# taz.de -- ADHS im Erwachsenenalter: Ein Leben, das unmöglich schien | |
> Unsere Autorin hatte viele Jahre lang Depressionen. Bis sie erkennt, dass | |
> diese nur eine Folge sind: von ADHS. | |
26. Juni 2023, 1:53 Uhr: Könnte das eine Lösung sein? | |
An einem Morgen im Juni 2023 nehme ich in meinem WG-Zimmer zum ersten Mal | |
die ovale weiß-pinke Pille. Ich drehe sie vorsichtig auf, kippe das weiße | |
Pulver in ein Glas Wasser und rühre mit einem Löffel um. Ich trinke. | |
Ein Freund hat mir die Pille gegeben, nachdem ich ihn damit vollgejammert | |
habe, dass ich mich mal wieder vor dem Schreiben meiner Masterarbeit | |
drücke, dass ich wochenlang nur prokrastiniert, tagelang keine Zeile | |
geschrieben habe und stundenlang damit gehadert, mich überhaupt an den | |
Schreibtisch zu setzen. Kein Problem, sagte der Freund. Eine Pille des | |
verschreibungspflichtigen Medikaments Elvanse würde mir beim Konzentrieren | |
helfen. | |
Vierzig Minuten nach der Einnahme legt sich in mir ein Schalter um, von dem | |
ich bis dahin nicht wusste, dass er überhaupt existiert. Plötzlich ist es | |
ruhig in meinem Kopf. Das Hintergrundrauschen ist weg, als hätte es jemand | |
abgedreht. Eine Leichtigkeit stellt sich ein. Auf einmal kann ich | |
entscheiden, an was ich denke. | |
## Die Pille zu nehmen, verändert mein Leben | |
27. Juni 2023, 0:00 Uhr: Wäre schön, wenn die Gedanken nicht mehr wie Hagel | |
prasseln würden. Der Fokus in eine Richtung gelenkt werden könnte, sich | |
nicht ständig umentscheiden würde. Hoffnung steigt auf. Möchte, dass es | |
besser wird. Möchte vorankommen. Die Grenzen überwinden, die Mauern | |
einreißen. Schritt für Schritt besser werden, besser organisieren, besser | |
planen. Die Unsicherheit ablegen – und die Zweifel. Einiges macht Sinn. Das | |
schnelle Reden, die fehlende Konzentration. Irgendwas weicht von der Norm | |
ab – nicht weil ich es so will, sondern weil ich mich so fühle. Will | |
wissen, ob es so ist. Sträubte mich lange gegen die Möglichkeit. Nahm sie | |
nicht an. Weil Information fehlte und der Zugang unerreichbar schien. | |
Heute weiß ich, dass die Entscheidung, diese Pille zu nehmen, mein Leben | |
verändert hat. Denn sie führte zu der Erkenntnis, dass ich nicht – wie mir | |
von Ärzten und Therapeuten seit zehn Jahren immer wieder gesagt wurde – | |
unter wiederkehrenden, therapieresistenten Depressionen leide, mit denen | |
ich halt irgendwie klarkommen müsste. Sondern dass der Grund für meine | |
Probleme eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist, besser | |
bekannt als ADHS. Und die Depressionen ein Symptom von ihr. Wie wäre mein | |
Leben verlaufen, wenn das früher diagnostiziert worden wäre? | |
Als Kind wollte ich immer unterhalten werden. Hatte ich eine Idee, einen | |
Einfall, konnte ich nicht warten. Ich musste sofort zum Bastelladen, | |
Glitzerpapier kaufen. Oder auf der Stelle meinen besten Freund anrufen, ihm | |
etwas erzählen. Nichtstun und Stillsitzen waren nichts für mich. Langeweile | |
hielt ich nicht aus. In der Schule wollte ich immer schon die nächste | |
Aufgabe erledigen, denn sonst füllte Leerlauf mein Gehirn mit schnellen, | |
sprunghaften Gedanken. Niemand bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmte. | |
In diesen Jahren fühlte ich mich oft so, als würde ich durchs Leben | |
geschleift werden. Vieles fing ich zufällig an. Mich zu motivieren, etwas | |
