# taz.de -- Altenpflege auf Zypern: Mit Oma Marika im Demenz-Unterricht | |
> Die Großmutter unserer Autorin hat Alzheimer. In einer Tagesstätte in | |
> Nikosia trainiert sie mit anderen Erkrankten ihr Gedächtnis – und das | |
> Erzählen. | |
Bild: Das Ithaki-Zentrum ist eine Schule für an Alzheimer erkrankte Menschen | |
Nikosia taz | Oma Marika will heute nicht ins Ithaki gehen. „Du bist jetzt | |
da, ich gehe nur hin, wenn ich allein bin und Gesellschaft brauche“, | |
beschwert sie sich auf Griechisch, während wir zusammen frühstücken. Wieder | |
erkläre ich ihr, dass ich sie heute begleite, sie mich gar nicht allein im | |
Dorf zurücklässt und ich einen Text über sie schreiben möchte. Wir essen | |
typisch zyprisch: Brot mit Halloumi, Oliven und Tomaten. Während sie | |
langsam kaut, schmiere ich ihr noch ein Pausenbrot. | |
Früher hat meine Oma den Halloumi noch selbst mit einer Nachbarin im Dorf | |
gemacht, hat alle paar Wochen Sauerteigbrot im Steinofen gebacken und | |
beides eingefroren, bis wir aus Deutschland zu Besuch gekommen sind. Ich | |
habe ausnahmslos jeden Sommer meiner Schulzeit zusammen mit meiner | |
Schwester auf Zypern, im Dorf meiner Mutter verbracht. Als wir klein waren, | |
war meine Großmutter wie eine zweite Mutter für uns: Sie hat uns Kochen und | |
Bügeln beigebracht, unsere Socken gestopft und uns eingebläut, wir sollten | |
uns niemals für unsere Periode schämen oder von einem Mann abhängig sein. | |
Seit fast zehn Jahren hat Marika Stylianou [1][Alzheimer], heute ist sie 84 | |
Jahre alt. Die Erkrankung kam zunächst schleichend, anfangs haben wir noch | |
gewitzelt, wenn sie uns die gleiche Frage mehrfach stellte, und eine | |
Zeitlang konnte sie mitlachen. In den ersten Jahren nach der Diagnose | |
konnte sie ihren Alltag immer noch größtenteils allein bewältigen, aber | |
irgendwann fiel auf: Sie kann nicht mehr kochen, weil sie den Gasherd | |
anmacht, ihn vergisst und dann im Garten verschwindet; kann ihr Haus nicht | |
selbst putzen, weil sie sich nicht mehr erinnert, was sie sich vor fünf | |
Minuten vorgenommen hat. | |
Als sie während [2][Corona] 2021 eine Blutkrebs-Diagnose bekam und dann ein | |
halbes Jahr Chemotherapien machte, wurde auch ihre Alzheimererkrankung | |
schlimmer. Mittlerweile weiß sie nicht mehr, worüber wir in der vergangenen | |
Minute gesprochen haben. Wenn wir im Sommer abreisen, vergisst sie am | |
nächsten Tag, dass wir je dagewesen sind. Sie in diesem Zustand in Zypern | |
zurückzulassen, ist besonders für meine Mutter belastend – aus der Ferne | |
nicht mehr tun zu können, als anzurufen. Der Alzheimer hat meine Oma | |
verwirrt: Seit Jahren weiß sie einfach nicht mehr wirklich, in welchem Jahr | |
wir leben, welchen Wochentag und Monat wir gerade haben. | |
Heute ist Donnerstag, der 11. Juli 2024 – das steht groß auf einem | |
Whiteboard neben dem Eingang des Ithaki-Zentrums, das wir nach einer | |
vierzigminütigen Fahrt von unserem Dorf nach Nikosia erreichen. Das Ithaki | |
hat meine Familie vor zwei Jahren entdeckt, es ist eine Tagesstätte für | |
Menschen mit Demenzerkrankung. Es liegt in Pallouriotissa, einem zentralen | |
Stadtteil von Nikosia, und ist ein unscheinbares, flaches Haus in einer | |
kleinen Seitenstraße. Auf dem weißen Gebäude ist neben dem Eingang ein | |
mittelgroßes Schild angebracht, auf dem mit Großbuchstaben auf Griechisch | |
steht: „Tagesstätte – für die Unterstützung von Menschen mit Demenz“. | |
Das Ithaki ist eine philanthropische Organisation, es wird getragen von | |
privaten Sponsoren und durch staatliche Zuschüsse unterstützt, die Besucher | |
zahlen lediglich einen Solidaritätsbeitrag von 20 Euro im Jahr. Für die | |
