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# taz.de -- 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung: „Nein haben wir gesagt“
> Wie der Widerstand aus der Turnhalle auszog: Vor 50 Jahren begannen im
> badischen Wyhl die Massenproteste gegen Atomkraft.
Bild: Atomkraftgegner auf dem Gelände des geplanten Kraftwerks im badischen Wy…
Göttingen taz | Die Wiege der Anti-AKW-Bewegung, sagen viele, steht in
Wyhl. Vor 50 Jahren, im Sommer 1974, beginnen in der badischen Gemeinde die
[1][Massenproteste gegen Atomkraft]. In der Turnhalle läuft der
Erörterungstermin zum dort geplanten AKW. Annähernd 100.000 Menschen aus
der Region haben Einwände gegen den Bau erhoben. Weil sie diese bei der
Verhandlung nicht ausreichend berücksichtigt sehen, ziehen die AKW-Gegner
unter Protest aus der Halle aus. Wenige Tage später beteiligen sich 3.000
Menschen an einem Sternmarsch zum geplanten Bauplatz. Weitere Demos
folgten. Bauern und Winzer protestieren mit ihren Traktoren, Fischer in
Kähnen auf dem Altrhein.
Weil die Landesregierung in Stuttgart und der Energieversorger Badenwerk an
ihren Plänen festhalten, wächst der badisch-elsässische Widerstand. Am 18.
Februar 1975 stürmen Hunderte Menschen den Bauplatz in Wyhl. Zwei Tage
später räumt die Polizei das besetzte Gelände mit Wasserwerfern und Hunden.
Doch das entfacht den Zorn der Leute erst recht: Am 23. Februar
demonstrieren mehr als 25.000 Menschen gegen Atomkraft und Polizeigewalt,
überwinden die Absperrungen und drängen die Beamten zurück. Der Bauplatz
bleibt über Monate besetzt.
Auf dem Gelände zimmern Handwerker ein „Freundschaftshaus“, es entsteht die
„Volkshochschule Wyhler Wald“ – Einrichtungen, die den „Mythos Wyhl“
prägen. Nächtelang sitzen Badener und Elsässer, Bäuerinnen und Winzer,
Hausfrauen und linke Studenten am Lagerfeuer. Sie diskutieren über die
Risiken der Atomkraft, entwerfen Alternativen in der Energieversorgung und
Pläne für eine bessere Gesellschaft.
In den 1960er und 1970er Jahren verfolgen die deutschen Bundesregierungen
große Atompläne. Von der Fantasie beflügelt, über einen eigenen nuklearen
Kreislauf und damit eine Möglichkeit zur Produktion von Atomwaffen zu
verfügen, wollen sie das Land mit Hunderten Atomkraftwerken zupflastern.
Schnelle Brüter sollten Plutonium erzeugen, eine Wiederaufarbeitungsanlage
und weitere Atomfabriken den „nuklearen Brennstoffkreislauf“ ergänzen. Die
meisten der einst geplanten Meiler werden nie gebaut. Neue Reaktorlinien
wie der Brüter in Kalkar oder der Hochtemperaturreaktor in Hamm scheitern
vor oder kurz nach der Inbetriebnahme. Eine atomare
Wiederaufbereitungsanlage lässt sich weder im niedersächsischen
[2][Gorleben] noch im bayrischen [3][Wackersdorf] gegen den – teils
militanten, überwiegend aber gewaltfreien – Widerstand Zehntausender
durchsetzen.
## In jedem Stadtteil eine aktive Gruppe
Wyhl ist ein Fanal. An den Standorten geplanter Atomkraftwerke, aber auch
in vielen Städten entstehen Bürgerinitiativen. In ihrer ersten Hochphase
zwischen 1976 und 1980 gibt es etwa in Hamburg oder Bremen in nahezu jedem
Stadtteil mindestens eine aktive Gruppe. Die [4][Anti-AKW-Bewegung wird zur
prägenden außerparlamentarischen Oppositionsströmung].
Sie wächst schnell, wird breiter und bunter und umfasst bald ein Spektrum,
das von konservativen Natur- und Lebensschützern über Standortinitiativen
bis zur studentischen Linken reicht. Das macht sie stark, aber auch
anfällig für Spaltungen, wie sie sich erstmals bei den Brokdorf-Protesten
offenbaren. Im Oktober und November 1976 hat die Polizei hier an der
Unterelbe erste große Demos gewaltsam zerschlagen.
Von einer weiteren – von den Behörden verbotenen und von Politikern und
Medien mit beispielloser Hetze begleiteten – Großdemonstration gegen das
geplante AKW an der Elbe am 19. Februar 1977 distanzieren sich der
Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), SPD- sowie DKP-nahe
Gruppen. Sie rufen zu einer zeitgleichen Kundgebung in Wilster auf und
können dazu rund 20.000 Menschen mobilisieren.