zu tun oder etwas zu lernen, gelang mir kaum, wenn ich es nicht spannend | |
genug fand. Ist die Begeisterungsfähigkeit anderer eine Kerze, die | |
gleichmäßig und lange brennt, ist meine eher ein Chinaböller. Die | |
Motivation für neue Hobbys verflog meistens so schnell, wie sie gekommen | |
war: Reiten, Judo, Fußball, Tanzen, Klavier, Obst- und Gartenbauverein – | |
probierte ich alles aus, anfangs mit Begeisterung, schnell mit | |
Fluchtgedanken, sobald sich Routine einstellte. Dann brauchte ich wieder | |
was Neues. | |
## Die Diagnose war nicht falsch: Ich war depressiv | |
Mit 18 Jahren zog ich alleine in eine Mietwohnung in die nächstgrößere | |
Stadt und fuhr jeden Morgen mit einem alten roten VW Polo in die Schule. Um | |
Miete und Spritkosten zu bezahlen, arbeitete ich neben der Schule bis | |
nachts in einer Kneipe. Fürs Abitur lernte ich morgens. Mein Leben war | |
durchgetaktet. Ich hatte keine Zeit, mich in Gedankenschleifen zu | |
verheddern. Alles klappte irgendwie. Es war wie ein Rausch. | |
Bis zu dem Abend, an dem mir die Tränen runter liefen, als ich mit Bier auf | |
dem Tablett auf dem Weg zum Bartresen war. Ich brach meine Schicht ab, rief | |
eine Freundin an und saß ein paar Minuten später in ihrem Auto und dann im | |
Warteraum der Notaufnahme. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, es gab | |
keinen eindeutigen Grund für meine Tränen. Das Gefühl von damals: taub, | |
besiegt, am Limit, überfordert. Psychiater sprachen mit mir und sagten, sie | |
würden mich gern im Krankenhaus behalten. | |
Ich wollte nicht bleiben. Also schickten sie mich mit einer Krankschreibung | |
für drei Wochen wieder nach Hause. Die Diagnose lautete „mittelschwere | |
Depression“. In meiner Wohnung starrte ich teilnahmslos auf den Fernseher. | |
Ich konnte mir nichts merken, keine Freude fühlen, mich zu nichts | |
aufraffen. Ich versank in Wellen negativer Gedanken. | |
Die Diagnose der Ärzte war nicht falsch. Ich war depressiv und ausgebrannt. | |
Und doch war es ein Problem, dass von nun an in meiner Krankenakte | |
„Depression“ stand. Denn in den kommenden Jahren interpretierten andere | |
Ärzte die Symptome, die ich äußerte – Antriebslosigkeit, Gedankenrasen, | |
Morgentief, Suizidgedanken – als erneute depressive Episoden und | |
verschrieben mir Antidepressiva, die nicht anschlugen. Nach einer anderen | |
Ursache für mein Leiden wurde nie gesucht. | |
Ich machte mein Abitur und ging einmal pro Woche zum Jugendpsychologen. Ich | |
zog nach Berlin und begann zu studieren. In Uniseminaren kam ich nicht mehr | |
damit durch, einfach aktiv im Unterricht zu sein, wie damals in der Schule. | |
Wie ich mir meine Lernzeit im Kalender auch einteilte: meine Hausarbeiten | |
schrieben sich nicht, weil ich sie nicht schrieb. Ich schob hinaus, immer | |
wieder, und zweifelte immer mehr an mir. Vielleicht, dachte ich, ist das | |
Studium doch nichts für mich. Am Ende habe ich für meinen Bachelor drei | |
Semester über die Regelstudienzeit hinaus gebraucht. Für meinen Master | |
weitere fünf. | |
Weil es mir so schwer fiel, meine Zeit strukturiert zu nutzen, vergingen | |
unproduktive Tage mit Schuldgefühlen. Und diese Schuldgefühle waren so | |
stark, dass sich eine Abgabe nicht mal wie ein Erfolgserlebnis anfühlte. | |
Stattdessen kreisten in meinem Kopf immer wieder dieselben Gedanken: Hätte | |
ich früher angefangen, hätte ich besser sein können. Schneller. | |
