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# taz.de -- 75 Jahre Verfassung: Kein einsamer Kampf
> 75 Jahre Grundgesetz sind 75 Jahre Kampf um Gleichberechtigung in
> Deutschland. Und es geht weiter. Das Ziel ist längst nicht erreicht.
Der Himmel war „regenschwer“, als am Morgen des 7. September vor 75 Jahren
382 Männer und 28 Frauen in Bonn zur konstituierenden Sitzung des ersten
Deutschen Bundestages zusammenkamen. Trotz des schlechten Wetters war es
aber ein Tag in „leuchtender Fülle von Fahnen und Blumen“, wie eine Zeitung
später schrieb.
Da war das Grundgesetz – das Fundament der Bundesrepublik und ihres neuen
Parlaments – schon seit dreieinhalb Monaten in Kraft, verkündet auch in
Bonn am 23. Mai 1949. Seine Geburtsstunde nannte Elisabeth Selbert die
„Sternstunde“ ihres Lebens, jenen Moment, als sie den harten Kampf um die
Gleichberechtigung im Grundgesetz gewonnen hatte. „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“, diese fünf Worte aus Artikel 3 Absatz 2 des
Grundgesetzes (GG) verdanken wir ihr.
Der Satz legte das verfassungsrechtliche Fundament für die
Gleichberechtigung in der jungen Bundesrepublik. Im alltäglichen Leben und
auch in den Gesetzen setzten engagierte Frauen und auch Männer dieses
Grundrecht in den folgenden Jahrzehnten gegen große Widerstände durch.
[1][75 Jahre Grundgesetz] sind auch 75 Jahre Kampf um Gleichberechtigung!
Im Rückblick zeigt sich: Je demokratischer die Bundesrepublik wurde, desto
gleichberechtigter wurde sie auch – und umgekehrt. Heute stellt sich
weiterhin die Frage: Was braucht es, damit wir in der Gleichberechtigung
vorankommen? Wie erreichen wir endlich Parität in Parlamenten? Ohne mutige
und hartnäckige Wegbereiterinnen in Politik, Gesellschaft und Justiz hätte
die Gleichberechtigung ihren Weg nicht gefunden.
## Unermüdliche, engagierte Frauen
Aus meist bitteren Lebenserfahrungen zogen diese Frauen die Kraft für ihren
unermüdlichen Einsatz. Erfolgreich waren sie vor allem dann, wenn sie sich
sowohl über Parteigrenzen hinweg als auch mit Gleichgesinnten jenseits des
Parlaments zusammenschlossen. Da ist die schon erwähnte Elisabeth Selbert.
Heute werden Straßen und Schulen nach ihr benannt. Ein Gebäude des
Deutschen Bundestages heißt bereits „Elisabeth-Selbert-Haus“.
Und da sind die Frauen im ersten Deutschen Bundestag wie Frieda Nadig
(SPD), Helene Weber (CDU) oder Helene Wessel (Zentrum), die mit Selbert im
Parlamentarischen Rat am Grundgesetz gearbeitet hatten. Unterschiedliche
Persönlichkeiten, gleiche Herausforderung: im männerdominierten Parlament
gehört und ernst genommen zu werden. Es ist beschämend, wie unbekannt viele
dieser Frauen heute sind.
Sie und weitere Frauen im 2. Deutschen Bundestag stritten beharrlich für
die Umsetzung von [2][Artikel 3 Absatz 2 GG]. Erst 1958 trat das
Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. Für die Mitarbeit am Gesetz dankte der
Abgeordnete Karl Weber (CDU) in der Plenardebatte bezeichnenderweise nur
den „Herren“ des Ministeriums und den „Herren“ Sachverständigen.
Da ist der Deutsche Juristinnenbund, der die politischen Bemühungen
flankierte, das Bürgerliche Gesetzbuch an Artikel 3 Absatz 2 GG anzupassen.
Immer wieder unterstützte er Klagen beim Bundesverfassungsgericht, die dann
Rechtsgeschichte schrieben. Da ist Erna Scheffler, die erste Richterin des
Bundesverfassungsgerichts.
