| # taz.de -- Anschlag in Solingen: Alte Wunden, neue Wunden | |
| > Während Deutschland über Asylverschärfungen diskutiert, befindet sich | |
| > Solingen im Schockzustand. Ortsbesuch in einer Stadt voller Wut und | |
| > Trauer. | |
| Am Dienstagnachmittag ist Iris Borlinghaus mit einer Kerze auf den | |
| Kirchplatz von Solingen gekommen. „Ich habe ein paar Tage gebraucht, bis | |
| ich den Weg hierher finden konnte“, sagt die Sozialpädagogin, die an einer | |
| Grundschule in der Nähe des Tatorts arbeitet. Sie holt ihr Handy aus der | |
| Tasche und zeigt die Leuchttürme, die Schüler*innen gemalt haben. „Lasst | |
| uns spüren, dass das Leben siegt“, steht darauf. | |
| Auf dem Solinger Kirchplatz herrscht seit Tagen absolute Stille. In den | |
| Cafés sitzen einige Menschen, starren ins Leere und sprechen wenig | |
| miteinander. Ein paar leere Stände vom Festival der Vielfalt stehen noch | |
| da. Das 650-jährige Bestehen der Stadt hätte gefeiert werden sollen und | |
| dass 140 Nationen heute in Solingen zusammenleben. Doch jetzt durchbricht | |
| nur das Klicken der Kameras das Schweigen derer, die sich um Blumen und | |
| Kerzen versammelt haben. Die Menschen ringen um Normalität und sind davon | |
| doch weit entfernt. | |
| Einige von Borlinghaus’ Schüler*innen seien auf dem Stadtfest gewesen | |
| und haben den Terrorakt miterlebt, erzählt die Sozialpädagogin. Am | |
| Freitagabend hatte ein 26-jähriger Islamist drei Menschen mit einem Messer | |
| getötet und acht weitere schwer verletzt. Der Islamische Staat reklamiert | |
| den Anschlag für sich. „Auch die, die nicht da waren, haben viel | |
| mitbekommen“, sagt Borlinghaus. „Polizei, Krankenwagen, Hubschrauber waren | |
| die ganze Nacht da.“ Seit Montag gebe es für die Schüler*innen Gespräche | |
| mit dem schulpsychologischen Dienst. | |
| „Mit den Abschiebungen ist das Problem nicht gelöst. Ich glaube, wenn der | |
| IS Leute finden will, dann findet der sie auch“, sagt die Sozialpädagogin | |
| flüsternd, während sie ihre Kerze anzündet. | |
| ## Debatte über das Asylrecht tobt | |
| Doch das sehen nicht alle so. Seit dem Attentat tobt eine heftige Debatte | |
| über das Asylrecht. Für den syrischen Attentäter lief im Sommer 2023 die | |
| sechsmonatige Frist zur Abschiebung nach Bulgarien ab, sodass sein | |
| Asylverfahren von den deutschen Behörden übernommen wurde. Mit einer | |
| Abschiebung hätte der Anschlag verhindert werden können, behaupten manche. | |
| Unter den Politiker*innen, die mehr Abschiebungen fordern, ist auch | |
| Bundeskanzler Olaf Scholz. Am Montag war er gemeinsam mit dem | |
| nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst in Solingen zu | |
| Besuch. Am Donnerstag beschloss die Ampelregierung mehrere Verschärfungen | |
| des Asylrechts, unter anderem sollen ausreisepflichtigen Asylsuchenden die | |
| Sozialleistungen gestrichen werden. | |
| Ob die politische Debatte auch an der Schule geführt wird? „Das war eine | |
| Befürchtung, die ich hatte“, sagt Borlinghaus, „Wir haben rund 25 | |
| Nationalitäten an unserer Schule.“ Doch sie blieb aus, Schwierigkeiten | |
| zwischen den Schüler*innen habe es nicht gegeben. | |
| Nur 500 Meter entfernt vom Kirchplatz, der zum Gedenkort geworden ist, ist | |
| es am Montagabend chaotisch und laut. Drei Tage nach dem Attentat findet | |
| hier eine Montagsdemo statt, zu der die Gruppe Solinger Widerstand | |
| aufgerufen hat. Etwa 100 Menschen sind gekommen, auch aus dem Reichsbürger- | |
| und Impfgegnerspektrum, vor allem aber aus der rechtsextremen Szene von | |
| Dortmund. | |
| ## „Verpisst euch aus unserer Stadt“ | |
| „Remigration jetzt“, steht auf einem Banner, „Unter jedem Messermann steht | |
| ein Politiker, der ihn eingeladen hat“, auf einem Wagen. Mit einem | |
| Autokorso und einer anschließenden Demonstration zieht die Gruppe durch die | |
| Stadt. Ein Mann zeigt den Hitlergruß. „Deutschland den Deutschen, Ausländer | |
| raus“, rufen mehrere. | |
| Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen mit Gegendemonstrant*innen. Zwei | |
| junge Männer nehmen einem Montagsdemonstranten seine Deutschlandflaggen | |
| weg. „Verpisst euch aus unserer Stadt“, ruft einer der beiden ihm zu. In | |
| die Trauer mischt sich Wut. „Ihr habt hier fünf tote Kinder hinterlassen“, | |
| ruft ein Mann zitternd aus dem Fenster, „schämt euch!“ | |
| Fünf tote Kinder. – In dem Stadtteil, in dem die Rechtsextremen nach dem | |
| Anschlag nun die Vertreibung der migrantischen Menschen fordern, liegt auch | |
| die Untere Wernerstraße 81. Ein Kastanienbaum wächst, wo vor 31 Jahren das | |
| Haus der Familie Genç stand. Rechtsradikale setzten es 1993 in Brand. Fünf | |
| Menschen starben, 17 erlitten Verletzungen. Wenige Tage vor dem | |
| Brandanschlag hatten CDU/CSU, FDP und SPD damals im Bundestag nach einer | |
| hoch emotionalen Asyldebatte den so genannten Asylkompromiss beschlossen, | |
| den viele heute als fatales Zugeständnis der Politik an den wütenden Mob | |
| interpretieren. | |
| Nun kommen zu den alten Wunden neue hinzu. In Teilen der Solinger | |
| Zivilgesellschaft herrscht Angst, dass sich ein ähnlicher Fall wiederholen | |
| könnte. „Dieser Rechtsruck, über den man redet, das sind keine Statistiken | |
| in irgendwelchen Berichten über mögliche Wahlen oder Prozentzahlen, sondern | |
| das hat Folgen für das Leben der Menschen“, sagt Miman Jasarovski vom | |
| Bündnis „Wuppertal stellt sich quer“. Als 16-Jähriger erlebte er damals d… | |
| Stimmung nach dem Anschlag mit. „Damals haben unsere Familien überlegt, | |
| Deutschland zu verlassen“, sagt der heute 47-Jährige, während er sich eine | |
| Zigarette dreht. | |
| ## Angst vor rassistischem Angriff | |
| Viele Menschen in der Stadt hätten die Ereignisse damals traumatisiert. Die | |
| politische Stimmung der letzten Tage in Deutschland gefährde nun „vieles im | |
| Miteinander, was in den letzten 30 Jahren in Solingen aufgebaut wurde“, | |
| ergänzt Hanna Sauer, ebenfalls vom Bündnis. Die Demonstrationen sollen | |
| auch dabei helfen, das zu verhindern. | |
| In Absprache mit Initiativen aus Solingen habe das Wuppertaler Bündnis sie | |
| organisiert, erzählt Sauer, damit die Solinger Zeit haben zu trauern. Auch | |
| zu einer Mahnwache vor der Solinger Flüchtlingsunterkunft rief die Gruppe | |
| auf, weil ein rassistischer Angriff befürchtet wurde. Ob eine solche Gefahr | |
| tatsächlich besteht? Ja, sagt die 32-Jährige, die im erinnerungspolitischen | |
| Bereich arbeitet. Im vergangenen Juni gab es beispielsweise eine | |
| [1][mutmaßliche Brandstiftung] auf ein Haus von Sinti*zze und Rom*nja | |
| in Solingen. | |
| Doch nicht alle sind mit den Demonstrationen nach dem Anschlag | |
| einverstanden. Für Philipp Müller, Co-Organisator des Stadtfests, sind die | |
| „Aufmärsche rechter und linker Gruppen“ ein Ärgernis. „Die nutzen den | |
| Anschlag für ihr eigenes Süppchen, das brauche ich nicht“, sagt er. Müller | |
| war es, der kurz nach dem Attentat auf die Bühne trat und die rund 5.000 | |
| Menschen bat, den Platz zu verlassen. Die Ruhe, mit der er zu den | |
| Besucher*innen sprach, verhinderte eine Massenpanik. | |
| ## „Ich will jetzt nicht als Held dargestellt werden“ | |
| „In so einer Situation funktioniert man, aber am nächsten Morgen hat man | |
| die ganzen Bilder wieder im Kopf“, sagt Müller. Er habe gesehen, wie | |
| Menschen wiederbelebt wurden, so Müller. Er unterbricht sich für einen | |
| Moment, „und sehr, sehr viel Blut“. Um zu verarbeiten, was passiert sei, | |
| brauche die Stadt Ruhe. Stattdessen steht sie seit vergangenem Freitag im | |
| Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Presse sowie Politiker*innen. | |
| Ähnlich empfindet es auch Waldemar Gluch. Am Abend des Anschlags öffnete | |
| der 64-Jährige die Tür seines Fotogeschäfts, das etwa fünf Minuten vom | |
| Tatort entfernt ist. Einer der Organisator*innen des Stadtfests | |
| wollte für die verängstigten Menschen einen Raum schaffen, in dem sie | |