Entspannter. | |
## Um ADHS schien es in den vergangenen Jahren eine Art Hype zu geben | |
Und so rutschte ich in diesen Jahren immer [1][wieder in die Depression | |
ab], weil ich so sehr an mir zweifelte. Weil ich wirklich studieren wollte, | |
aber nicht lernen konnte. Ich wies mich in eine Depressionsklinik ein, | |
sprach mit Psychotherapeuten, fuhr nach Norddeutschland und machte [2][eine | |
Ketamintheraphie]. Die Behandlungen sorgten dafür, dass ich stabiler wurde, | |
doch die Linderung war stets temporär. Ich fühlte mich wie ein Fass mit | |
Loch. Solange Ärzte ihren therapeutischen Finger auf das Loch drückten, | |
blieb das Wasser drin und ich kam zurecht. War der Finger weg, leerte sich | |
das Fass. | |
Also scheiterte ich wieder und wieder an mir selbst. In Gesprächen mit | |
Freunden versuchte ich aufmerksam zuzuhören und konnte mir doch nicht | |
merken, was sie mir erzählten. Irgendwann fing ich an, mich selbst nicht | |
mehr zu mögen, manchmal [3][sogar zu hassen]. So sehr, dass ich mich dann | |
fragte, ob es das gewesen sein soll und ob ich überhaupt alt werden möchte. | |
Weil sich das Scheitern seit der ersten Depression wie ein roter Faden | |
durch mein Leben zog und ich mich nicht auf mich selbst verlassen konnte. | |
So viel ich auch über Selbstliebe, Stoizismus und Resilienz las: Ich fand | |
mich scheiße, undiszipliniert und schwach. Wie sollte ich mich akzeptieren? | |
Nachdem ich die konventionellen Depressionstherapien ausgeschöpft hatte, | |
gestaltete ich mein Leben um. Erst reiste ich mit dem Rucksack durch | |
Skandinavien und nahm online an den Vorlesungen teil. In ständig | |
wechselnder Umgebung schaffe ich es, aufmerksam zu bleiben. Irgendwann gab | |
ich mein Berliner WG-Zimmer komplett auf, [4][kaufte mir einen Van und | |
reiste weiter]. Ich sehnte mich nach neuen Erlebnissen, ging ohne Erfahrung | |
und mit viel zu viel Gepäck wandern, lernte Skifahren, [5][machte einen | |
Fallschirmsprungkurs.] Ich wurde zum Adrenalinjunkie, der nicht wusste, | |
dass sich „extrem“ und „neu“ so viel besser als Routine anfühlte, weil… | |
Gehirn eine neurobiologische Disbalance vorherrscht. Dass das, was ich | |
habe, einen Namen hat und behandelt werden kann. | |
Natürlich wusste ich, was ADHS ist. Schließlich schien es in den | |
vergangenen Jahren eine Art Hype um diese Krankheit zu geben, vor allem in | |
den sozialen Medien, auf Tiktok und Instagram. Hier teilen Betroffene in | |
Videos und Beiträgen ihren Weg zur Diagnose, sprechen über ihre Symptome. | |
Eigentlich finde ich es gut, dass Leute online der Stigmatisierung rund um | |
das Thema mentale Gesundheit entgegenwirken, aber damals befremdete mich | |
der Umgang mit ADHS. Ich war der Ansicht, dass Kinder ja grundsätzlich | |
„mal“ laut, unkonzentriert oder hyperaktiv sind, öfter mal die Hobbys | |
wechseln und selbstverständlich nicht gleich als „gestört“ gebrandmarkt u… | |
mit Medikamenten ruhiggestellt werden sollten. Und ich gebe zu, dass ich | |
auch das dachte, was viele denken, die sich mit dem Thema noch nicht | |
auseinandergesetzt haben: Bisschen impulsiv und drüber ist doch jeder mal. | |
Zu dieser Zeit drang es nicht zu mir durch, dass auch ich eine ADHS haben | |
könnte. | |
## Das Gefühl überrolt mich – auf positive Weise | |
Bis zu jenem Tag im Juni 2023. Bis zu der Pille, die ich von einem Freund | |
bekam. Dieser Freund hat übrigens keine ADHS. Aber eine Freundin von ihm, | |
