# taz.de -- Massenflucht aus Bergkarabach: Zukunft gesucht | |
> Die armenische Zivilgesellschaft fängt abertausende | |
> Bergkarabach-Flüchtlinge auf. Doch wie weiter? Unterwegs mit Menschen, | |
> die hoffen und bangen. | |
VAYK UND JERMUK taz | Keine Zeit zum Atmen. Auf der Flucht muss alles | |
schnell gehen. Seit dem Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach haben rund | |
100.000 ethnische Armenier:innen das Gebiet verlassen. Es sind 85 | |
Prozent der Bevölkerung, die geflohen sind, es ist ein [1][historischer | |
Exodus.] | |
Am 19. September griff Aserbaidschan das armenisch besiedelte Bergkarabach | |
und damit die international nicht anerkannte Republik Arzach an, die kurz | |
darauf kapitulierte. Am 28. September kündigte deren Führung an, zum 1. | |
Januar 2024 „alle staatlichen Institutionen und Organisationen“ aufzulösen. | |
[2][Bergkarabach wird damit Geschichte sein]. Es ist eine blutige | |
Geschichte – der aktuell ein weiteres Kapitel Leid hinzugefügt wird. | |
Ende vergangener Woche, kurz nach der Kapitulation. Die Stadt Goris im | |
Süden Armeniens quillt über an Menschen. Goris, direkt an der Grenze zu | |
Aserbaidschan gelegen, ist der erste Anlaufpunkt für die Flüchtenden. Sie | |
kommen durch den sogenannten Latschin-Korridor, der Armenien und | |
Bergkarabach verbindet. Für die Strecke von fast 60 Kilometern haben viele | |
von ihnen zwei bis drei Tage gebraucht. Sie erreichen die Stadt in | |
Minibussen und Privatautos, aber auch auf Lastwagen. | |
Viele der Flüchtenden fahren mittlerweile ohne Halt weiter nach Vayk. Die | |
Stadt in der südlich gelegenen armenischen Region Vayots Dzor ist nun neben | |
Goris zum zweiten Hotspot geworden, in dem sich die Menschen sammeln. Viele | |
von ihnen wissen nicht, wie weiter. | |
[3][Was erwartet die aus Bergkarabach Geflüchteten in Armenien?] Kann diese | |
postsowjetische Republik im Südkaukasus, knapp drei Millionen | |
Einwohner:innen leben hier auf einer Fläche so groß wie das Land | |
Brandenburg, die Geflüchteten überhaupt aufnehmen, sie integrieren? | |
Im großen Park vor dem Kulturhaus von Vayk herrscht reges Treiben. Das | |
Kulturhaus stammt noch aus Sowjetzeiten. In den Jahren 1956 bis 1990 hieß | |
die Stadt Asisbekow – sie wurde zu Ehren des aserbaidschanischen | |
Bolschewiken Meschadi Asisbekow benannt. | |
In der Sowjetunion sollte der Kommunismus die verschiedenen sowjetischen | |
Völker verbinden. Russland war lange noch die Schutzmacht Armeniens. Mit | |
dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die Interessen | |
des Kremls verschoben: Das mit Erdgas reich gewordene Aserbaidschan, | |
traditionell von der Türkei unterstützt, ist für Russlands Interessen | |
politisch wie wirtschaftlich interessanter als das arme Armenien. | |
Auch die Europäische Union profitiert vom Sieg Aserbaidschans. | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen flog 2022 nach Baku, um eine | |
Absichtserklärung zum [4][Kauf aserbaidschanischen Erdgases] zu | |
unterzeichnen. Die EU will wegen der Energiekrise den südlichen Gaskorridor | |
erweitern. | |
Zurück nach Vayk. Dieser Tage wird dort kein Theater gespielt im | |
Kulturhaus, und dennoch spielt sich hier eine Tragödie ab: Menschen auf der | |