## Neuer Schwung nach Wiedervereinigung
Zusammen mit ihren Kollegen stellte sie im Dezember 1953 klar, dass der
Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ eine echte Rechtsnorm ist �…
und nicht bloß ein politischer Programmsatz. 1959 überzeugte sie ihre
sämtlich männlichen Richterkollegen davon, Letztentscheidungsrechte des
Vaters in der Familie für verfassungswidrig zu erklären. Für sie war es die
„Krönung“ ihres Wirkens, wie sie rückblickend meinte.
Und da sind viele engagierte Frauen aus Ost und West, die der
Gleichberechtigung rund um die Wiedervereinigung einen weiteren Schub
verpassten: Die Frauen aus der DDR wollten nicht zurückfallen in
althergebrachte Rollenbilder, die Frauen im Westen witterten die
Gelegenheit, mit vereinten Kräften auch die tatsächliche Gleichstellung in
der Bundesrepublik voranzubringen.
Und so wurde Artikel 3 Absatz 2 GG 1994 um einen zweiten Satz ergänzt: „Der
Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.“
Beteiligt waren Frauen in Schlüsselpositionen, darunter die damalige
Bundesfrauenministerin [3][Angela Merkel] (CDU), die brandenburgische
Bildungsministerin Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen) sowie die
SPD-Justizministerinnen beziehungsweise -senatorinnen von Berlin, Hessen,
Niedersachsen und Hamburg Jutta Limbach, Christine Hohmann-Dennhardt, Heidi
Merk, Lore Maria Peschel-Gutzeit.
## Nur ein Viertel der Mandate in den Kommunen
Ein echter Modernisierungsschub in Sachen Gleichberechtigung, wie die
ehemalige Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes Maria Wersig
kommentierte. Dieses Frauenbündnis aus Parlament, Verbänden, Organisationen
oder Gewerkschaften war ein starkes Zeichen echter Frauensolidarität. Der
Blick zurück zeigt: Auf dem Weg zu echter Gleichberechtigung ist schon
vieles gewonnen.
Ein Blick auf das Verhältnis der Geschlechter heutzutage zeigt aber auch:
Frauen sind in vielen Lebensbereichen nach wie vor benachteiligt:
Durchschnittlich jeden dritten Tag [4][tötet ein Mann in Deutschland seine
(Ex-)Partnerin]. Zwei Drittel der Frauen in Deutschland erfahren in ihrem
Leben sexuelle Belästigung, jede siebte Frau wird Opfer schwerer
sexualisierter Gewalt. Auch Hasskriminalität im Internet, Stalking und
Cybermobbing sind an der Tagesordnung. Meist sind Frauen die Opfer.
Noch immer verdienen Frauen weniger als Männer. Der [5][Gender Pay Gap]
liegt in Deutschland bei 18 Prozent. Noch immer arbeiten Frauen (65
Prozent) deutlich häufiger als geringfügig-entlohnt Beschäftigte als Männer
(35 Prozent). Zwar erreichen Mädchen und Frauen häufiger die
Hochschulreife, beginnen häufiger ein Studium und schließen es auch eher
ab. Umso erstaunlicher, wie Spitzenpositionen in unserem Land besetzt sind:
Nur [6][knapp jede dritte Führungskraft war 2022 weiblich].
Und auch in der Politik haben Frauen noch nicht die Hälfte der Macht
erobert. In allen großen Parteien in Deutschland sind Frauen
unterrepräsentiert. Und das Missverhältnis setzt sich in politischen Ämtern
fort. Der Deutsche Bundestag hat in dieser Legislatur einen Frauenanteil
von rund 36 Prozent. Bei diesem Drittel stagniert er seit Ende der 1990er
Jahre. In den kommunalen Parlamenten haben Frauen nur etwa ein Viertel der
Mandate inne.
