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# taz.de -- Alzheimer bei Downsyndrom: Das große Vergessen
> Menschen mit Downsyndrom bekommen fast immer auch Alzheimer. Im
> Unterschied zu Deutschland haben Länder wie Irland und Spanien das längst
> verstanden.
Bild: Im Wohnheim in Dublin ist Platz für zwölf Menschen mit Downsyndrom und …
Welcher Tag ist heute?“ Melanie Hoffmann*, 46 Jahre alt, lässt den Blick
durch das Sprechzimmer wandern und schaut hilfesuchend zu ihrem Vater. Ihr
gegenüber sitzt die Neuropsychologin Elisabeth Wlasich. Sie blickt Hoffmann
freundlich an und fragt weiter: „Welcher Monat?“ – „Nein“, antwortet
Melanie.
„Wer ist das?“, fragt Wlasich und zeigt auf ein Bild von Queen Elizabeth
der II. „Tot die Frau“, antwortet die Probandin, reibt sich die Augen und
schmiegt den Kopf in die Achselhöhle ihres Vaters. „Es wird deutlich, wie
anstrengend das für sie ist“, sagt die Neuropsychologin zu ihm. Dieter
Hoffmann*, 68, sitzt neben seiner Tochter und sieht ebenfalls müde aus. „Wo
sind wir?“, fragt Wlasich weiter. Melanie nennt den Ort im Saarland, in dem
sie mit ihren Eltern lebt. „Wo bist du jetzt gerade?“ – „Hier.“
„Hier“, das ist die [1][Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom“] an der
Neurologischen Poliklinik der Universitätsklinik München. Fünf Stunden mit
dem Auto von Schiffweiler entfernt. „Hier“, das ist einer der wenigen Orte
in Deutschland, wo es Hilfe für Menschen wie Melanie Hoffmann und ihre
Familien gibt.
„Wir könnten noch eine Spinalpunktion machen, um die Diagnose zu sichern“,
bietet Anna Stockbauer, die behandelnde Ärztin, an. Sie schaut erst zur
Patientin, dann zu den Eltern. Stille. Alle wissen, dass auch eine Analyse
der Rückenmarksflüssigkeit nur bestätigen wird, was auf der Hand liegt:
Dass Melanie Hoffmann Alzheimer hat. Sie lebt nun nicht mehr nur mit dem
Downsyndrom, sondern auch mit Demenz – und das mit 46 Jahren.
Der Kognitionstest bestätigt den Abbau, den die Eltern beobachten: Hoffmann
hat 28 von 109 möglichen Punkten erreicht. Vor einem Jahr war sie zum
ersten Mal hier, da waren es noch 40. „Wichtig ist jetzt, alles zu tun, um
die Lebensqualität zu erhalten“, betont Elisabeth Wlasich. Hoffnung auf
Heilung gibt es nicht.
Die Alzheimerkrankheit wird Melanie Hoffmanns Gehirn zerstören. Sie wird
ihr die Erinnerungen nehmen und schleichend auch jede einzelne der
Fähigkeiten, die sie sich mühsam angeeignet hat. Sie wird ihre
Persönlichkeit verändern. Irgendwann, vielleicht in einem, vielleicht in
fünf Jahren, wird sie ihre Eltern nicht mehr erkennen, nicht mehr laufen
und nicht mehr selbstständig essen können.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie an dieser Krankheit sterben, denn
Alzheimer zerstört auch lebenswichtige Regionen des Gehirns. [2][Die
Krankheit ist die Todesursache Nummer eins für Erwachsene mit Downsyndrom].
Zwischen Diagnose und Tod liegen bei ihnen im Schnitt fünf Jahre.
Alzheimer ist eine brutale Krankheit, und ein Dieb. Sie raubt den
Betroffenen erst die Selbstständigkeit, dann die Persönlichkeit, dann das
Leben. Über 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben derzeit mit Demenz,
Alzheimer ist die häufigste Form. Sogenannte Antidementiva mildern zwar
mitunter Symptome, den Verlauf beeinflussen oder heilen können sie nicht.
Was nur wenig bekannt ist: Menschen wie Melanie Hoffmann, die mit dem
Downsyndrom leben, haben im Vergleich zur „neurotypischen Bevölkerung“ ein
viel höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. [3][Zwischen 80 und 90
Prozent der Menschen mit Trisomie 21 sind davon betroffen] – auch wenn
nicht alle die entsprechende Diagnose erhalten. Als „neurotypisch“
bezeichnet man ein durchschnittlich entwickeltes Gehirn; eines, das als
„normal“ angesehen wird.