und die hat ihm irgendwann eine Elvanse zum Lernen angeboten. | |
Ich bin erst überrascht und zögerlich, als er mir dasselbe Angebot macht, | |
aber dann denke ich: Was hast du zu verlieren? Viel schlechter können | |
Motivation und Antrieb nicht werden. Zu diesem Zeitpunkt trinke ich vier | |
bis sechs Red Bulls am Tag, um irgendwie einen Funken Fokus zu erhaschen. | |
Da kann ich sie auch an einem Tag durch eine Pille ersetzen. | |
Dann dauert es nur noch vierzig Minuten, bis ich zum ersten Mal diese | |
angenehm-ungewohnte Ruhe in meinem Kopf spüre. Klarheit. Es überrollt mich. | |
Auf positive Weise. | |
Ich setze mich trotzdem nicht an meine Masterarbeit, sondern fange an zu | |
googlen. „ADHS“, dann „ADHS“ in Kombination mit „Frauen“, „Mädch… | |
Symptome“, „Depression“. | |
Viele Kinder mit ADHS haben schon in der Schule Schwierigkeiten. Laut | |
Bundesgesundheitsministerium sind zwei bis sechs Prozent der Kinder und | |
Jugendlichen von der Störung betroffen. Etwa 60 Prozent der im Kindesalter | |
Betroffenen haben auch später noch Symptome. Mädchen werden [6][viermal | |
seltener diagnostiziert] als Jungen. Das liegt laut dem Magazin Spektrum | |
daran, dass Mädchen mit ADHS seltener hyperaktiv seien, weniger durch | |
störendes Verhalten auffielen und Defizite im Durchschnitt besser | |
kompensieren könnten. An klinischen Studien, auf deren Basis die Kriterien | |
für die Diagnose erstellt wurden, nahmen zudem überwiegend Jungen teil. | |
Daher seien die meisten Bewertungsskalen auf männliche Patienten geeicht. | |
## Ich habe keine ADHS – ich doch nicht | |
Der Psychologe Thomas E. Brown schreibt im Buch „Smart but Stuck“ über | |
normal- bis hochbegabte junge Menschen mit ADHS: „Es ist für die meisten | |
schwer zu verstehen, wie ein Mensch sich auf bestimmte Aufgaben | |
konzentrieren kann oder sich unter dem Druck eines bevorstehenden Termins | |
mobilisieren kann …“ Das kenne ich gut, mit extremem Zeitdruck und | |
Versagensangst klappt einiges. Dann lese ich weiter: „… und dennoch nicht | |
in der Lage ist, sich zu zwingen, dieselben Fähigkeiten in angemessener und | |
rechtzeitiger Weise einzusetzen, insbesondere bei offensichtlich wichtigen | |
Aufgaben.“ Jemand spricht das aus, was ich so lange fühlte. | |
All das hat mit einem [7][Ungleichgewicht der Botenstoffe] Dopamin und | |
Noradrenalin zu tun. Und führt dazu, dass Betroffenen der Antrieb zum | |
Loslegen oft fehlt. Sie gehen Aufgaben nicht an, sondern schieben sie auf. | |
Nur wenn der Zeitdruck immens oder der Wunsch stark genug ist, etwas zu | |
erledigen, schüttet man genügend Botenstoffe aus. | |
Mit Druck und engen Deadlines habe ich schon einige Texte, Unikurse und | |
meine Steuererklärung gerettet. Aber Wochen oder Monate vorher mit einer | |
Aufgabe anfangen? Unmöglich. Säße ich in einem Auto, würde ich buchstäblich | |
das Gaspedal rechtzeitig durchdrücken, doch es würde auf der Stelle | |
bleiben. So lange, bis die Zeit gerade noch so reicht, um mit Vollgas und | |
Vollbremsung ans Ziel zu kommen. Dann würde sich der Tank füllen und ich | |
manchmal losrasen. | |
Ich lese und lese und denke nur: Das kann nicht sein. Das kann verdammt | |
nochmal nicht sein. Ich bilde mir bestimmt nur ein, dass diese | |
Symptombeschreibungen so gut auf mich passen. Ich habe keine ADHS. Ich doch | |
nicht. Ich habe nur Depressionen. | |