Etwa 60.000 trotzen dem Verbot, ziehen bei eisiger Kälte durch die Marsch
und machen erst kurz vor dem AKW an einer von der Polizei errichteten
Sperre halt. Im Zuge der Brokdorf-Demos entdecken die in den 1970ern noch
starken K-(Kommunistischen)-Gruppen die Anti-AKW-Bewegung als Aktions- und
Rekrutierungsfeld. Manche Kader halten sich allerdings gar nicht lange dort
auf, sondern marschieren bei den sich formierenden Grünen weiter. Erst der
legendäre Treck der Gorlebener Bauern nach Hannover im März 1979 und die
Besetzung der Tiefbohrstelle 1004 im Gorlebener Wald im Mai 1980 mit dem
Aufbau eines Hüttendorfes und der Proklamierung der „Republik Freies
Wendland“ führen die verschiedenen Spektren der Bewegung wieder zusammen.
1981 und 1986 gibt es weitere Großdemonstrationen in Brokdorf. Doch trotz
der Massenproteste geht das AKW im Oktober 1986 in Betrieb, als erstes in
Europa seit der Tschernobyl-Katastrophe. Ausgerechnet Brokdorf. Es ist,
zumindest gefühlt, die bitterste Niederlage der Anti-AKW-Bewegung.
Doch die Erfolge überwiegen. Im September 2020 etwa [5][fliegt der
Salzstock Gorleben aus dem Suchverfahren für ein atomares Endlager], aus
geologischen Gründen, wie es offiziell heißt – dabei wurden die von der
Anti-AKW-Bewegung schon von Beginn an vorgebracht. Dennoch wurde der
unterirdische Salzstock über Jahrzehnte weiter untersucht. Mehr noch, unter
dem Deckmantel der Erkundung entstand ein fast fertiges Endlager. Ohne den
[6][massenhaften Widerstand] der Wendländer:innen und ihrer auswärtigen
Unterstützer:innen hätte es einen Neustart für die Endlagersuche nie
gegeben, ist nicht nur die örtliche Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz
Lüchow-Dannenberg überzeugt.
Allerdings haben viele Aktive die Erfolge teuer und nicht nur mit kalten
Hintern in Polizeikesseln und auf Castor-Transportstrecken bezahlt.
Kriminalisierung und Polizeigewalt begleiten den Widerstand gegen
Atomanlagen von Beginn an. Tausende AKW-Gegner werden vor, bei und nach
Demonstrationen verhaftet, viele zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt.
Allein 1986, als die Bewegung infolge des Super-GAUs im sowjetischen AKW
Tschernobyl viel Zulauf erfährt, laufen 5.000 bis 6.000 Straf- und
Ermittlungsverfahren.
Im Zuge der Kämpfe gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf sind
Tote zu beklagen: Die Hausfrau Erna Sielka und der Rentner Alois
Sonnleitner sterben bei Demonstrationen. Der Polizist Johann Hirschberger
kommt ums Leben, als ein Hubschrauber, der Atomkraftgegner verfolgt, mit
einem Triebwagen zusammenstößt.
## Zivilbeamte „Wicky“ und „Rudi“ in Göttingen
Auch sind etliche AKW-Gegner:innen wegen ihres Engagements von
Berufsverboten betroffen, der Bremer Professor Jens Scheer ist ein
prominentes Beispiel. Er darf zeitweise nicht einmal sein Büro an der
Universität betreten. Schon Ende der 1970er Jahre schleusen Polizei und
Verfassungsschutz Informanten in Bürgerinitiativen ein – in Göttingen etwa
zwei Zivilbeamte mit den Tarnnamen „Wicky“ und „Rudi“.
Und nun? Braucht es nach der Abschaltung der letzten AKWs im vergangenen
Jahr noch eine Bewegung? Doch, klar, sagt Antiatomveteran Wolfgang Ehmke
aus Gorleben. So bleibe ja „die Ungewissheit, was mit den Atomanlagen in
Lingen und Gronau wird“. Die Urananreicherungsanlage und die
Brennelementefabrik sind vom Atomausstieg ausgenommen. Was auch bleibe, sei
der Atommüll. Erst dieser Tage sorgte ein Gutachten für Aufregung, wonach
ein Endlagerstandort nicht, wie gesetzlich angestrebt, im Jahr 2031
feststeht, sondern frühestens 2074. „Bis dahin“, so Ehmke „muss der Müll
zwischengelagert werden, und da tickt eine Zeitbombe.“
Das AKW Wyhl übrigens wurde nie gebaut. Infolge der Platzbesetzung
schlossen Bürgerinitiativen und Landesregierung zunächst ein
Stillhalteabkommen. Neue Gutachten wurden geschrieben. Es folgten
langwierige Gerichtsverfahren, die 1982 den Weg für einen Bau frei machten.
Doch Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) wollte keine Konfrontation und
nahm das Thema endgültig von der politischen Tagesordnung. 1994 gab die
Energiewirtschaft die Baugenehmigung für ein AKW in Wyhl zurück. Am Rande
des einstigen Bauplatzes liegt bis heute ein großer Findling. „Nai hämmer
gsait“, steht darauf: „Nein haben wir gesagt.“
15 Sep 2024
## LINKS
[1] /AKW-Proteste-damals-und-heute/!5135546
[2] /Gorleben/!t5011617
[3] /30-Jahre-nach-den-Wackersdorf-Protesten/!5265313
[4] /Geschichte-der-Anti-AKW-Bewegung/!5924964
[5] /Suche-nach-einem-Endlager-fuer-Atommuell/!5716923
[6] /Endlagerprojekt-Gorleben-und-die-taz/!5720325
## AUTOREN
Reimar Paul
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