## Dranbleiben bei der Quote
Das gesellschaftliche Ungleichgewicht der Geschlechter hängt maßgeblich
damit zusammen, dass Frauen in der Politik nicht ausreichend repräsentiert
sind. Erst wenn Frauen mehr Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben, wird es
weitere bedeutende Schritte hin zur Gleichstellung geben. Doch Parität in
den Parlamenten kommt nicht von allein. Auf Landesebene sind die jüngsten
Versuche gescheitert, Parteien gesetzlich zu verpflichten, ihre
Listenplätze abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen.
Die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen aus Brandenburg und Thüringen
bedeuten aber nicht das Aus für die gesetzliche Quote. Es lohnt sich,
weiter nach einem verpflichtenden und verfassungskonformen Weg zur Parität
zu suchen. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass im Bereich der
politischen Willensbildung alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
unbeschadet der bestehenden sozialen Unterschiede gleich behandelt werden
müssen. Jede Stimme zählt gleich.
Jede und jeder muss formal die gleichen Möglichkeiten zur aktiven oder
passiven Ausübung des Wahlrechts haben. Doch der Blick auf die Wirklichkeit
zeigt, dass dies allein nicht ausreicht. Für die Gleichberechtigung kommt
es auch darauf an, strukturelle Hindernisse und Benachteiligungen zu
beachten – wie auch das Verfassungsgericht im Laufe seiner Rechtsprechung
zu Artikel 3 Absatz 2 GG feststellte.
Nur so können die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass Frauen und
Männer tatsächlich die gleichen Chancen haben, von ihren Rechten Gebrauch
zu machen. Dazu verpflichtet uns der seit der Wiedervereinigung
hinzugefügte Satz 2 des Artikel 3 Absatz 2 GG. Das beschränkt sich nicht
auf bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, sondern ist offen und
allgemein formuliert. Müsste der verfassungsrechtliche
Gleichstellungsauftrag dann nicht auch beim Zugang zu politischen Ämtern
Berücksichtigung finden können?
## Parität per Gesetz
Bisher hat das Bundesverfassungsgericht nicht abschließend darüber
entschieden, ob Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG auch neben dem eigenständigen
Verfassungsgrundsatz der Gleichheit der Wahl gilt. In einer
Urteilsbegründung aus dem Jahr 2020 hält es aber fest, dass sich die
[7][Wahlrechtsgrundsätze], die Parteienfreiheit und das
Gleichstellungsgebot „gleichrangig gegenüberstehen und es Sache des
Gesetzgebers ist, zwischen ihnen einen angemessenen Ausgleich
herbeizuführen“.
Auf europäischer Ebene ist die Parität ebenfalls längst Thema. Die
Parlamentarische Versammlung des Europarates sieht in der fehlenden
gleichberechtigten Repräsentation von Frauen und Männern eine Bedrohung für
die Legitimität von Demokratien. Nach Ansicht des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte können Geschlechterquoten im Wahlrecht
zulässig sein, um die Legitimität der Demokratie zu stärken. Und einige
Länder in Europa und darüber hinaus machen gute Erfahrungen mit der Quote –
zum Beispiel [8][Frankreich].
Das Bestreben nach Modernisierung und die Sehnsucht nach Tradition prägen
die Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit. Die fünf Worte des
Grundgesetzes besitzen nach wie vor Sprengkraft. Der Einsatz für
Geschlechtergerechtigkeit ist kein einsamer Kampf, sondern ein
Schulterschluss von vielen! Es ist ein Einsatz, der unserer Gesellschaft
insgesamt zugutekommt.
7 Sep 2024
## LINKS
[1] /75-Jahre-Grundgesetz/!6009175
[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/75-jahre-grundgesetz/artikel-…
[3] /Schwerpunkt-Angela-Merkel/!t5007702
[4] /155-Femizide-in-Deutschland/!6015782
[5] /Gender-Pay-Gap/!5911913
[6] /Studie-zu-Frauen-in-Fuehrungspositionen/!5892827
[7] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/1…
[8] /Parlamentswahlen-in-Frankreich/!5859485
## AUTOREN
Bärbel Bas
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