In Deutschland leben schätzungsweise 50.000 Menschen mit dem Downsyndrom.
So gut wie alle werden an Alzheimer erkranken, es ist ihr „genetisches
Schicksal“, wie Johannes Levin, Experte für neurodegenerative Erkrankungen
am Klinikum der Universität München, es ausdrückt. Er hat die Ambulanz ins
Leben gerufen, in der Melanie Hoffmann getestet wird. Zu Beginn „aus reinem
Forschungsinteresse, aber dann ist da schon bald viel mehr draus
entstanden“, sagt er. In seiner Arbeitsgruppe bündelt sich, was Deutschland
an Kompetenz und Forschung zum Thema „Downsyndrom im Alter“ zu bieten hat.
Viel ist das nicht.
Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen aus
anderen Ländern. Im Rahmen von [4][Horizon 21], einer internationalen
Kooperation, haben sich Kliniker*innen und Forschende aus ganz Europa
auf einheitliche Fragebögen und Testmethoden verständigt, um das Thema
voranzubringen.
Denn der Körper von Menschen mit Trisomie 21 funktioniert anders, auch was
das Altern angeht: Sie altern im Zeitraffer, entwickeln früh tiefe
Hautfalten. Frauen kommen fünf bis acht Jahre früher in die Menopause,
Autoimmunerkrankungen treten häufiger auf. Warum, das ist eine der
Forschungsfragen, der die Münchner Arbeitsgruppe nachgeht. Auch die ersten
Symptome von Demenz zeigen sich bei Menschen mit Downsyndrom häufig schon
mit Mitte, Ende vierzig – so wie bei Melanie Hoffmann.
## Vielversprechendes Medikament nicht zugelassen
Es gibt Anlass zu vorsichtiger Hoffnung: Antikörperbasierte Wirkstoffe wie
Lecanemab und Donanemab greifen zum ersten Mal die Ursache der
Alzheimerkrankheit an. Lecanemab ist unter anderem in den USA, in Japan,
China und Südkorea bereits zugelassen und wird als Durchbruch gefeiert. Die
Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat jedoch im Juli 2024 überraschend
die Zulassung abgelehnt, mit der [5][Begründung,] der Effekt des Präparats
wiege das Risiko von beobachteten Nebenwirkungen nicht auf. Für alle, die
auf das Medikament warten, ist die Ablehnung niederschmetternd. „Die
Entscheidung ist nicht nachvollziehbar“, so Johannes Levin. Viele Fachleute
halten die Zulassung des Wirkstoffs in Europa für eine Frage der Zeit.
Ironie des Schicksals: Die Tatsache, dass Menschen mit Trisomie 21
typischerweise an Alzheimer erkranken, war für die Forschung ein
Glücksfall. Wissenschaftler*innen untersuchten an ihnen bereits in den
1980er Jahren, wann und wie sich Alzheimer entwickelt. Die
„Amyloidtheorie“, auf der die neuen Wirkstoffe wie Lecanemab aufbauen,
gäbe es nicht ohne Menschen mit Downsyndrom.
Ob Lecanemab, als Medikament Leqembi genannt, auch für die Menschen mit
Trisomie 21 irgendwann ein Glücksfall sein wird, steht allerdings in den
Sternen: Wissenschaftler*innen raten derzeit davon ab, Leqembi bei
Menschen mit Downsyndrom einzusetzen. Der Grund: Fehlende Datenlage.
Menschen mit Trisomie 21 werden bislang nicht in Medikamentenstudien
miteinbezogen.
Noch mal zusammengefasst: Menschen mit Downsyndrom entwickeln aufgrund
ihres genetischen Baukastens fast immer eine Alzheimerdemenz. Rechtzeitig
diagnostiziert werden nur wenige, fehlbehandelt die meisten. Und das,
obwohl auch in Deutschland seit 2009 die
[6][UN-Behindertenrechtskonvention] gilt. Artikel 25 besagt, dass „die
Vertragsstaaten […] das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das
erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von
Behinderung [anerkennen]“. Das betrifft auch die medizinische Versorgung im
Alter – so die Theorie.