Flucht, die meisten von ihnen haben allen Besitz zurücklassen müssen. Die | |
Mitarbeiter:innen des Roten Kreuzes helfen den Neuangekommenen. Ein | |
Lastwagen hält für nur wenige Minuten – Freiwillige laden im Handumdrehen | |
Konservendosen ab. | |
Eine evangelische Kirchenorganisation verteilt heißen Gemüseeintopf, Tee | |
und Kaffee. Vor einem Minibus eines Telekommunikationsanbieters bildet sich | |
eine lange Schlange – Neuankömmlinge erhalten kostenlose Simkarten mit | |
Guthaben. Die Kisten, in denen Brot, Käse, Wurst, Wasser und Süßigkeiten | |
liegen, leeren sich blitzschnell. Und dann kommen schon wieder Neue nach, | |
so dass niemand auf dem Trockenen bleibt. | |
Eine Gruppe von Männern stellt mobile Toiletten auf, eine andere Gruppe | |
baut Zelt um Zelt für die Übernachtung auf. Eine Ärztin misst den Blutdruck | |
eines alten Mannes, einem anderen wird gerade ein Medikament in die Hand | |
gedrückt. „Meine Tochter braucht Insulin“, schreit eine Frau völlig außer | |
sich, „sie bekommt keine Luft mehr.“ Die Mutter trägt ihr siebenjähriges | |
Kind auf dem Arm und schafft es bis zu einer Sitzbank. Das Kind glüht. | |
Eine alte Frau sitzt auf dem Boden vor einem Zaun. Sie ist so erschöpft, | |
dass sie nur noch aus Knochen und Haut zu bestehen scheint. Sie und die | |
Familie ihres Sohnes, die sich vor einigen Stunden bereits im | |
Ankunftszentrum haben registrieren lassen, warten auf die Weiterfahrt. Den | |
Ort aber, wohin ihre Reise gehen soll, haben sie vergessen. Er läuft in das | |
Kulturhaus zurück, die alte Frau bleibt auf dem Boden sitzen. | |
Drinnen auf dem Flur ist es laut, Mitarbeiter:innen des | |
Migrationsdienstes und der lokalen Stadtverwaltung sitzen an Computern und | |
registrieren, aus welchen Siedlungen in Bergkarabach die Leute kommen. Sie | |
versuchen, die Menschen auf unterschiedliche Unterkünfte im winzigen | |
Armenien zu verteilen. | |
## Erstmal bei Freunden und Verwandten unterkommen | |
Wer ein eigenes Fahrzeug hat, muss selbständig in die ihm zugewiesene | |
Herberge fahren. Wer Freunde und Verwandte hat, muss erst mal dort | |
unterkommen. Viele Einzelpersonen in Armenien versuchen derzeit, Wohnungen | |
für Flüchtlinge zu mieten. Die Mehrheit der Geflüchteten hat aber kein | |
eigenes Transportmittel, kennt niemanden in Armenien und kann sich eine | |
angemietete Unterkunft nicht leisten. Sie stehen derzeit vor den größten | |
Herausforderungen. Große Taxi- und Busunternehmen stellen jetzt kostenlose | |
Transportmittel zur Verfügung, um die angekommenen Menschen in die | |
verschiedenen armenischen Regionen zu bringen. | |
Ein junger Mann, auch er ein ehrenamtlicher Helfer, ruft in Vayk die | |
Nachnamen der Familien in ein Megafon, verbunden mit den Namen der Städte | |
und Gemeinden, wo es gerade eine Übernachtungsmöglichkeit gibt: mal ist es | |
ein Hotel, mal ein Ferienhaus, mal eine Turnhalle. | |
Die Geflüchtete wissen – auf Dauer werden sie dort nicht leben können. Der | |
Wunsch, in die armenische Hauptstadt Jerewan zu ziehen, ist aber für die | |
meisten nicht realisierbar. Mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung | |
Armeniens von 2,8 Millionen Menschen ist bereits in Jerewan ansässig. Der | |
