# taz.de -- Horrorfilm „Cuckoo“ mit Hunter Schafer: Schrecken vor Bergpanor… | |
> Mit seinem zweiten Spielfilm beweist Tilman Singer ein enormes Gespür für | |
> sinistre Stimmungen. „Cuckoo“ ist ein Horrorfilm für die Sommersaison. | |
Bild: Gretchen (Hunter Schafer) wird von einer mysteriösen Frau verfolgt | |
Etwas ist faul im Freistaat Bayern. Dieses vage Gefühl dringt schon ins | |
Bewusstsein der 17-jährigen Gretchen (Hunter Schafer) vor, ehe sie das | |
sonderbare Resort „Alpschatten“ überhaupt richtig betreten hat. Es sieht so | |
aus, als folge ihr ein Schatten auf die Toiletten der Anlage, stille | |
Schritte nähern sich ihrer Kabine. Schließlich rüttelt etwas an der Tür und | |
scheint doch im nächsten Moment verschwunden. | |
Sowieso wirkt die Szenerie seltsam antiquiert, wie ein letzter bewohnter | |
Außenposten der Zivilisation, eingeschlossen von finster in den Himmel | |
hinaufragenden Tannen und endlosen sattgrünen Weiten. | |
Beunruhigend ist auch das Verhalten von Herrn König (Dan Stevens), der | |
Gretchens Verwandtschaft, kaum ist der Kombi ihrer Familie auf dem | |
Parkplatz vor beklemmendem Bergpanorama eingebogen, in Empfang nimmt. Das | |
Verhältnis ihres Vaters Luis (Marton Csókás) und ihrer missliebigen | |
Stiefmutter Beth (Jessica Henwig) zu ihm, dem Eigentümer der | |
Ferieneinrichtung, wirkt komisch vertraut. | |
Geradezu gruselig wiederum seine Begeisterung für ihre jüngere | |
Halbschwester Alma (Mila Lieu), die zwar hören kann, aber nicht spricht. | |
Und Gretchen, ohnehin nur widerwillig mitgereist, würde am liebsten sofort | |
wieder in ihre US-amerikanische Heimat zurückkehren. | |
## Undurchdringlich bedrohlich | |
[1][In „Cuckoo“ ist die dichte Atmosphäre des undurchdringlich Bedrohlichen | |
unmittelbar da] – und mit ihr die enorme Neugier darauf, was sich wohl | |
dahinter verbirgt. Welche grausamen Geschehnisse mögen sich hinter den | |
Gemäuern ereignen? Was sind die Geheimnisse, die in Gretchens eigenartiger | |
Familie schwelen? Und wodurch wurde sie gerade an diesen Ort verschlagen, | |
was verbindet sie mit ihm? Mannigfaltige Möglichkeiten an spannenden | |
Pfaden, die der zweite Spielfilm von Tilman Singer („Luz“) einschlagen | |
könnte, tun sich auf. | |
Dass der deutschen Filmemacher den zentralen Schauplatz des Films als einen | |
Ort des Ewiggestrigen inszeniert, an dem beige Wählscheibentelefone und | |
dunkle Holzvertäfelungen das Bild prägen, deutet auf ein Spiel mit dem | |
Schrecken längst überkommen geglaubter gesellschaftlicher Überzeugungen hin | |
und lässt etwa eine Thematisierung von wiedererstarkenden erzkonservativen | |
Werten vermuten. | |
Umso mehr, als dass Gretchen mit ihrem androgynen Auftreten als aufregender | |
Kontrast zu ihrer neuen Umgebung gezeichnet wird und – mit modernen | |
„Noise-Cancelling“-Kopfhörern, Bassgitarre und Smartphone ausgestattet – | |
anders als diese klar in der Gegenwart verortet wird. | |
Oder weist die Vogelart, die dem Film seinen Titel verleiht, vielmehr auf | |
einen Horror hin, wie er Familiengefilden vorbehalten ist? Schließlich | |
fühlt sich Gretchen in der neuen Konstellation zutiefst isoliert, ist | |
ähnlich fremd wie der Nachwuchs des Kuckucks im fremden Nest. Immer wieder | |
wählt sie daher die Nummer ihrer leiblichen Mutter, nur um auf ihrem | |
Anrufbeantworter zumindest für einen kurzen Moment deren Stimme zu hören, | |
sich nach dem Signalton ihre Sorgen von der Seele zu reden und, im weiteren | |
Verlauf des Plots, ihre wachsende Panik in den Äther zu plärren. | |
Wohl wissend, dass niemand ihre Klage vernehmen wird, denn ihre Mutter, das | |
wird dem Zuschauer erst schmerzlich spät klar, ist längst tot. | |
## Ein wirkliches Genrevergnügen | |
Zumindest solange noch alles offen scheint, ist „Cuckoo“ ein geradezu | |
grandioses Genrevergnügen. Vor allem, weil Tilman Singer ein besonderes | |
Gespür für sinistre Stimmungen und ihre stilsichere Inszenierung beweist. | |