„Extrem unfair“, fand die Irin Mary Mc Carron den Umgang mit Menschen mit
Downsyndrom bereits in den 1980er Jahren. Wer sich auf die Suche nach Best
Practice macht, landet unweigerlich bei ihr, in Dublin. Mc Carron läuft im
Stechschritt über den Campus des altehrwürdigen Trinity College, ein nasser
Wind weht ihr durch Fönfrisur und Seidentüchlein, während sie erzählt. Nur
im Gehen hat sie Zeit.
Die Mittfünfzigerin leitet eine weltweit einzigartige Einrichtung: das
[7][Trinity Centre for Ageing and Intellectual Disability] (TCAID, Zentrum
für Menschen mit kognitiver Einschränkung im Alter). Begonnen hat sie als
Krankenschwester mit Spezialisierung auf Menschen mit geistiger Behinderung
– ein Berufsbild, das es in Deutschland nicht gibt.
„Als ich angefangen habe zu arbeiten, habe ich viele Menschen mit
Downsyndrom gesehen, die gesundheitlich in schlimmem Zustand waren. Man
schien zu denken: ‚Das ist halt so, die werden eben alt und dement‘ – und
damit war die Sache erledigt. Damals habe ich mir gedacht: Das werde ich
ändern.“
Und das hat sie getan. Bereits Mitte der 1990er Jahre beginnt Mc Carron zum
Zusammenhang von Downsyndrom und Alzheimer zu forschen und schreibt ihre
Doktorarbeit darüber. Eine der Kohorten begleitet sie seit mittlerweile 25
Jahren in einer Längsschnittstudie. Im Jahr 2011 wird sie zur Dekanin der
Fakultät für Gesundheitswissenschaften ernannt.
Sie ruft [8][am Universitätsklinikum Tallaght eine Einheit ins Leben, die
auf Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Trisomie 21 und Alzheimer
spezialisiert ist.] Hausärzt*innen im ganzen Land überweisen ihre
Patient*innen mit Downsyndrom hierher, damit sie von der Dubliner
Expertise profitieren.
Ein weiteres Zentrum der Expertise befindet sich 2.000 Kilometer südlich
von Dublin in Barcelona, wo der Neurologe Juan Fortea, 45, am [9][Hospital
de la Santa Creu i Sant Pau] zur Frühdiagnose neurodegenerativer
Erkrankungen und dem Zusammenhang zwischen Downsyndrom und Alzheimer
forscht.
Mittlerweile ist klar: Die Alzheimer verursachenden Ablagerungen im Gehirn
bilden sich bereits Jahrzehnte bevor die Krankheit ausbricht. „Alzheimer
ist eine Krankheit der Jungen, die sich im Alter manifestiert“, fasst
Fortea zusammen. Darum ist frühes Monitoring so wichtig.
Fortea hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in der Provinz Katalonien
mittlerweile [10][standardisierte Gesundheitspläne] für Menschen mit
Downsyndrom gibt. Jede*r Betroffene wird dort ab dem Alter von 35 Jahren
jährlich untersucht. „Das ist auch deshalb wichtig, weil es gängige
Krankheiten gibt, die mit dem Downsyndrom einhergehen“, sagt Fortea. An
angeborenen Herzfehlern, Infekten oder Leukämie, früher häufig
Todesursachen bei Kindern mit Downsyndrom, stirbt heute kaum noch jemand.
[11][Schilddrüsenprobleme, Diabetes mellitus, Schlafapnoe und andere
Erkrankungen bleiben aber Risiken], die im Erwachsenenalter mit dem Syndrom
einhergehen und ähnliche Symptome wie Demenz hervorrufen können. Sie sind
gut behandelbar – bis auf Alzheimer.
## Melanie Hoffmann hatte ein prall gefülltes Leben
Es wäre schön, erzählen zu können, ein niedergelassener Neurologe
oder eine Hausärztin hätte Melanie Hoffmann an die Ambulanz in München
überwiesen. De facto war es ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Philipp. Der
Ingenieur wohnt mit seiner Familie eine Straße weiter; seit zwei Jahren
beobachtet er die Veränderungen bei seiner Schwester. Irgendwann googelt er
„Downsyndrom+Demenz“ und stößt auf die Münchner Ambulanz. So ist das in
Deutschland: Die Informationen sind zwar da, aber sie sind nur für die zu
finden, die genau wissen, wonach sie suchen.