Wohnungsmarkt ist hart umkämpft, auch seitdem mehrere zehntausend | |
Russ:innen wegen des Überfalls ihrer Regierung auf die Ukraine nach | |
Armenien geflohen sind – vor allem, um der Einberufung zum Wehrdienst zu | |
entgehen. | |
Ofelia, eine junge Mutter, sitzt am Rande eines Spielplatzes in Vayk. Für | |
die Frau aus Bergkarabach ist alles in Armenien fremd. „Aber“, sagt sie: | |
„Was haben wir zu verlieren? Wir haben schon alles verloren – unser | |
Zuhause, unsere Heimat und unsere Familienangehörigen.“ Ofelia, die nur | |
ihren Vornamen nennen mag, trägt eine Jogginghose, einen Rollkragenpullover | |
und einen ein paar Nummern zu großen Mantel, in dem sie sich beinahe | |
verliert. Mehrere kleine Kinder spielen neben ihr auf einer Schaukel. Sie | |
lachen, als eines von ihnen herunterfällt und ein anderes seinen Platz auf | |
der Schaukel einnimmt. „Für dieses Lachen dürfen wir nicht aufgeben“, sagt | |
sie. | |
Asja Chatschatryan hat bereits einen konkreten Plan. „Nenn mich Asja Babo“, | |
sagt sie, auf Deutsch heißt das „Oma Asja“. Die 71-Jährige hat sich so am | |
Straßenrand postiert, dass sie jedes Auto beobachten kann. Sie wartet auf | |
die Familie ihres ältesten Sohnes, die auf dem Weg nach Vayk sein soll. | |
Asja hatte zuvor mit der Familie ihres jüngeren Sohns Bergkarabach | |
verlassen. | |
Die Familie Chatschatryan will nicht einfach die nächste freie Unterkunft | |
annehmen. „Auf dem Dorf haben wir eine Zukunft“, sagt Asja. Ihre Familie | |
habe in Bergkarabach Gärten und Felder bewirtschafteten und deshalb wollen | |
sie auch in einem Dorf in Armenien leben. Deswegen hat sie jetzt ihren Sohn | |
Aram in die nahegelegenen Dörfer geschickt, um ein Haus für die gesamte | |
Familie zu finden. | |
Allerdings sind die Dörfer in Armenien in einem miserablen Zustand. Viele | |
haben Wasserprobleme und die Infrastruktur ist schlecht ausgebaut. Viele | |
Menschen wandern deshalb in die Städte ab, viele Bauern gehen als | |
Saisonarbeiter ins Ausland – vor allem nach Russland, um dort ihr Geld zu | |
verdienen. | |
Die Suche von Asjas Sohn Aram nach einem Haus dauert jetzt schon zwei Tage. | |
Währenddessen schlafen die Enkel in dem Auto, mit dem sie aus der Heimat | |
geflohen sind, die Geflüchteten unterstützen sich untereinander. Asja mit | |
dem Sohn und der Schwiegertochter ist vorerst in einem Zimmer der | |
Stadtverwaltung ganz in der Nähe des Autos untergebracht worden. | |
Aram meldet sich per Telefon. Er habe immer noch keine Neuigkeiten. „Macht | |
nichts, wir warten, bis du etwas für uns findest“, antwortet Asja. | |
„Hauptsache, wir bleiben alle zusammen“, sagt sie noch, bevor sie auflegt. | |
Sie ist Schneiderin und ihre Lebensgeschichte, so wie sie sie erzählt, ist | |
eng verknüpft mit der wechselvollen Geschichte ihrer Heimat. | |
Asjas Mann starb 1991 im ersten Karabach-Krieg. Beide wurden sie im Dorf | |
Chnapat in der Region Askeran in Bergkarabach geboren. Nach ihrer Hochzeit | |
zogen sie gemeinsam in die damalige Hauptstadt der aserbaidschanischen | |
Sowjetrepublik, Baku. „Für eine bessere Zukunft“, erinnert sie sich, heute | |
am Straßenrand von Vayk. „In der Sowjetzeit hatten wir viele | |
aserbaidschanische Freunde, wir mochten das Leben in Baku“, sagt Asja. | |
