# taz.de -- AKW-Proteste damals und heute: Die Wunden von Wyhl | |
> Einst sollte im badischen Wyhl ein Atomkraftwerk gebaut werden. Der | |
> Widerstand lernte hier den Erfolg. Die Kämpfer von damals büßen zum Teil | |
> bis heute dafür. | |
Bild: Mit dem Motto "Nai hämmer gsait" (Nein haben wir gesagt) wurde Wyhl zum … | |
Ein verlassener Waldweg und sonst nur Gebüsch. Ein kleiner Gedenkstein und | |
ein weiß-grünes Schild: Naturschutzgebiet. "Hier haben wir gelernt, dass | |
Widerstand was bringt", sagt Axel Mayer. Als das noch ein besetzter | |
Bauplatz war. Heute muss Axel Mayer suchen, wo dieser Platz überhaupt war. | |
Vielleicht da vorne? Ja, da hätte der Meiler von Wyhl gestanden. | |
In diesem Waldstück begann der Streit, der heute zehntausende Menschen in | |
Berlin auf die Straße treibt. Es ist der Streit von Axel Mayer, von den | |
Nösslers und vom Göpper. Es ist der Streit gegen die Atomkraft. | |
Axel Mayer war schon lange nicht mehr hier in Wyhl. Er hat genug zu tun in | |
Freiburg. Dort steht seine Button-Maschine, dort liegen die | |
Anti-Atom-Poster in seinem Büro, die Trillerpfeifen und all die anderen | |
Demo-Utensilien. Im Büro des BUND, wo er die Geschäfte führt, hängen die | |
Bilder der vielen Protestaktionen, die er gemacht hat. Er wird auch heute | |
in Berlin demonstrieren. Aber die meisten in Wyhl werden zu Hause bleiben. | |
Jürgen Nössler, Schnäuzer, blauer Kugelschreiber, Brille, steht in weißem | |
Apothekerkittel hinter dem Verkaufstisch seiner Apotheke im Ortskern. Er | |
will am liebsten nichts mehr wissen von früher, von all diesen Kämpfen. | |
"Ich habe das Recht auf meine Ruhe." | |
Als 1973 die Pläne bekannt wurden, dass in Wyhl ein Atomkraftwerk entstehen | |
sollte, war der heute 59-jährige Jürgen Nössler einer der lautesten | |
Widerstandskämpfer des Orts. Mit seinem Bruder Bernd gründete er die | |
Bürgerinitiative Wyhl. "Lieber heute aktiv, als morgen radioaktiv", riefen | |
sie. 96.000 Protestunterschriften haben sie gesammelt. Das AKW wurde nie | |
gebaut. | |
Der Erfolg war auch: Aus Wyhl wurde der Protest von Brokdorf, von | |
Wackersdorf und später von Gorleben. Aus Wyhl wurden die Grünen. Und | |
irgendwann wurde aus denen der rot-grüne Atomausstieg, der jetzt von der | |
schwarz-gelben Regierung wieder gekippt wurde. | |
Jürgen Nössler sitzt jetzt in seiner Apothekerkammer, er redet doch noch | |
mal. "Hier haben sich ganze Familien zerlegt", sagt er. "Das war alles | |
nicht schön." Er selbst wurde bespuckt und verhauen. Mitten im Rathaus | |
verpassten ihm Gemeinderäte Hiebe. "Heute", sagt er, "sind diese tiefen | |
Wunden endlich verheilt. Ich rührs net mehr gern auf." Denn mit dem | |
erfolgreichen Widerstand gegen das Kraftwerk wurden auch Hoffnungen | |
zerstört: auf ein Schwimmbad, auf eine bessere Verkehrsanbindung, auf mehr | |
Arbeitsplätze - und auf mehr Gewerbesteuer. Wie konnte man nur gegen diesen | |
Fortschritt sein? Viele Wyhler wollten ihn. | |
Und dann kamen all die Kommunisten. Von den badischen Hängen kamen die | |
Winzer, aus der Stadt die Studenten. Aus Tokio kamen Aktivisten und | |
indigene Freiheitskämpfer aus den USA. Und sie zerstörten vielen hier ihre | |
Welt. | |
Jürgen Nössler war der Redenhalter, sein Bruder Bernd der stillere | |
Hintermann. Morgens stand Jürgen Nössler als junger Bäcker in der Backstube | |
des Orts als Tausende mit Transparenten an seinem Haus vorbeizogen. Abends | |
organisierte er Proteste, Flugzettel und Unterschriften, damit noch mehr | |
kamen. Und aus den Nachbarn in Wyhl wurden Feinde. "Atomkraftbefürworter | |
sägten Obstbäume von Gegnern ab und vergifteten Hunde", sagt Bernd Nössler. | |
Josef Seiter, 81, saß damals im Gemeinderat. Er war einer von denen, die | |
für das Kraftwerk waren. An diesem Donnerstag hält Seiter in Wyhl eine | |
