EU vor Verdoppelung
Doch Sanktionen gibt es bis heute nicht. Der Verdacht liegt nahe, dass sich
die EU Aserbaidschan als Energielieferanten warmhalten will: Im Juli 2022
hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Gasabkommen mit
Präsident Alijew abgeschlossen, um einen Ersatzpunkt für russisches Erdgas
zu schaffen. Die Importe aus dem Kaukasus-Land sollen bis 2027 verdoppelt
werden. Dieser Interessenkonflikt um fossile Rohstoffe ist auch ein Thema
beim Weltklimagipfel, der demnächst in der Region stattfindet.
Zurück in Kirants deutet Gohar Vardanjan auf einen Spielplatz. Kinder
toben. Er ist den „armenischen Helden“ gewidmet, Gefallenen des ersten
Bergkarabach-Krieges 1992. Gleich neben Spielgeräten steht ein steinernes
Mahnmal, das Soldatengesichter zeigt. „Was wird aus den Schulkindern im
Ort, wenn die Spannungen wieder eskalieren?“, fragt die zierliche Frau mit
den glatten schwarzen Haaren. Da die alte Schule zu klein war, wurde vor
vier Jahren eine neue errichtet.
Jetzt liegt sie direkt an der neuen Grenze. Eilig hat die Gemeinde eine
etwa drei Meter hohe Betonmauer vor die Schule gebaut, damit die Kinder
unbemerkt von aserbaidschanischen Grenzposten bleiben. Anfang September hat
Premierminister Paschinjan die Schule feierlich eröffnet. „Noch nie war der
Schulbesuch in Kirants so sicher wie heute“, sagte er. Vardanjan schüttelt
den Kopf, wenn sie an diese Worte denkt.
Das ganze Dorf stecke in einer tiefen Krise, erzählt sie. Obwohl Kirants
ihre Heimat sei, sehe sie für sich selbst keine Perspektive mehr. Wie auch
Bürgermeister Khachatrjan aus Sotk sagt sie sinngemäß: Ohne Land könnten
die Bauern nicht überleben, manche hätten bereits ihr Vieh verkauft. Immer
mehr Menschen würden in die Hauptstadt Jerewan gehen. Dort steht die
Regierung unter Druck, beim Friedensschluss voranzukommen. „Armeniens
Verhandlungsposition ist sehr schwach“, sagt Tigran Grigoryan.
Der politische Analyst und Leiter des Regionalen Zentrums für Demokratie
und Sicherheit in Jerewan, erklärt, die armenische Führung habe im Grunde
alles getan, um in naher Zukunft ein Abkommen zu erreichen. Premierminister
Paschinjan habe viele einseitige Zugeständnisse gemacht – wie die Aufgabe
der vier Dörfer. „Der Grund ist vorrangig die Niederlage im zweiten
Bergkarabach-Krieg von 2020 – und die Unfähigkeit der armenischen
Regierung, die militärischen Fähigkeiten Armeniens danach
wiederherzustellen.“ Aserbaidschans Machthaber Alijew nutze diese Schwäche
aus, um eine maximalistische Agenda zu verfolgen, konstatiert der
Politologe.
Den Weltklimagipfel COP29, der im November in Aserbaidschans Hauptstadt
Baku stattfinden soll, dürfte Alijew ebenfalls für sich nutzen: Vor oder
während der Konferenz könnte es zu einer Friedenseinigung kommen, erwarten
Expert*innen, die durchaus im Sinne Bakus ausfallen könnte. Es gibt zwei
Optionen: ein Rahmenabkommen, oder ein umfangreiches Friedensabkommen.
Ersteres wäre nur eine politische Vereinbarung, die keine Probleme löse, so
Grigoryan.
Es ginge um die gegenseitige Anerkennung völkerrechtlicher Grundsätze – was
ohne Sicherheitsgarantien für Armenien aber bedeutungslos bliebe. Mehr
noch: „Für Aserbaidschan wäre es ein PR-Sieg, insbesondere wenn es vor oder
während der Klimakonferenz geschlossen wird. Und es würde den neuen Status
quo legitimieren, den wir nach der ethnischen Säuberung von Bergkarabach
haben.“
Die andere Option wäre ein umfassendes Friedensabkommen, das alle offenen
Grenzfragen behandelt, erläutert Grigoryan, der von 2020 bis 2021 im Büro
des armenischen Sicherheitsrates arbeitete. Doch eine Unterzeichnung vor
der COP29 sei unwahrscheinlich. Aserbaidschan stelle Forderungen an
Armenien, die sich kurzfristig kaum umsetzen ließen – etwa eine
Verfassungsänderung, um armenische Gebietsansprüche auf Bergkarabach
vollständig aus der Präambel zu streichen.
## Größter Wunsch – Sicherheit
Vardanjan sind diese abstrakten Verhandlungen egal, sie will: Sicherheit.
Zumindest während die COP29 läuft, dürfte es die auch geben:
Diplomat*innen meinen, dass vor den Augen der Welt ein Angriff
Aserbaidschans kaum vorstellbar sei. Doch in Regierungskreisen wächst die
Angst vor einer neuen Offensive nach der Klimakonferenz, vielleicht im
Süden. „Aserbaidschan hat seit 2020 immer wieder die Forderung nach einem
extraterritorialen Korridor durch Armenien in die Exklave Nachitschewan
erhoben“, erinnert Kaukasus-Experte Marcel Röthig.
Im Sommer 2020 wurden in einer militärischen Operation strategische
Höhenlagen auf armenischem Boden besetzt – für viele Beobachter*innen
ein militärisch günstiger Ausgangspunkt, um einen extraterritorialen
Korridor im Süden des Landes notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Laut eines
Medienberichts hat Aserbaidschan diese Forderung in den Gesprächen um ein
Rahmenabkommen inzwischen offenbar fallen gelassen, um die Verhandlungen
mit Armenien zu erleichtern. Von einem Truppenabzug ist bislang aber nicht
die Rede.
Fragt man Bürgermeister Khachatrjan, fällt der Glaube an Frieden schwer.
Der Preis sei die dauerhafte Rückgabe von Bergkarabach an Armenien, sagt
er; ohne könne es keinen echten Frieden geben. „Ich will die Gräber meiner
gefallenen Freunde besuchen können.“ Auch Gohar Vardanjan spürt eine große
Ungerechtigkeit. Kürzlich war sie in Jerewan, hat 50 Seiten eines Romans
gelesen, um nicht ständig an ihren Heimatort denken zu müssen. In Kirants
kam keine einzige Seite mehr dazu.
„Jeden Tag sehe ich die Brücke, über die ich immer gegangen bin und die
jetzt in Aserbaidschan liegt. Ich will das verlorene Land nicht zurück,
wenn das bedeutet, dass die Häuser darauf zerstört und die alten Bäume
gefällt sind.“ Ihr Wunsch für die Zukunft? „Dass Frieden herrscht – und
dass sich niemand so fühlen muss wie wir.“
Die Recherche fand im Rahmen einer Pressereise mit der
Friedrich-Ebert-Stiftung im Juli nach Armenien statt.
19 Sep 2024
## AUTOREN
Maximilian Arnhold
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Schwerpunkt Bergkarabach
Lesestück Recherche und Reportage
Aserbaidschan
Armenien
Grenze
COP29: Klimakonferenz in Baku
GNS
Osteuropa – ein Gedankenaustausch
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Schwerpunkt Bergkarabach
COP29: Klimakonferenz in Baku
Schwerpunkt Klimawandel
Lesestück Recherche und Reportage
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