Im Münchner Untersuchungszimmer hat Melanie Hoffmann die kleine faltige
Hand in die ihrer Mutter Birgit* gelegt und schaut zwischen Ärztin und
Neuropsychologin hin und her. Die Ärztin fragt: „Was hat sich verändert?“
Melanie Hoffmann guckt zu ihrer Mutter und sucht in deren Gesicht nach der
Antwort.
Brigit Hoffmann zählt auf, was alles nicht mehr geht: Alleine anziehen,
Brot schneiden, aufs Klo gehen, die Schuhe finden oder das Handy, den Tisch
abräumen, Wäsche in den Schrank legen. „Eigentlich ist kaum noch etwas beim
Alten“, fasst Dieter Hoffmann zusammen.
Das Alte, das ist bei Melanie Hoffmann ein prall gefülltes Leben: Seit 26
Jahren arbeitet sie in der Kantine einer Werkstatt der Lebenshilfe. Sie
malt für ihr Leben gern und sie liebt Schlager. Jeden Tag nach der Arbeit
setzt sie sich zu Hause an ihre Staffelei und dreht die Anlage auf. Andrea
Berg und Helene Fischer schallen dann durchs Haus, „bis es einem zu den
Ohren rauskommt“, sagt ihre Mutter.
Melanie Hoffmann ist eine unternehmungslustige Frau, vor allem mit ihrem
Partner macht sie viel: Gemeinsam mit dessen Eltern gehen sie auf Konzerte
und in schicke Restaurants, sie knutschen gern und verbringen Tage und auch
Nächte miteinander. Das alles erzählt die Mutter im Präsens und sagt dann:
„Das war einmal.“ Die Stimme bricht ihr weg, sofort steht Melanie Hoffmann
auf und nimmt ihre Mutter tröstend in den Arm.
Die Veränderung kam wie über Nacht. Im Juli 2022 beginnt Melanie Hoffmann
Körper zu zucken. Mal sind es die Arme, mal der Kopf, immer passiert es in
den Morgenstunden. Das Zucken kommt plötzlich und ist nach einer Stunde
vorbei, „wie ein Spuk“, erinnert sich der Vater. Er geht mit Melanie
Hoffmann zum Hausarzt, dann zum Neurologen, von beiden fühlt sich die
Familie „komplett alleingelassen“.
Einige Tage später stürzt Melanie zum ersten Mal, im Bad, und fällt mit dem
Gesicht aufs Waschbecken, sie schlägt sich zwei Schneidezähne ein. Im
Dezember fällt sie zwei weitere Male, sie hat nun Hämatome und Schürfwunden
im Gesicht und bewegt sich immer unsicherer. Das Zucken wird stärker, eines
Morgens im Januar liegt Melanie im Bett und ist nicht mehr ansprechbar. Der
Vater ruft den Notarzt, es folgt ein Krankenhausaufenthalt in der
Neurologie.
Das medizinische Personal dort weiß wenig mit ihr anzufangen, Versuche mit
Medikamenten zeigen keinen Erfolg. Auch in der Klinik fällt Melanie
Hoffmann wiederholt aus dem Bett. „Sie wurde entlassen, und dann ging alles
weiter wie gehabt“, erzählt der Vater. Zur Arbeit geht Melanie Hoffmann in
dieser Zeit nicht mehr, die Eltern versorgen sie zu Hause. Die Verzweiflung
wächst. Bis Bruder Philipp den Kontakt zur Ambulanz in München herstellt.
Ende März 2023 wird Melanie Hoffmann dort das erste Mal untersucht.
Das Team an der LMU ist „wahnsinnig hilfreich“, sagt der Vater. Endlich
gibt es Erklärungen. Die Zuckungen, die Melanie Hoffmann überfallen, sind
sogenannte myoklonische epileptische Anfälle. Bei etwa zwei Dritteln der
Betroffenen sind sie die ersten Hinweise auf Alzheimer.
„Wenn Sie so etwas morgens bei Ihren Angehörigen beobachten, und wenn es
das erste Mal ist, dann stellen Sie das Frühstück außer Reichweite, rufen
den Notarzt und lassen Ihren Angehörigen auf der Neurologie durchchecken“,
sagt Evelyn Reilly vom [12][Tallaght Memory Service in Dublin.] In Irland
gilt, wie in Katalonien, seit einigen Jahren die Maßgabe: Alle Menschen mit
Downsyndrom stellen sich im Alter von 35 Jahren für einen Ausgangsbefund
vor.