| Schutz finden konnten. „Ich will jetzt nicht als Held dargestellt | |
| werden“, sagt er. „Für mich ist das selbstverständlich.“ | |
| Nächste Woche müsse die Stadt ein bisschen in Ruhe gelassen werden, um zu | |
| trauern. Vielen, ihm auch, gehe es noch immer sehr schlecht. „Wir müssen | |
| erst einmal drei Menschen beerdigen und brauchen dann etwas Zeit, um uns zu | |
| sammeln“, sagt Gluch. | |
| „Wenn jemand, der in Deutschland nichts zu suchen hat, hier Leute absticht, | |
| dann macht das natürlich etwas in der Bevölkerung“, glaubt Philipp Müller. | |
| Er ist überzeugt, dass die Anschläge Migranten gefährden, weil sie nun auch | |
| als Attentäter wahrgenommen würden. | |
| ## Wohnen in derselben Unterkunft wie der Täter | |
| Ein junger Mann, der Bilal genannt werden will, spürt bereits eine solche | |
| Veränderung. Man schaue ihn nun etwas böse an, erzählt der 23-Jährige. Er | |
| lebt in der mehrstöckigen Flüchtlingsunterkunft, in der auch der Attentäter | |
| wohnte. Sie ist nur wenige Gehminuten vom Ort des Anschlags entfernt. Seit | |
| Sonntagabend versammeln sich hier abends rund hundert Menschen, die das | |
| Wuppertaler Bündnis zum „solidarischen Schutz“ aufgerufen hat. Sie haben | |
| Angst vor rechten Übergriffen. Bilal steht mit anderen Männern aus seinem | |
| Wohnhaus vor der Tür, spricht mit den Demonstrant*innen, wirkt dabei | |
| nervös. | |
| Wie seine Freunde sei er aus Syrien vor dem Islamischen Staat geflohen, | |
| erzählt er – erst in die Türkei, dann nach Deutschland. Seit eineinhalb | |
| Jahren lebt er in Solingen, lernt Deutsch, wollte hier sein | |
| Zahnmedizinstudium fortsetzen. „Ich wusste nicht, dass es solche Leute | |
| auch in Deutschland gibt“, sagt er über den Täter. Als bekannt wurde, dass | |
| der Täter auch in der Unterkunft wohnt, habe er wie viele andere geweint. | |
| Seit er erfahren habe, dass Rechtsextreme durch die Stadt ziehen, sei zum | |
| ohnehin schwierigen Alltag in der Unterkunft noch die Angst hinzugekommen: | |
| „Wir haben hier seit Tagen große Panik und können nicht schlafen“, sagt e… | |
| Wie viele andere wolle er ausziehen, wisse aber nicht, ob das möglich sei. | |
| Trost gibt ihm und seinen Freunden die Gruppe vor der Unterkunft: „Die | |
| Deutschen sind wirklich gute Menschen. Ich bin sehr dankbar, dass sie uns | |
| hier schützen“, sagt Bilal. „Kommt ihr morgen auch?“, fragt er lächelnd | |
| eine*n der Demonstrant*innen. | |
| Unter diesen Demonstrierenden ist auch Nusaybah Khan. Auch sie möchte ihren | |
| echten Namen lieber für sich behalten. Die 23-Jährige könne sich nicht | |
| vorstellen, irgendwo anders zu sein als hier, bei der Mahnwache vor der | |
| Flüchtlingsunterkunft. „Ich fand es beängstigend, als ich gehört habe, dass | |
| viele Menschen mit rechtem Gedankengut nach Solingen kommen und dieses | |
| schreckliche Ereignis für ihre Zwecke missbrauchen wollen“, sagt die junge | |
| Frau mit Nasenpiercing. „Die von der Jungen Alternative haben schon gesagt, | |
| dass sie nicht zum Gedenken hier sind, sondern zum Klagen. Das finde ich | |
| unverschämt.“ | |
| Als Frau mit Migrationshintergrund habe sie in den letzten Tagen überhaupt | |
| keinen Raum für ihre Gefühle bekommen, „um die Ermordeten zu betrauern“, | |
| sagt die Studentin wütend. „Ich habe das Gefühl, dass ich sofort an andere | |
| denken muss, an Menschen, denen es gerade bei dieser politischen Stimmung | |
| vielleicht noch schlechter gehen könnte als mir.“ Man merkt ihr an, dass | |
| die Stimmung sie beschäftigt, aber sie bleibt tapfer: „Solingen gibt nicht | |
| so einfach auf“, sagt sie, „hier gibt es noch viele Menschen, die sich | |
| diesem rechten Gedankengut entgegenstellen und die um die Ermordeten | |
| trauern.“ | |
| 31 Aug 2024 | |
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| [1] https://www.migazin.de/2024/06/11/wieder-solingen-mutmassliche-brandstiftun… | |
| ## AUTOREN | |
| Yağmur Ekim Çay | |
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