Sie leben dort rund 20 Jahre lang, ziehen zwei Kinder groß. Im Jahr 1990 | |
verübten Aserbaidschaner ein neuntägiges Pogrom gegen die ethnischen | |
Armenier:innen in Baku, 1988 geschah schon ein Pogrom in Sumgait. Asja | |
und ihre Familie überleben in Baku, fliehen anschließend in ihre Heimat | |
Bergkarabach. | |
Dann begann 1991 der Krieg dort, mit großer Grausamkeit auf beiden Seiten. | |
Aserbaidschanische Einheiten töteten Armenier:innen, armenische | |
Militärkräfte töten Aserbaidschaner:innen. Die armenischen Einheiten | |
übernahmen die Kontrolle über Bergkarabach und besetzten die umliegenden | |
sieben Regionen. Seit langem dort lebende Aserbaidschaner:innen | |
ergriffen die Flucht. | |
Heute spielt sich die Geschichte umgekehrt ab: Im Herbst 2020 greift | |
Aserbaidschan Bergkarabach an. Der 44-tägige Krieg endet mit dem Verlust | |
der armenischen Kontrolle über die sieben angrenzenden Gebiete, und auch | |
über Teile von Bergkarabach selbst. Drei Jahre später siegt Aserbaidschan | |
vollständig gegen Bergkarabach. | |
„Armenier:innen und Aserbaidschaner:innen haben einmal in friedlichen | |
Zeiten gelebt. Die Politik macht uns das Leben schwer“, sagt Asja und | |
schaut wieder auf ihr Handy, ihr Sohn könnte ja jederzeit anrufen. „Die | |
jungen Generationen kennen sich nicht, sie hassen sich, und in diesen 30 | |
Jahren haben sie sich gegenseitig erschossen. Das einfache Volk hat so viel | |
gelitten – wir, aber sie auch“, sagt sie. | |
Wir, sie: Ein Zusammenleben mit den Nachbar:innen aus Aserbaidschan ist | |
für Asja nicht mehr vorstellbar. „Bei uns gibt es in jedem Haus einen | |
Toten. Wenn nicht, dann gibt es einen Vermissten. Und viele Lebende sind | |
sowohl körperlich als auch seelisch verletzt“. | |
Ortswechsel. Es geht nach Jarmuk, 35 Kilometer östlich von Vayk. Jarmuks | |
Mineral- und Thermalquellen sind schon seit der Sowjetzeit bekannt. Wieder | |
werden die Namen von Städten ausgerufen, wo es Obdach für Geflüchtete gibt. | |
Diesmal mitten in einem prächtigen Wald, dort steht ein fünfstöckiges | |
Erholungszentrum sowjetischer Bauart – das Ararat-Sanatorium für Mütter und | |
ihre Kinder. | |
Eigentlich werden in dem Sanatorium Minderjährige mit Bewegungsstörungen | |
aufgenommen. Für einen Monat erholen sich dort normalerweise rund 200 | |
Kinder gemeinsam mit ihren Müttern, werden therapiert, unter anderem durch | |
Wasserheilkunde. Jetzt wird der Platz gebraucht – für die Geflüchteten aus | |
Bergkarabach. | |
Im Sanatorium ist es so still, als ob niemand dort wohnte. Seit fünf Tagen | |
versuchen etwa 150 Geflüchtete hier zur Ruhe zu kommen. Pünktlich um 18 Uhr | |
kommen alle zum Abendessen zusammen. Ein Mädchen vor der Kantine grüßt alle | |
und lächelt, aber nur wenige schauen zurück. Nach dem Essen gehen die | |
Menschen schnell wieder in ihre Zimmer, fast als wären sie nie da gewesen. | |
Viele wirken traumatisiert und krank. Seit fünf Tagen aber atmet Flora | |
Asryan auf – im wahrsten Sinne des Wortes: Im Park, der das Sanatorium | |
umgibt, schnappt sie frische Luft. Ein Lächeln huscht über das Gesicht | |
ihrer Enkelin, die sie begleitet. „Nur Gott weiß, ob uns die Türken hier | |
auch angreifen werden“, sagt Flora. Sie meint die aserbaidschanischen | |