Das empfiehlt auch die Münchner Ambulanz: „Kommen Sie mit ihren Angehörigen
dann, wenn sie noch keine Symptome zeigen“, sagt Johannes Levin. Der Sinn
des Ganzen: Es braucht einen Referenzwert. Die Diagnose wird erst gestellt,
wenn sich, wie bei Melanie Hoffmann, bei einer zweiten Testung zeigt, dass
die kognitiven Fähigkeiten nachgelassen haben.
Wie erkennt man, ob jemand dement wird? Bei neurotypischen Menschen fällt
es früher oder später im Alltag auf: Betroffene vergessen und verlegen
Dinge, sind verwirrt, haben Orientierungsschwierigkeiten, die sich meist
zuerst an unbekannten Orten bemerkbar machen. Menschen mit kognitiver
Einschränkung kommen jedoch nur selten in solche Situationen.
Selbst speziell auf Trisomie 21 entwickelte Tests sind nur im Verlauf
aussagefähig – zu unterschiedlich sind die individuellen Fähigkeiten der
Betroffenen. Einige wenige machen Abitur, viele lernen nie schreiben,
manche haben lebenslang Probleme, sich durch Sprechen zu verständigen.
Gerade bei Letzteren sind es daher „eher Veränderungen im Verhalten, die
auffallen“, sagt Levin. „Menschen, die fröhlich und impulsiv waren, ziehen
sich vielleicht zurück, werden ängstlich oder auch aggressiv.“ Für
Angehörige und nicht geschultes Betreuungspersonal kann das verwirrend sein
und unter Umständen auf die falsche Fährte führen.
Eine noch unveröffentlichte Studie aus einer Kollaboration der LMU München
mit der Universität Duisburg-Essen hat die Versorgung von Menschen mit
Downsyndrom und Alzheimer untersucht. Das vorläufige Ergebnis laut Levin:
„Die Demenz bleibt bei den Betroffenen oft unerkannt. Sie erhalten seltener
etablierte Antidementiva als die Normalbevölkerung. Dafür werden bei ihnen
deutlich häufiger Psychopharmaka verschrieben.“
## Keine Leitlinie für Menschen mit Downsyndrom
Warum ist die medizinische Versorgung von Menschen mit Trisomie 21
hierzulande so miserabel? Vielleicht, weil in Deutschland gerade zum ersten
Mal eine ganze Generation von Betroffenen alt wird. Das liegt zum einen am
medizinischen Fortschritt. Durch die neuen Möglichkeiten der Herzchirurgie
ist die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21, die vor 100 Jahren
noch bei zehn Jahren lag, auf heute rund sechzig gestiegen.
Zum anderen ist da die deutsche Geschichte, die ihren Schatten wirft: Der
Nationalsozialismus hat mit der sogenannten Aktion T4 ganze Generationen an
Menschen mit Behinderung ausgelöscht. Menschen mit Downsyndrom wurden in
Nachkriegsdeutschland zwar geboren, aber noch einige Jahrzehnte lang wurden
sie nur selten älter als Mitte dreißig.
In der Gegenwart gibt es noch einen anderen Grund für die schlechte
Versorgung. Wenn Menschen mit Downsyndrom krank sind, gehen auch sie erst
mal zu Hausärzt*innen vor Ort. Für die sind diese Patient*innen in
der Regel ein Sonderfall. Sie müssen schon sehr motiviert sein, um sich
eingehender mit ihnen zu beschäftigen.
Eine Leitlinie für die medizinische Versorgung von Menschen mit Trisomie 21
gibt es in Deutschland nicht. „Menschen mit Downsyndrom brauchen vor allem
Zeit“, sagt Elisabeth Wlasich. Wie geht das zusammen mit einem
durchökonomisierten Gesundheitssystem?
In der Praxis meist gar nicht. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2015 ein
Gesetz verabschiedet, das vorsieht, für Menschen mit starker Einschränkung
sogenannte interdiziplinär arbeitende [13][„ambulante Medizinische
Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren
Mehrfachbehinderungen“ (MZEB)] zu schaffen. Im Prinzip wären sie der
geeignete Ort, wo sich Menschen mit Downsyndrom bei Verdacht auf Demenz
vorstellen könnten.