## Die typischen Anzeichen treffen zu | |
27. Juni, 23:41 Uhr: Drang, drüber zu reden, doch Angst, dass es mir | |
abgesprochen wird. Dass mir nicht geglaubt wird. Dass ich nicht die Hilfe | |
erhalte, die ich vielleicht bräuchte. Will schnell Gewissheit. | |
Irgendwann während meiner Recherchen lese ich einen Text der Psychologin | |
Cordula Neuhaus mit dem Titel „Typische Anzeichen von ADHS bei | |
Erwachsenen“. Dort steht: „Als Folge des Erlebens der eigenen | |
‚Selbstunwirksamkeit‘ entwickeln Erwachsene mit ADHS zum Teil starke | |
Selbstwertprobleme, (…) (ver)zweifeln häufig an sich selbst.“ Dies würde | |
unerkannt bei vielen Betroffenen zu symptomatischer Angststörung oder | |
wiederkehrenden Depressionen führen. Ich denke an all die Selbstzweifel. Im | |
Privaten, im Studium, beim Schreiben. An die nicht abgegebenen Texte und | |
Seminararbeiten. | |
„Ebenfalls typisch für Erwachsene mit ADHS sind emotionale Ausbrüche mit | |
regelrechtem Kontrollverlust“, heißt es auf der Website der Psychologin | |
weiter. Ich erinnere mich an die vielen Streitigkeiten, in denen ich aus | |
Überforderung losheulte. Dass ich Auseinandersetzungen mit anderen nur | |
schwer loslassen konnte, die Gedanken an das, was im Streit gesagt wurde, | |
immer wieder und tagelang, oft noch beim nächsten Treffen mit der Person | |
für mich präsent waren. Ich hatte keinen Schalter, um die schlechten | |
Gedanken auszuknipsen. | |
Ich lese weiter: „Betroffene Erwachsene (…) reagieren oft mit der ersten | |
Spontanidee, die ihnen einfällt, wobei Betroffene dazu ohnehin zu einem | |
sprunghaften Denk- und Wahrnehmungsstil neigen.“ Klingt nach mir. Im | |
Frühjahr erst hatte ich mir morgens spontan für mittags einen Flug von | |
Stockholm nach Stuttgart gebucht, um Fallschirm zu springen, obwohl ich die | |
Woche eigentlich an der Masterarbeit schreiben wollte. | |
Neuhaus schreibt weiter: „Viele Betroffene sind geradezu von einem | |
unkonventionellen Lebensstil angezogen, entdecken gerne ferne Länder, | |
experimentieren leider auch gerne mal mit unterschiedlichen Drogen. Auch im | |
sozialen Bereich zeigt sich das typische ‚Sensation Seeking‘ von | |
Betroffenen, die in einer subjektiv als sympathisch empfundenen Gruppe von | |
Menschen regelrecht „enthemmt“ wirken. Gleichzeitig fällt es ihnen auch im | |
Erwachsenenalter schwer, bei einer als „langweilig“ empfundenen Umgebung | |
dauerhaft (…) aufmerksam zu bleiben.“ Drogen? Check. Ein Leben zwischen | |
Zügen und den Couches von Freunden? Check. Risiko? Check. | |
Ich weine, rauche, zweifle, hoffe für einen kurzen Moment, und weine | |
wieder. Kann es wirklich sein, dass seit neun Jahren die Depressionen immer | |
wiederkommen, weil sie nicht das Hauptproblem, sondern eine Folge einer | |
nicht diagnostizierten psychischen Störung sind? | |
Ich schicke meiner Mutter unkommentiert den Link zu dem Text. „Muss sagen, | |
dass das sehr zutrifft, wie du als Kind warst und jetzt bist. Wäre gut, | |
wenn du das abklären lässt“, schreibt sie zurück. | |
## Wartezeiten für eine ADHS-Diagnostik sind ähnlich lang wie bei | |
Psychotherapieerstgesprächen | |
4. Juli, 23:37 Uhr: Würde gern den Kopf stiller haben. | |
Ich schreibe eine SMS an meine Therapeutin in Berlin, die mich und meine | |
depressiven Episoden über die Jahre immer wieder aufgefangen hat. Sie | |
antwortet, dass sie sich mit ADHS bei Erwachsenen zu wenig auskenne. Der | |