Rede, er verschenkt einen Hoffnungsbaum, eine Birke. An den Bürgermeister | |
Joachim Ruth. "Denn heute", sagt Ruth, "beginnt für Wyhl eine neue Ära." | |
Das neue Rathaus wird eröffnet. | |
Jürgen Nössler ist auch bei der feierlichen Eröffnung. Er trägt einen Anzug | |
mit einem Lions-Club-Anstecker am Revers. Und noch ein Gast ist gekommen: | |
Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Ernst Pfister von der FDP. Es ist | |
ein großer Tag für den Ort. Das letzte Mal kam ein Wirtschaftsminister, | |
Rudolf Eberle war das, vor dreißig Jahren nach Wyhl. Eberle kam, um für das | |
AKW zu kämpfen. Vergebens. | |
Heute sagt der Bürgermeister in Wyhl: "Wir freuen uns, mit dem Rathaus ein | |
völlig unumstrittenes Projekt einzuweihen." Alle lachen ein bisschen. Bei | |
einer Zigarette sagt Wirtschaftsminister Pfister am Rande: "Wyhl war | |
verzichtbar, heute haben wir ja Neckarwestheim." Gut, dass das der Göpper | |
nicht gehört hat. | |
Der Göpper, wie sie ihn hier alle nennen, hat schon mit dem Eberle | |
gestritten, mit dem Filbinger. Und Lothar Späth saß in seiner Küche damals, | |
um zu verhandeln. | |
Vier Kilometer sind es von Wyhl nach Weisweil. Vorbei an den Maisfeldern, | |
vorbei an Pflaumen- und Apfelbäumen, vorbei an den Himbeersträuchern und | |
den Kürbisgärten - und dann steht da das Göpper-Mühlhaus, erbaut 1547, mit | |
den neuen, großen Silos. Direkt hinter der Kläranlage. Es ist das älteste | |
Haus im Ort, seit 1832 in Familienhand. Und Siegfried Göpper, Herr der | |
Maisfelder, Saatgutzüchter, ist heute 81 Jahre alt. Seine Vorfahren liegen | |
im Garten begraben. Weil in Wyhl viele für das Kraftwerk waren, kam der | |
Widerstand vor allem aus den umliegenden Gemeinden, zum Beispiel hier aus | |
Weisweil. | |
Es war der Göpper, den am ersten Weihnachtstag 1971, zwei Jahre bevor die | |
AKW-Pläne von Wyhl überhaupt bekannt wurden, bereits ein anonymer Anrufer | |
heimlich und vertraulich informierte. Göpper war es, der dann hinter den | |
Kulissen schon den Widerstand dort plante. Er war es, der als Vorsitzender | |
der Jagdgenossenschaft die Pachtzahlungen der Gemeinden in die Protestkasse | |
steckte. Er war es, der später die Politiker bequatschte. Der gegen sie | |
klagte und am Ende den Kampf gewann. Und er war es, der Zeit seines Lebens | |
dafür büßen musste. | |
"Die Kläranlage da vorne", sagt Siegfried Göpper, "ist nicht gebaut worden, | |
um Weisweil sauberes Wasser zu beschaffen, sondern um den Göpper zu | |
bestrafen." Heute steht die Kläranlage wieder still. Glaubt man Siegfried | |
Göpper, dann ist diese Kläranlage so etwas wie das Denkmal der | |
Atomindustrie. Die manifestierte Rache für den Protesterfolg der | |
Atomkraftgegner. | |
Diese Rache: Wie sie ihm während der Erntezeit den Strom abstellten, mit | |
Bulldozern das Trafohäuschen niedermachten. Aus Rache. Wie er sich dreißig | |
Jahre lang autark versorgen musste, mit dem Strom aus einem Schiffsmotor. | |
Wie ihm die Kraftwerksbetreiber schrieben, er müsse als Rädelsführer für | |
die entgangenen Gewinne haften. 55 Millionen D-Mark werde das kosten. "Das | |
ging an die Grenze meiner Existenz", sagt er. Und im Ort sagen sie: "Ja, | |
der Göpper musste viel leiden." | |
Siegfried Göpper fährt nicht nach Berlin. "Ich bin zu alt dafür", sagt er. | |
Aber er ist nicht zu alt, um gegen das Atomkraftwerk im französischen | |
Fessenheim zu klagen. Und gegen den Genmais zu kämpfen, den sie ihm hier | |
andrehen wollen. Jürgen und Bernd Nössler gucken heute "Tagesschau". Und | |
Axel Mayer ist darin vielleicht zu sehen. | |
Sie sind diejenigen, mit denen dieser Kampf begann. Heute sind es | |
Zehntausende. In Berlin. Und im Herbst im Wendland, wenn die Castoren | |
rollen. | |
In Wyhl haben sie heute ein neues Rathaus. | |
18 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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