Allerdings: Der anvisierte flächendeckende Aufbau von MZEBs geht, so das
Deutsche Ärzteblatt im Dezember 2023, „nur sehr schleppend voran“. 57
solcher Zentren arbeiten derzeit bundesweit, mit teilweise sehr begrenzten
Kapazitäten. Der ländliche Raum ist schlecht versorgt; im Saarland, wo
Familie Hoffmann lebt, gibt es keines.
Wenn Menschen mit Trisomie 21 nahezu zwangsläufig Alzheimer entwickeln,
wozu dann überhaupt eine Diagnose? „Um zu wissen, wo im Verlauf die Person
steht, und um die Krankheit planbar zu machen“, sagt Alzheimerforscher
Johannes Levin.
Die Diagnose ist für die Familie Hoffmann ein bescheidenes Glück im
Unglück: Sie ist niederschmetternd, aber auch erleichternd – denn sie gibt
Orientierung. Die behandelnde Ärztin empfiehlt Melanie Hoffmann bereits
beim ersten Termin in der Ambulanz ein Antiepilektikum. „Das hat sofort
geholfen, schon am nächsten Tag hatte sie keine Anfälle mehr“, berichtet
der Vater.
Für die Familie macht das einen großen Unterschied: Melanie Hoffmann geht
wieder zur Arbeit, die Lebenshilfe passt ihre Tätigkeit in der Kantine an
die abnehmenden Fähigkeiten an. In der Einrichtung trifft sie ihren Freund,
sie hat dort Freunde und Bekannte. Die Eltern können ein paar Stunden am
Tag die Verantwortung abgeben.
Trotzdem bleibt es schwer. Über Ostern erleidet Birgit Hoffmann einen
Schlaganfall. Es folgen Krankenhausaufenthalt und Reha, das nimmt die
Tochter emotional stark mit. Im Juni 2023 stürzt Melanie erneut, sie
handelt sich einen Haarriss im Schienbeinknochen ein, der sie stark und
lange einschränkt. Erst mittels eines zweiten Röntgenbildes wird er
erkannt, weil Melanie Hoffmanns Klage über Schmerzen von den Ärzt*innen
nicht ernst genommen wurde. Die Folge: Sie arbeitet seitdem nur noch vier
Stunden am Tag. Seit diesem Sturz traut sie sich nicht mehr in den Bus, der
sie jahrelang zur Arbeit abgeholt hat.
Die Abwärtsspirale kommt damit weiter in Gang, denn: „Erhalten, was an
Fähigkeiten da ist, ist das A und O“, sagt Neuropsychologin Wlasich. Dieter
Hoffmann verbringt nun viel Zeit im Auto: Er fährt seine Tochter in die
Werkstatt und zurück, außerdem zu diversen Physio- und
Ergotherapieterminen.
Bruder Philipp beobachtet das Ganze mit Sorge. Er verbringt jeden
Donnerstagnachmittag mit seiner Schwester, wenn die Eltern nach Saarbrücken
zu einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Menschen mit Demenz fahren.
„Ich liebe meine Schwester. Aber schon ein einziger Nachmittag mit ihr ist
irre anstrengend. Ich frage mich, wie das alles weitergehen soll. Meine
Eltern können nicht mehr.“
Wie viele Menschen mit geistiger Behinderung lebt Melanie Hoffmann bei
ihren Eltern. Eltern und Kinder werden oft gemeinsam alt, beobachtet
Neuropsychologin Wlasich. „Wenn das Leben der alternden Eltern kleiner
wird, dann zwangsläufig auch das der Kinder.“ Sie ermutige die Familien
dazu, sich Einrichtungen anzuschauen, denn: „Wenn die Demenz mal da ist,
ist eine Umgewöhnung schwierig.“
Für Melanie Hoffmann und ihre Familie ist dieser Zug abgefahren. Die
Familie erhält 300 Euro Pflegegeld, darüber hinaus haben die Eltern
keinerlei Unterstützung bei der Pflege, die sie mittlerweile rund um die
Uhr beansprucht. Hätten sie darauf nicht Anspruch? Dieter Hoffmann fehlt es
an Zeit und Energie, sich auch darum noch zu kümmern.
