# taz.de -- Ursachen des Bergkarabachkonflikts: Ein historischer Exodus | |
> Der Konflikt um die armenisch besiedelte Region Bergkarabach geht auf ein | |
> türkisch-sowjetrussisches Abkommen von 1921 zurück. Ein Essay aus | |
> armenischer Perspektive. | |
Bild: Fahrzeuge mit Flüchtlingen stehen auf der Straße zur armenischen Grenze… | |
„Der Sensenmann wartet bei jedem von uns zu Hause. Es ist nur eine Frage | |
der Zeit.“ In Armenien ist dieser Satz oft zu hören. Es sind schwierige | |
Zeiten für das Land – eingeklemmt zwischen Russischer Föderation und | |
Türkei, mit einem hoffnungsvollen Blick auf Europa. | |
Am 19. September griff Aserbaidschan das armenisch besiedelte Bergkarabach | |
an, die international nicht anerkannte Republik Arzach, die kurz darauf | |
kapitulierte. [1][Deren Führung kündigte an, zum 1. Januar 2024 „alle | |
staatlichen Institutionen und Organisationen“ aufzulösen.] Zehntausende | |
flohen nach Armenien. Für das armenische Volk wiederholt sich die | |
Geschichte. Das historische armenische Hochland war seit jeher Spielball | |
der benachbarten Hegemonialmächte. | |
Christliche Armenier:innen wurden immer wieder von Osmanen und | |
republikanischen Türken verfolgt und massakriert. Zuerst versuchte das | |
zaristische, dann das sowjetische Russland Armenier:innen zu retten, um | |
später in Verhandlungen mit den osmanischen und türkischen Herrschern das | |
armenische Volk und seine Siedlungsgebiete zum Kauf anzubieten. | |
## Russische Bolschewiken und türkische Kemalisten | |
Der Berg Ararat, seit dem Völkermord im Jahr 1915/16 an den | |
Armenier:innen im Osmanischen Reich Bestandteil ihrer Identität und | |
Symbol für die verlorene Heimat, liegt heute in der Türkei. Nur aus der | |
Ferne können die Einwohner:innen der armenischen Hauptstadt Jerewan den | |
heiligen Berg bewundern. Den Berg schenkten die Russen gemeinsam mit neun | |
Zehnteln des historischen armenischen Siedlungsraums 1921 der Türkei. | |
Rest-Armenien wurde sowjetisiert. Bis heute heißt es, so habe man die | |
Armenier „gerettet“. | |
Am 18. März 1921 unterzeichneten russische Bolschewiken und türkische | |
Kemalisten ein Abkommen in Moskau. Dabei setzte Mustafa Kemal durch, dass | |
Sowjetrussland die Region Nachitschewan nicht Armenien, sondern | |
Aserbaidschan zuschlug. 1924 erhielt die Region den Status einer Autonomen | |
Sozialistischen Sowjetrepublik. Bergkarabach – auf Armenisch Arzach – blieb | |
nur in seinem zentralen Drittel ein autonomes Gebiet innerhalb | |
Aserbaidschans. | |
## Selbstbestimmungsrecht wurde von Vereinten Nationen ignoriert | |
Während der Perestroika und nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erklärte | |
die Karabach-Bewegung die Region für unabhängig. Als Aserbaidschan Ende | |
1991 dann versuchte, Bergkarabach durch einen völkerrechtswidrigen Angriff | |
wieder unter seine Kontrolle zu bringen, kam es zu einem blutigen Krieg, | |
der erst im Mai 1994 durch ein Waffenstillstandsabkommen endete. Da die | |
postsowjetische Republik Armenien es nie wagte, Bergkarabach anzuschließen, | |
wurde eine De-facto-Minirepublik Arzach ausgerufen, die aber selbst von der | |
Republik Armenien nicht anerkannt wurde. | |
Obwohl Bergkarabach im Vertrag von Moskau 1921 völkerrechtswidrig | |
Aserbaidschan zugesprochen worden war, vertraten auch die Vereinten | |
Nationen den aserbaidschanischen Standpunkt, dass Bergkarabach | |
„völkerrechtlich“ Aserbaidschan gehöre. Das völkerrechtlich höherrangige | |
Selbstbestimmungsrecht der Bergkarabach-Armenier blieb unerwähnt. | |
## Das Prinzip der territorialen Integrität | |
Doch viele Expert:innen, unter anderem Rechts- und | |
Staatswissenschaftler:innen, stellen im Fall von Bergkarabach das | |
Selbstbestimmungsrecht über die Souveränität und territoriale Integrität | |
der Republik Aserbaidschan. Einfacher gesagt: Weil Stalin erstens gegen das | |
Selbstbestimmungsrecht verstoßen hatte und zweitens Bergkarabach mit dem | |
Wunsch der Autonomie aus der Sowjetunion austrat, greift die Berufung auf | |