Vorgänger der ADHS-Diagnose war im Jahr 1968 die hyperkinetische Störung | |
der Kindheit. Im Diagnosehandbuch DSM der Amerikanischen Psychiatrie von | |
1980 wird erstmals von der Aufmerksamkeitsstörung (ADS) mit und ohne | |
Hyperaktivität gesprochen, ab 1987 dann schließlich von ADHS. | |
Lange Zeit wurde man nur als Kind diagnostiziert oder gar nicht. Erst seit | |
2003 ist die Diagnose in Deutschland für Erwachsene anerkannt. So kommt es, | |
dass nicht jeder Psychologe und Psychiater über Fachwissen zur Störung im | |
Erwachsenenalter verfügt – viele mussten sich schlichtweg nicht damit | |
beschäftigen, als sie anfingen zu arbeiten, weil die Diagnose noch nicht | |
existierte. Einige wirkungsvolle Medikamente wie Medikinet oder Elvanse | |
sind erst seit 2011 bzw. 2019 für Erwachsene zugelassen. | |
Ich recherchiere weiter und finde heraus, dass die Wartezeiten für eine | |
ADHS-Diagnostik ähnlich lang sind wie bei Psychotherapieerstgesprächen. | |
Weil ich nicht warten will, versuche ich es bei Privatpraxen, höre aber | |
auch da am Telefon nur Sätze wie: „Versuchen Sie es im neuen Jahr nochmal“, | |
„Die Warteliste ist voll“ und „Wir haben keine Kapazitäten“. Dann vers… | |
ich es direkt bei der Psychologin Cordula Neuhaus. Wieder eine Absage. „Ich | |
habe die ganze Website gelesen, es passt so gut, bitte: Ich brauche Hilfe“, | |
bettle ich. Stille am anderen Ende der Leitung. „Wir schicken Ihnen | |
Fragebögen zu und schauen dann weiter“, sagt die Sprechstundenhilfe. Ich | |
schöpfe Hoffnung. | |
## Meine Hoffnung springt durch die Decke | |
12. Juli, 0:10 Uhr: Immer wieder stoßen die Gedanken aneinander, finden | |
ihre Richtung nicht, kommen vom Weg ab. | |
In den nächsten Wochen fülle ich rund 70 Seiten Fragebögen aus. Sie dienen | |
auch zur Differenzialdiagnostik. Bedeutet: Einige Symptome von ADHS | |
überschneiden sich mit denen anderer psychischer Erkrankungen. | |
Beispielsweise treten eben sowohl bei Depressionen als auch bei ADHS innere | |
Unruhe und Selbstzweifel auf. Deswegen wird geschaut, ob die Symptome in | |
ihrer Kombination und Vielzahl zum entsprechenden Störungsbild passen. Das | |
macht die Diagnose so komplex. Ende Juli schicke ich den Papierbatzen weg. | |
Im August klingelt mein Handy. Die Sprechstundenhilfe von Frau Neuhaus | |
sagt: „Wir haben gute Nachrichten.“ Meine Hoffnung springt durch die Decke. | |
„Sie können im November zur Diagnostik kommen.“ Drei Monate sind verdammt | |
weit weg, denke ich kurz. Dann landet die Hoffnung wieder auf dem Boden der | |
Tatsachen und die Erleichterung überwiegt. Mein Ziel bis November: Die | |
Depression in Schach halten und mich ablenken. Ich mache einen Roadtrip, | |
arbeite viel. | |
## Psychostimulanzien lindern ADHS-Symptome bei 70 bis 80 Prozent der | |
Betroffenen | |
18. November, 22:34 Uhr: Dunkle Tage, Gedanken rasen ziellos durch die | |
Gegend, versperren die Sicht auf das, was wichtig ist. Kaffee rein, | |
Koffeintabletten rein, Red Bull rein. Irgendwie Klarheit erzwingen, wenn | |
auch nur für einen Moment. Kurz da, beweglich, der Paralyse entglitten, | |
bevor sie wieder die Überhand gewinnt, jede Bewegung und Aufgabe mit einer | |
Schicht Unmöglichkeit bedeckt. | |
Im November dann endlich die Diagnostik. Mehrere Stunden spreche ich mit | |
einem Therapeuten – über meinen Lebensweg, Schwierigkeiten, die Kindheit. | |
Es folgen ein IQ-Test und Aufmerksamkeitstests. Fünf Stunden dauert das. In | |