So sieht sich Gretchen, die bald einen Aushilfsjob an der Rezeption | |
antritt, um Geld für ihre Flucht aufzutreiben, immer wieder in repetitiven | |
Zeitschleifen gefangen. | |
Sobald ein eigentümlicher Schreigesang ertönt, wiederholt sich mehrere | |
Male, was sich soeben ereignete. Unregelmäßig pulsierende Halsschlagadern | |
sind zu sehen, im rasenden Stillstand der Zeit zittert, vibriert und | |
flattert das Bild, ehe das Spektakel genauso plötzlich endet, wie es | |
begann. | |
Die schrillen Geräusche scheinen von einer ominösen Frau zu stammen, die | |
Gretchen wohl schon von Anfang an auf den Fersen ist und ihr eines Nachts | |
erneut folgt, als sie mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause ist. Zunächst | |
flackert nur ihr Schatten im wechselnden Licht der Straßenlaternen über den | |
Asphalt, bevor die blutende Gestalt mit ihren roten Augen vollständig | |
sichtbar wird. | |
Paul Faltz’ lauernde Kamera bannt immer wieder derart denkwürdige | |
Kompositionen, die selbstbewusst zwischen Schrecken und skurrilem Pulp | |
changieren auf analogen 35-mm-Film. Zusammen mit den mal markerschütternd | |
schrillen, dann wieder lässig schleppenden Klangkompositionen von Simon | |
Waskow amalgieren sie zu einer der stylishsten Horrorerfahrungen der | |
vergangenen Jahre. | |
## Mühelos wirkende Coolness | |
Auch Hunter Schafers („Euphoria“) mühelos wirkende Coolness als toughes | |
„Final Girl“, das sich samt Springmesser, Kopfverband und Fliegerjacke bald | |
selbst auf die mühsame Suche nach Antworten begibt, trägt bedeutend zum | |
kultigen Appeal des Films bei. | |
Dass „Cuckoo“ lange im Ungefähren bleibt, mit Andeutungen spielt und das | |
wahre Wesen des Grauens erst ganz am Ende enthüllt, erweist sich letztlich | |
als ein großer Glücksfall. Denn die bestechenden Bildwelten und die | |
Denkräume, die durch vorher insinuierte Interpretationen eröffnet werden, | |
bleiben das eigentliche Ereignis eines Filmes, dessen abstruse Auflösung am | |
Ende enttäuscht. | |
Von Frauen, die zur Brutstätte für bedrohte Vogelarten werden, ist die | |
Rede, und von seltsamen Mischwesen namens „Homo Cuculidae“, die daraus | |
erwachsen. Was es mit ihnen auf sich hat, wie das alles funktioniert und | |
vieles Weitere bleibt ebenso nebulös wie die Motive hinter Herrn Königs | |
offenbar überambitioniertem ornithologischen Interesse. Auf Handlungsebene | |
versucht sich der Film allenfalls an recht vogeligem Heimathorror. | |
Damit erinnert der Film stark an den erst kürzlich im Kino gestarteten, von | |
einer riesigen Medienkampagne begleiteten [2][„Longlegs“ von Oz Perkins]. | |
Beide Werke sind mit ihrer hohen ästhetischen Qualität dem für seine | |
künstlerisch anspruchsvollen Arthouse Horror zuzurechnen. | |
Anders als noch jene Vertreter, die diese Strömung vor wenigen Jahren neu | |
belebten – wie etwa [3][„Midsommar“ von Ari Aster], „Mother!“ von Dar… | |
Aronofsky oder [4][„Get Out“ von Jordan Peele] – bemühen sie sich | |
allerdings nicht um einen tieferen Aussagegehalt, haben keine | |
gesellschaftskritischen Ambitionen. | |
Die Antwort darauf, ob das Genre denn nun aufregender ist, wenn es sich für | |
das Schauderhafte hinter den schönen Fassaden interessiert oder wenn es | |
sich damit begnügt, selbst nur schauderhaft-schöne Fassade zu sein, steckt | |
schon in der Frage selbst. Die derzeitige Bedeutung des Horrorfilms hat | |
viel mit seinem wiederentdeckten subversiven Potenzial zu tun. Bleibt zu | |
hoffen, dass er sich nicht mit Eleganz sogleich wieder zurück in die | |
Irrelevanz befördert. | |
28 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=IisjMOQlI3M | |
[2] /Thriller-Longlegs-mit-Nicolas-Cage/!6025501 | |
[3] /Spielfilm-Midsommar-im-Kino/!5626407 | |
[4] /US-Horrorfilm-Get-Out/!5403538 | |
## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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