Aufnahme müssen die Teilnehmer vorher ein Demenzattest von einem Neurologen | |
vorweisen und am ersten Tag einen Wissenstest ausfüllen. Je nach Ergebnis | |
werden sie in die Gruppe A oder B eingeteilt – in der letzteren sind | |
Menschen mit vorangeschrittener Demenz. Angepasst an die Gruppe kommen | |
Logopäden, Ergotherapeuten und Musiktherapeuten und machen kleine | |
Unterrichtseinheiten. Sie singen, tanzen, malen, machen Gedächtnis- und | |
Gymnastikübungen mit den Teilnehmern. | |
Um 9.30 Uhr beginnt die erste Unterrichtsstunde, heute sind 16 Menschen mit | |
Demenz gekommen, angemeldet haben sich im Ithaki etwa 30. Die wenigsten | |
kommen täglich. Marika ist mit sechs anderen in der Gruppe B, eine | |
Logopädin erklärt, dass ihr Testergebnis nicht eindeutig war, sie hätte | |
sowohl in die erste als auch in die zweite Gruppe gehen können. Da es | |
Menschen mit Demenz aber oft stressen würde, wenn man sie in Situationen | |
bringe, die überfordern, hätten sie im Ithaki beschlossen, sie in die | |
zweite Gruppe zu stecken. Somit könne sie weiterhin selbstbewusst antworten | |
und würde nicht unnötigem Stress ausgesetzt. | |
Fünf Logopädie-Studentinnen aus Nikosia leiten die erste Stunde, zunächst | |
sollen sich alle vorstellen: Name, früherer Beruf, Ehepartner, Kinder, | |
Enkelkinder. Das sind oft Fakten, an die sich die meisten noch gut erinnern | |
können – aber auch das funktioniert nicht bei allen aus der Gruppe B. In | |
diesem Fall helfen die Studentinnen aus, die jeden Donnerstag im Rahmen | |
eines Praktikums kommen. Die 29-jährige Anastasia erklärt aber: „Wir | |
korrigieren die Besucher nicht, wenn sie uns eine Geschichte aus ihrem | |
Leben erzählen, auch wenn es vorige Woche noch eine andere war. Wir lassen | |
sie reden und begegnen ihnen dabei respektvoll.“ Marika ist in der Gruppe B | |
aufgeweckt, sie freut sich, wenn sie etwas weiß und hat auf vieles eine | |
Antwort. Der Alzheimer hat ihren Charakter kaum verändert, in meiner | |
Erinnerung war sie schon früher sehr quirlig und fröhlich. | |
Stolz stellt sie sich vor: „Ich heiße Marika, komme aus dem wunderschönen | |
Akaki und war mein Leben lang selbstständig! Wisst ihr …“, sie blickt in | |
die Runde, hebt den Zeigefinger, guckt die anderen Teilnehmer nacheinander | |
an – meine Oma war schon immer eine großartige Geschichtenerzählerin – und | |
fährt fort: „… es ist das Beste, selbstständig zu sein, ich war immer mein | |
eigener Chef: Du kannst aufstehen, wann du willst, kannst deinen Tag | |
planen, wie du willst und niemand sagt dir was. Ich bin auf die Felder | |
gegangen, wann ich wollte, bin zurückgekommen, wann ich wollte. Das war | |
toll“, sie strahlt die anderen an, guckt dann verunsichert. „Was sollte ich | |
noch erzählen? Ach ja, meine Kinder. Ich habe drei Kinder, eine Tochter ist | |
nach Deutschland gegangen und dort geblieben. Meine Enkelin, die hier ist, | |
wohnt auch in Deutschland. Ich habe insgesamt sieben Enkelkinder, sechs | |
Mädchen und einen Jungen“, erzählt sie stolz. Die anderen aus der Gruppe B | |
lächeln anerkennend und wünschen ihrer Familie ein langes Leben. | |
Danach stellen sich die anderen vor: Ein älterer Herr war Installateur, ein | |
anderer 40 Jahre lang Psychiater. Eine Dame ist Binnenflüchtling, musste | |
nach der türkischen Invasion im Sommer 1974 in den Süden der Insel | |
flüchten. Meine Oma ist 1940 in Akaki geboren, das heißt, sie hat die | |
letzten Jahre der britischen Kolonialherrschaft erlebt, hat mit vierzehn | |
Jahren zusammen mit den zyprischen Freiheitskämpfern gegen die Engländer | |
auf der Straße protestiert, so wie viele andere Griechen-Zyprioten. Sie war | |