zwei Wochen soll ich das Ergebnis erhalten. | |
Mit großer Angst kehre ich zur Praxis zurück. Diesmal empfängt mich die | |
Psychologin Cordula Neuhaus. Ich kann den Moment schwer aushalten und bin | |
dankbar, als sie meine Vermutung direkt zu Anfang der Sitzung bestätigt. | |
Sie erklärt, wie sich ein Gehirn mit ADHS von anderen Gehirnen | |
unterscheidet und schreibt zu der Diagnose eine Medikationsempfehlung: | |
Elvanse, 30 Milligramm. Vor Erleichterung weine ich kurz danach vor der | |
Sprechstundenhilfe. | |
Ziel der Therapie ist erst mal Psychoedukation. Lernen und verstehen, wieso | |
ich wie funktioniere. Das Medikament muss mir ein Psychiater verschreiben. | |
Mit großem Glück ergattere ich einen Termin und das Rezept. Fortan nehme | |
ich täglich morgens eine Pille. | |
Wie wirkt so ein Medikament? Die meisten Medikamente zur Behandlung von | |
ADHS – Kategorie Psychostimulanzien – sorgen dafür, dass die Botenstoffe | |
Dopamin und Noradrenalin im Gehirn stärker freigesetzt und langsamer wieder | |
abgebaut werden. Ihre Wirkung ist vergleichbar mit der von psychoaktiven | |
Drogen wie Kokain oder Speed bei Menschen ohne ADHS, nur dass sie bei | |
Menschen mit ADHS nicht aufputschen, sondern das biochemische | |
Ungleichgewicht im Gehirn ausgleichen. Die simple Wirkung: Es fällt | |
ADHS-Betroffenen leichter, Aufgaben anzugehen. | |
Mehr als 200 Studien haben nachgewiesen, dass Psychostimulanzien | |
ADHS-Symptome lindern, und zwar bei 70 bis 80 Prozent der Betroffenen. Im | |
Vergleich haben Antidepressiva bei Depressionen eine deutlich geringere | |
Wirksamkeit. In einer Studie nahmen je 100 Depressive Antidepressiva und | |
100 ein Placebo. Das Ergebnis? Nach einigen Wochen fühlten sich 30 Menschen | |
aus der Placebo-Gruppe besser, bei jenen, die das Antidepressivum genommen | |
hatten, waren es gerade mal 50. Im Gegensatz zur „Erkrankung“ Depression | |
ist die ADH-„Störung“ hingegen grundsätzlich nicht heilbar. | |
Ich werde nie wissen, ob mir die richtige Diagnose das Leben gerettet hat, | |
es fühlt sich – rückblickend auf Gedanken, die ich hatte, – so an. Anfang | |
Juni 2024 schreibe ich diese Zeilen. Vor knapp über einem Jahr hatte ich | |
die Vermutung, eine ADHS zu haben. Seit einem halben Jahr habe ich | |
Gewissheit, mache Therapie und nehme Medikamente. Seit einem halben Jahr | |
bleibt die Depression fern. Der Blick in die Zukunft, ein zuvor so abstrakt | |
und unerreichbar scheinendes Konstrukt, erscheint mir heute als möglich und | |
ich spüre sogar etwas, von dem ich vergessen hatte, wie es sich anfühlt: | |
Optimismus. | |
Jeder meiner Morgen beginnt nun mit einer Pille, und das erst mal auf | |
unbestimmte Zeit. Endlich habe ich das Gefühl, selbst das Steuer in der | |
Hand zu haben. 28 Jahre meines Lebens war es mir vorgekommen, als säße ich | |
in einem auf Autopilot gestellten Auto, das regelmäßig – wenn ich nicht | |
doch noch mit letzter Kraft gegenlenkte – gegen die Wand fuhr. Ich dachte, | |
Gegenlenken sei die einzige Option. Ich wusste nicht, dass der Fahrersitz | |
überhaupt existiert. | |
Klaudia Lagozinski, 29, ist Online-Nachrichtenchefin bei der taz. Seit | |
einigen Jahren wirft sie vor dem Schlafengehen ihre Gedanken täglich in ein | |
DIN-A6-Notizbuch. Sie hat in diesem Jahr bisher vergleichsweise wenig | |
geweint. | |
11 Aug 2024 | |
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