die angeblich völkerrechtliche Zugehörigkeit nicht. | |
Beide Prinzipien – das Selbstbestimmungsrecht und das Prinzip der | |
territorialen Integrität – liegen seit rund 30 Jahren auf dem | |
Verhandlungstisch. Im Rahmen der Minsker Gruppe der Organisation für | |
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter dem Co-Vorsitz | |
Russlands, der USA und Frankreichs suchte man nach einer politischen | |
Lösung. Dabei ging es vor allem um die Statusfrage Bergkarabachs und um | |
Sicherheitsgarantien für die fast ausschließlich armenische Bevölkerung. | |
## Die Türkei schickte islamistische Söldner | |
Bis zum Kriegsausbruch in der Ostukraine 2014 bezeichnete man Konflikte, | |
die sich aus willkürlichen Administrativentscheidungen der Sowjetzeit | |
herleiteten, als eingefroren. Der Konflikt um Bergkarabach flackerte jedoch | |
immer wieder auf. Im Herbst 2020 griff Aserbaidschan, erneut | |
völkerrechtswidrig, Bergkarabach an und brachte etwa ein Drittel des | |
Gebietes unter seine Kontrolle. Nach einer neunmonatigen Blockade | |
Bergkarabachs griff Aserbaidschan am 19. September Bergkarabach erneut an. | |
Die Türkei hatte Aserbaidschan schon 2020 mit Waffenlieferungen und der | |
Entsendung von 2.000 islamistischen Söldnern unterstützt. Seit der | |
Unabhängigkeit Armeniens hat die Türkei immer wieder die Souveränität des | |
Landes bedroht, hält seine Grenzen zu Armenien geschlossen und fordert von | |
Jerewan den Verzicht auf die internationale Anerkennung des Völkermordes. | |
Russland hingegen war für Armenien bis 2020 eine Schutzmacht. Das Land | |
unterhält in Armenien einen Militärstützpunkt, den einzigen in der Region. | |
Russische Soldaten überwachen die armenisch-türkische Grenze und sollen das | |
Land im Falle einer türkischen Aggression schützen. | |
## Putin braucht jetzt Aserbaidschan | |
Die Aufrechterhaltung des 30-jährigen Status quo in Bergkarabach – das | |
Gebiet unter armenischer Kontrolle zu belassen – hat Armenien immer als | |
Deal betrachtet, bei dem Jerewan lieferte, was Moskau verlangte – politisch | |
und wirtschaftlich. | |
Der „Herbstkrieg“ von 2020 wurde von Russland durch ein trilaterales | |
Waffenstillstandsabkommen beendet; danach sollten russische Friedenstruppen | |
bis zum Friedensschluss die Sicherheit der Bergkarabach-Armenier:innen | |
gewährleisten. Doch im Zuge des Ukrainekrieges wurde Aserbaidschan für | |
Russland wirtschaftlich und politisch wichtiger als das kleinere und ärmere | |
Armenien. | |
## Aserbaidschan erhebt Ansprüche auf weitere armenische Gebiete | |
Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew und der türkische Präsident Erdoğan, | |
die die türkisch-aserbaidschanische These von einer Nation und zwei Staaten | |
vertreten, sind bereit, Armenien in Schutt und Asche zu legen. Immer wieder | |
fordern sie, Armenien solle den „Sangesur-Korridor“ öffnen, eine | |
Transportroute zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan. Aserbaidschanische | |
Staatsmedien erheben offen Ansprüche auf „westaserbaidschanisches Gebiet“, | |
womit die Republik Armenien gemeint ist. Ein „Friedensschluss“ zwischen | |
Aserbaidschan und Armenien auf Kosten Bergkarabachs wird Armenien also | |
höchstens eine Atempause verschaffen. | |
Aserbaidschan will die Region Sjunik im Süden Armeniens mit seiner Exklave | |
Nachitschewan verbinden. So erhielte die Türkei eine Landverbindung durch | |
Aserbaidschan zum Kaspischen Meer sowie weiter zu den transkaspischen | |
muslimischen Staaten Mittelasiens, ein alter Traum des Pantürkismus. | |
Die europäischen Staaten, und insbesondere Deutschland, haben fast immer | |
den osmanischen und später dann den türkischen Staat gegen Russland | |
verteidigt. Die Rechte der christlichen Armenier:innen waren | |
nachrangig. Auch in der Gegenwart ignorierte die internationale | |
Gemeinschaft die genozidale neunmonatige Blockade Bergkarabachs und die | |
Hungersnot der dortigen Armenier:innen. | |
30 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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