bei der zyprischen Unabhängigkeit 1959 dabei, erlebte den ersten | |
Präsidenten der [3][Republik Zyperns] Makarios, von dem heute eine Statue | |
in unserem Dorf steht. Ein Jahr später hat sie meinen Opa geheiratet und | |
drei Kinder bekommen. | |
1974 – das wohl wichtigste Datum für einen jeden Zyprioten – ist Marika mit | |
ihren Kindern während der [4][türkischen Invasion] in die Berge | |
geflüchtet. Akaki, das Heimatdorf meiner Familie, ist 30 Kilometer von | |
Nikosia entfernt und liegt im Landesinneren. Die Demarkationslinie, die | |
Zypern seitdem teilt, verläuft durch Nikosia und zieht direkt an Akaki | |
vorbei, womit die meisten Felder meiner Großeltern in der Pufferzone | |
liegen. Eines der Nachbardörfer, an das meine Oma sich immer noch lebhaft | |
erinnert und das sie seit 1974 nicht gesehen hat, liegt im annektierten | |
Teil. | |
## Was länger her ist, daran erinnert sie sich problemlos | |
An diese großen, geschichtlichen Ereignisse erinnert sich Marika, wenn man | |
fragt. Alles, was länger her ist, kann sie problemlos nacherzählen. Schon | |
als ich klein war, hat sie mir von ihrer Flucht in das Troodos-Gebirge | |
erzählt und wann immer wir heute nach Troodos fahren, erwähnt sie diese | |
Erinnerung wieder und wieder. Mit einem alzheimerkranken Menschen zu | |
sprechen, kann sehr vorhersehbar sein: Ich weiß, welche Geschichte sie mir | |
gleich erzählen wird, welches Ende dieses Geschichte hat, und ich habe | |
akzeptiert, dass meine Oma sich nie an neue Details aus ihrer Vergangenheit | |
erinnern wird. Meistens ist das okay, aber manchmal habe ich ein schlechtes | |
Gewissen, weil ich genervt von den immer gleichen Gesprächen bin. | |
Wie mit solchen Situationen umgehen? Die Logopädie-Studentin aus dem | |
Ithaki-Zentrum Anastasia meint dazu: „Mit demenzkranken Menschen zu | |
schimpfen, wie man es mit kleinen Kindern tun würde, bringt nichts. Einfach | |
zuhören und nachfragen, wenn man merkt, die Person will erzählen.“ Und wenn | |
es einfach zu viel wird? Dann solle man versuchen, das Gespräch im besten | |
Fall an eine andere Person abzugeben, sagt Anastasia. | |
Meine Oma ist stolz auf ihr Leben, ihre harte Arbeit – jahrzehntelang ist | |
sie täglich frühmorgens zu den Feldern gegangen, um dann auf Märkten ihre | |
Produkte zu verkaufen, auch das erzählt sie oft. Mit dem Tod meines | |
Großvaters vor neun Jahren und der fortgeschrittenen Demenz musste sie die | |
Feldarbeit aufgeben. Seitdem liegen die Felder brach und wenn wir im Sommer | |
kommen, müssen wir Wassermelonen, Bohnen und Gurken selbst kaufen, sehr zum | |
Leidwesen meiner Großmutter. Nur die Olivenbäume sind übriggeblieben. | |
Marika vermisst ihre Selbstständigkeit, der Alzheimer hat sie ihr genommen, | |
selbst wenn sie auch das manchmal vergisst. Meine Verwandten aus dem Dorf | |
kümmern sich um sie, aber seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein. Wenn | |
niemand bei ihr ist, drehen wir die Gasflasche aus, damit sie den Herd | |
nicht benutzen kann. Erst kürzlich hat sie die Mikrowelle für eine halbe | |
Stunde angemacht, was zu einer kleinen Explosion führte. Das hat mir meine | |
Tante erzählt. Meine Oma erinnert sich nicht daran, je eine Mikrowelle | |
gehabt zu haben. | |
Sie in ein Altersheim zu bringen, ist keine Option. Einerseits sind sie in | |
Zypern recht teuer, andererseits möchte sie selbst in ihrem eigenen Zuhause | |
bleiben und meine Familie respektiert diesen Wunsch. Alle sechs Monate | |
überprüft ein Neurologe ihre Hirnleistung, sie nimmt täglich Tabletten | |
gegen die Demenz und seit zwei Jahren hat sich ihre Erkrankung nicht | |
merklich verschlechtert. | |