Soldaten. Und setzt nach: „Die sind doch alle gleich“. Es gibt viel Hass in | |
dieser Region, auf beiden Seiten. | |
Vor etwa einem Jahr griff die aserbaidschanische Armee den Kurort Jermuk | |
an, der auf souveränem armenischen Staatsgebiet liegt. Sie kamen mit | |
Artillerie und mit großkalibrigen Waffen. Noch heute stehen die Soldaten | |
auf armenischem Territorium, in den Bergen gleich hinter Jermuk. Mit einem | |
guten Fernglas könne man sie sehen, sagen die Menschen in der Stadt. | |
Nach einem kleinen Spaziergang kehrt Flora in ihr Zimmer zurück. Zwei | |
Betten, zwei Sessel mit Couchtisch, ein Fernseher und ein Balkon, von dem | |
aus ihr Mann Rafik auf die Berge blickt. Zu fragen, wie es ihnen geht, ist | |
die wohl gerade unpassendste Frage. „Ich lebe, aber ich bin tot“, antwortet | |
der 76-jährige Rafik Asryan. | |
Sein Enkel, Mitte zwanzig, verlässt den Raum, sagt nur, er wolle seine Ruhe | |
haben. „Er redet nicht mal mit uns“, sagt Asryan. Seine Frau erzählt, dass | |
ihr Enkel während des 44-tägigen Kriegs 2020 schwer verletzt worden sei. | |
Mehrere Operationen habe er hinter sich. | |
In dem Zimmer gegenüber sind vier Betten nebeneinander aufgestellt, für den | |
Rest der Familie. Der Sohn von Rafik und Flora liegt auf einem der Betten, | |
ganz angezogen. Er ist eingeschlafen. Auch er war im Militär Bergkarabachs, | |
sagt Flora. Heute kommt er kaum aus seinem Zimmer heraus, nicht einmal für | |
das Mittagessen. So geht es wohl vielen Männer nach der Niederlage und der | |
angekündigten Auflösung Bergkarabachs: Wofür lohnt es sich, aus ihrer | |
Perspektive, noch aufzustehen, wenn es nichts mehr zu verteidigen gibt? | |
Am vorvergangenen Sonntag hat Aserbaidschan eine internationale Fahndung | |
nach 300 ethnischen Armeniern angekündigt. Sie waren in verantwortlichen | |
Positionen im Militär und in der Verwaltung Bergkarabachs. Bis jetzt sind | |
bereits vier Personen verhaftet worden: der ehemalige Außenminister von | |
Arzach, Davit Babayan, der ehemalige Staatsminister Ruben Vardanyan und | |
zwei Kommandeure der Armee. | |
Diese Nachrichten gehen auch Flora und Rafik Asryan durch den Kopf. Während | |
Rafik darüber spricht, nimmt er seinen Hut ab, hält ihn eine Weile in den | |
Händen, dann setzt er ihn wieder auf. Ihr zweistöckiges Haus im Dorf | |
Kusapat, den Weinberg, das Feld mit dem Kohl, und die beiden Kühe, von | |
denen sie leidlich ernährt wurden während der neunmonatigen Blockade des | |
Latschin-Korridors seit Anfang 2023 durch Aserbaidschan: Alles hat die | |
Familie von einem Tag auf den anderen zurückgelassen in Bergkarabach. „Aber | |
das hat nichts zu bedeuten“, sagt Rafik und schüttelt den Kopf, „Tausende | |
sind gefallen.“ | |
## Wieviele Menschen kann Armenien aufnehmen? | |
Die Familie Asryan hat überlebt, sie hat zur Zeit ein Dach über dem Kopf. | |
Was aber soll mit den vielen, vielen anderen Menschen geschehen, die noch | |
auf der Suche nach einer Herberge sind? Armeniens Premierminister Nikol | |
Paschinjan sagt, sein Land könne nur 40.000 Menschen aus Bergkarabach | |
aufnehmen – also nur ein Drittel der rund 120.000 Menschen. Man werde | |
versuchen, Lösungen für Wohn- und Arbeitsangelegenheiten zu entwickeln, | |