1.500 Kilometer weiter westlich, in Dublin: Betroffene Familien haben hier
die Möglichkeit, sich auch mal auszuruhen. Das preisgekrönte [14][Haus
Willowview des Avista St Josephs Centre] im Westen der Stadt wurde in
Zusammenarbeit mit dem Trinity College konzipiert. Mary Mc Carron hat auch
hier maßgeblich mitgewirkt und ihre Vision in die Tat umgesetzt: Menschen
mit geistiger Behinderung und Demenz sollen optimal versorgt werden. Die
Einrichtung bietet Platz für zwölf Menschen. Das ist erst einmal nicht
viel, aber das Haus wirkt als Leuchtturmprojekt, Nachahmer gibt es bereits,
Fachleute aus aller Welt schauen sich hier um. Anfragen aus Deutschland gab
es bislang nicht.
Willowview hält auch zwei „Pausenbetten“ vor. Sie können für ein paar Ta…
von Demenzkranken belegt werden, deren Angehörige dringend eine Pause
brauchen. „Die Nachfrage ist groß“, sagt Eilish Madden,
Pflegedienstleiterin des Hauses. Willowview will sowohl die
Bewohner*innen als auch die Pflegenden optimal unterstützen, das zeigt
sich schon in der Architektur.
Das Haus ist kreisförmig aufgebaut, Menschen mit Demenz können so ihren
Bewegungsdrang ausleben, ohne verloren zu gehen. In Willowview gibt es
allerorten Sitzgelegenheiten für die Momente, in denen die Kraft plötzlich
nachlässt. Die Ecken sind gerundet, um Verletzungen zu vermeiden, der Boden
ist von durchgängiger Farbe. „Das ist wichtig, weil sich in der Demenz oft
die Tiefenwahrnehmung verändert“, sagt Madden. „Schon eine dunkle Fuge im
Boden oder ein Farbwechsel kann dann die Angst auslösen, in einen Abgrund
zu fallen.“
In Willowview ist jedes Zimmer liebevoll eingerichtet, das eigene Bad eine
Selbstverständlichkeit. Ein digitales Fotoalbum ermöglicht es dem speziell
geschulten Personal, sich der Person mit ihrer individuellen Vergangenheit
zuzuwenden – auch wenn die Sprache nicht mehr da ist und vielleicht auch
Erinnerungen fehlen. „Wir nehmen Bezug auf alles, was das Leben unserer
Bewohner*innen reich und schön gemacht hat“, so die
Pflegedienstleiterin. Aus dem Wohnzimmer tönt ABBA, es wird getanzt – zwei
Tage zuvor waren drei Bewohnerinnen auf einem Konzert, der Eindruck ist
noch frisch und die Freude groß.
Wie unterscheiden sich Menschen mit und ohne geistige Behinderung in puncto
Demenz? „Schmerzen sind ein großes Thema“, sagt Madden, „das wird oft
übersehen, wenn Menschen nicht verbal kommunizieren.“ Deshalb verfügt in
Willowview jedes Zimmer über eine sogenannte Schmerztafel. Auch ohne
Sprache lässt sich damit zeigen, ob und wo etwas wehtut, und wie stark.
Dass Menschen mit geistiger Behinderung dement und pflegebedürftig werden
und dann anders betreut und versorgt werden müssen, ist eigentlich keine
Überraschung. Flächendeckend und systematisch vorgedacht, geplant und im
Zweifel auch passend gebaut wurde allerdings in vielen Fällen nicht. Die
Lebenshilfe, der größte Träger bundesweit, unterstützt etwa 170.000
Menschen mit geistiger Behinderung und betreibt knapp 1.500 Wohnstätten und
ambulant betreute Wohnungen sowie über 700 Werkstätten.
Wie viele der dort lebenden und arbeitenden Menschen das Downsyndrom haben
und wie alt sie sind, das kann niemand sagen. Die unabhängig agierenden
Ortsverbände tauschen keine Zahlen aus. Das hat zur Folge, dass jeder
einzelne Fall, wie der von Melanie Hoffmann, als Überraschung daherkommt.
So hat Wolf-Dietrich Trenner vom Arbeitskreis Downsyndrom Deutschland e.
V., einer Eltern-Selbsthilfe-Vereinigung, regelmäßig verzweifelte Eltern am
Telefon, die „wie vom Blitz getroffen“ sind, weil sie nie auf die ihren
Kindern drohende Krankheit vorbereitet wurden.