vermelden Regierungssprecher im armenischen öffentlichen Fernsehen dieser | |
Tage gebetsmühlenartig. | |
Noch 50 weitere Betten können im Sanatorium von Jarmuk besetzt werden. Die | |
Regierung zahlt zur Zeit pro Nacht und Person etwa 35 Euro an das | |
Sanatorium. Jeder Flüchtling bekommt außerdem einmalig etwa 250 Euro. Ab | |
Oktober sollen laut der armenischen Regierung monatlich etwa 120 Euro pro | |
Person für den Lebensunterhalt ausgezahlt werden. Diese finanzielle | |
Unterstützung ist zunächst für sechs Monate vorgesehen – der Mindestlohn in | |
Armenien liegt bei rund 550 Euro pro Monat. | |
„Es ist keine Frage von zu wenig Geld, zu wenig Arbeitskräften oder zu | |
wenig Zeit. Nein, die staatlichen Organe, die Verwaltung, die Banken all | |
das funktioniert in Armenien einfach nicht richtig“, kritisiert Hakob | |
Hakobyan, der Geschäftsführer des Jarmuker Sanatoriums. | |
Dem aktiven Engagement der armenischen Zivilgesellschaft ist es derzeit | |
vorallem zu verdanken, dass die Flüchtlinge nicht hilflos unter freiem | |
Himmel schlafen müssen. Der Staat unterstützt bei der Unterbringung, aber | |
eben nur kurzfristig. Auch ist die medizinische Versorgung schwierig in | |
Armenien, es gibt keine gesetzliche Krankenversicherung. Nur wer Geld hat, | |
geht zum Arzt. | |
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die meisten ehemaligen | |
Staatseinrichtungen im postsowjetischen Armenien privatisiert. 1997 kaufte | |
Hakobyan, damals Chefarzt, das Sanatorium und machte es zu einem | |
Familienbetrieb. Der 65-jährige Anästhesist und Rheumatologe entwickelte | |
das Zentrum seitdem weiter. Sein 35-jähriger Sohn ist Neurologe dort, | |
Hakobyans Frau ist verantwortlich für die Verwaltung. | |
## Wichtig für eine schnelle Integration | |
„Wir sagen den Neuankömmlingen aus Bergkarabach ganz klar, dass sie keine | |
armen Verwandten, Bettler oder Obdachlosen sind. Sie sind unsere Brüder und | |
Schwestern, die in eine katastrophale Notlage geraten sind.“ Das, sagt | |
Hakobyan, sei ein wichtiger Faktor für eine gute Atmosphäre und eine | |
schnelle Integration. | |
Die Menschen seien traumatisiert, viele von ihnen krank. Doch als | |
Rehabilitationsarzt weiß er auch: „Man beginnt sofort nach einer Operation | |
mit der Rehabilitationsarbeit, um das betroffene Gewebe in Bewegung zu | |
bringen. Genauso darf Integration nicht verzögert werden.“ | |
Geflohene Kinder aus Bergkarabach müssten deshalb so schnell wie möglich in | |
die Schule gehen. Hakobyan überzeugte jetzt junge Männer im Sanatorium, | |
eine Volleyballmannschaft zu gründen und gegen die Mannschaft des Personals | |
zu spielen. | |
Im Moment hat er drei offene Stellen im Sanatorium: Hakobyan sucht zwei | |
Handwerker, und jemanden für den Kantinen-Service. Alle Geflüchteten müssen | |
ihre Zimmer selbst putzen, ihre Bettwäsche in die Wäscherei bringen und | |
auch bügeln. Jeder und jede soll etwas zu tun haben. „Das Sanatorium“, sagt | |
Hakobyan, „ist ein kleines Modell für das ganze Armenien. Wir müssen an die | |
Zukunft denken – und zwar jetzt“. | |
4 Oct 2023 | |
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Tigran Petrosyan | |
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