Was tun, wenn den Eltern oder auch dem Personal im Wohnheim die Pflege über
den Kopf wächst? Die wenigsten Einrichtungen sind auf pflegebedürftige
Menschen mit Behinderung eingestellt. Klassische Pflegeheime hingegen sehen
sich durch Menschen mit Behinderung überfordert. „Man denkt, die sind
untergebracht, wir können jetzt in Ruhe alt werden. Und dann kommt die
Demenz, und die Einrichtung sagt: Das können wir nicht leisten“, sagt
Trenner.
Die Anzahl der Menschen, die weltweit jährlich an Demenz erkranken, wird
immer größer, die WHO hat daher einen Globalen Handlungsplan verabschiedet.
Seit 2020 hat auch Deutschland eine [15][Nationale Demenzstrategie], ein
133 Seiten langes Dokument, das formuliert, wie Menschen mit Demenz in der
„Mitte der Gesellschaft“ bleiben und „mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen
wahrgenommen“ werden sollen. Menschen mit Trisomie 21 werden darin genau
einmal erwähnt, es wirkt wie nachträglich hineingeschrieben. Eine 50.000
Menschen große Gruppe, die laut genetischem Bauplan fast zwangsläufig
Alzheimer entwickelt, taucht in dieser Strategie also so gut wie nicht auf.
In Irland hat Mary Mc Carron dafür gesorgt, dass Menschen mit Downsyndrom
in der irischen Demenzstrategie mit ihren besonderen Bedürfnissen
berücksichtigt werden. Wie sie das gemacht hat? „Wir hatten die Daten“,
sagt sie. Mc Carron hat sie mit ihrem Team selbst erhoben. Denn:
„Verlässliche Daten sind das Fundament jeder guten Strategie.“
Daten zu Downsyndrom? Nicht in Deutschland. Eine Anfrage beim Statistischen
Bundesamt endet in stundenlangem Kopfzerbrechen. Der Schätzwert von 50.000
ergibt sich aus Zahlen der Eingliederungshilfe, aus Geburten- und
Abtreibungsstatistiken. Niemand weiß, wie viele Menschen mit Trisomie 21 in
Deutschland leben, niemand weiß, wie alt sie sind und wo sie leben. Diese
Daten werden nicht erhoben – aus historischen Gründen. Das mag gut gemeint
sein, und doch führt es, fast 80 Jahre nach Kriegsende, zu erheblicher
Benachteiligung. Es führt dazu, dass niemand weiß, wo es wieviel
Versorgungsbedarf gibt.
Früher oder später wird es auch in Europa Medikamente gegen Alzheimer
geben. Johannes Levin geht davon aus, dass „Alzheimer irgendwann eine
chronische Krankheit sein wird, mit der es sich unter guter ärztlicher
Betreuung lange und gut leben lässt, so wie heute schon mit Bluthochdruck
oder auch mit einer HIV-Infektion.“
Melanie Hoffmann wird davon nicht mehr profitieren. Ihre Familie und sie
werden zurechtkommen müssen, wie so viele andere auch. Und doch: „Es gibt
Hoffnung“, sagt Juan Fortea aus Barcelona, er meint damit die neue
Generation der Alzheimermedikamente. „Die Menschen mit Downsyndrom, die
heute Kinder sind, werden wir schon ganz anders behandeln können.“*Name von
der Redaktion geändert
7 Aug 2024
## LINKS
[1] https://www.lmu-klinikum.de/neurologie/fur-patienten/ambulanzen/ambulanz-al…
[2] /Neurologe-ueber-Alzheimer-und-Downsyndrom/!5984897
[3] https://www.alzheimer-forschung.de/alzheimer/wasistalzheimer/genetische-gru…
[4] https://horizon-21.org/
[5] https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/leqembi
[6] https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/Publikati…
[7] https://www.tcd.ie/tcaid/
[8] https://www.hse.ie/eng/dementia-pathways/care-pathways/dementia-in-people-w…
[9] https://santpaumemoryunit.com/about-us/
[10] https://santpaumemoryunit.com/alzheimer-down-unit/health-plan-of-the-alzhe…
[11] https://www.aerzteblatt.de/archiv/229046/Erkrankungen-von-Menschen-mit-Tri…
[12] https://www.hse.ie/eng/dementia-pathways/care-pathways/dementia-in-people-…
[13] https://bagmzeb.de/mzeb-finden/
[14] https://avista.ie/wp-content/uploads/2021/11/11082016-DOC-Annual-Report-20…
[15] https://www.nationale-demenzstrategie.de/
## AUTOREN
Dunja Batarilo
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Demenz
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Alzheimer
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