## Ausländische Hilfskräfte aus Sri Lanka und Indien | |
Sollte sich ihr Zustand verschlechtern – das heißt, könnte Marika nicht | |
mehr selbstständig duschen, essen und sich um den Garten kümmern oder nicht | |
mehr laufen – würde meine Familie die Option wählen, für die sich die | |
meisten zyprischen Haushalte entscheiden: eine ausländische Hilfskraft. Die | |
kommen zumeist aus Sri Lanka oder Indien auf die Insel und bleiben dann | |
24/7 bei den Hilfsbedürftigen. | |
Optimal ist das nicht, denn in der Regel haben diese Menschen keine | |
Ausbildung zur Pflegefachkraft und in den seltensten Fällen sprechen sie | |
Griechisch – letztlich könnten sie sich also nur um körperliche Bedürfnisse | |
kümmern. Auch meine Familie hatte es nach der Krebserkrankung meiner Oma | |
mit einer Frau aus Sri Lanka versucht, doch sobald sie sich von den | |
Chemotherapien erholt hatte, akzeptierte sie die fremde Hilfe nicht mehr. | |
Weil sie oft vergisst, dass sie vergisst, und soweit es geht, eben selbst | |
über ihr Leben bestimmen möchte. So lebt sie weiter allein. | |
Seit meine Tante und mein Onkel sie dreimal die Woche auf dem Weg zu ihrer | |
eigenen Arbeit ins Ithaki bringen, hat sie zumindest vormittags Programm. | |
Paria Nikolaou, die Leiterin der zwei Ithaki-Zentren in Nikosia und | |
Limassol, erklärt, dass es bei der Tagesbetreuung auch um die Entlastung | |
der Familien gehe. „Es ist oft schwer, eine gute Betreuung für Demenzkranke | |
zu bekommen: Einerseits fehlt es Familien an ökonomischen Mitteln und Zeit, | |
andererseits fühlen sich Menschen mit Demenz einsam“, sagt sie. „Wenn sie | |
ins Ithaki kommen, bekommen sie Aufmerksamkeit und können sich mit den | |
anderen unterhalten.“ | |
Die Wände der Tagesstätte sind grün, orange, blau und gelb gestrichen, die | |
Eingangshalle und die zwei Klassenzimmer wirken hell und freundlich, wenig | |
erinnert an einen Ort der Pflege. Das sei bewusst so gehalten, erklärt | |
Nikolaou, sie ist selbst studierte Psychologin. Das Konzept hätten sie von | |
einem Demenzzentrum aus Athen übernommen, hier soll nichts an Altersheim | |
oder Krankenhaus erinnern. „Wenn wir mit den Kunden“ – so nennt Nikolaou | |
die Besucher – „Unterricht machen, vermeiden wir die Wörter ‚Demenz‘ u… | |
‚Alzheimer‘ stets. Manche wissen, dass sie wegen ihrer Vergesslichkeit hier | |
sind, aber wir wollen sie nicht stressen, indem wir sie daran erinnern. | |
Unser Ziel ist, sie stabil zu halten. Ihre Demenz wird sich nicht | |
verbessern und wir werden auch, anders als bei Kindern, keine Lernerfolge | |
sehen“, sagt die 35-jährige Nikolaou. | |
Den längsten „Kunden“ hätte sie sechs Jahre lang im Ithaki-Zentrum in | |
Limassol gehabt, bis er zu krank wurde. „Um das Ithaki besuchen zu können, | |
muss eine Grundmobilität bestehen“, meint Nikolaou. „Wir sind noch nicht so | |
weit, dass wir uns auch um Menschen kümmern können, die nicht mehr mobil | |
sind. Und wenn sie gar nichts mehr verstehen, geht es sowieso nicht.“ | |
Für meine Oma und die anderen geht der Unterricht weiter, nach der | |
Vorstellungsrunde bekommen sie ein Arbeitsblatt mit einem Buchstabensalat. | |
Mit einem Filzstift sollen sie Wörter wie Handy, Blatt, Glas und Aluminium | |
umkreisen, Marika ist als Erste fertig. „Na, welche Note gibst du mir | |
jetzt?“, fragt sie die Studentin Anastasia scherzend. „10 von 10 | |
natürlich!“, bekommt sie als Antwort. Aber nicht alle Teilnehmer sind | |
körperlich so fit wie meine Oma, einige können den Stift nicht allein | |
halten, ein Herr kann sich kaum artikulieren und deutet nur auf die Wörter. | |
Als nächste Übung steht eine Art „Stadt, Land, Fluss“ auf der Tagesordnun… | |
Dem griechischen Alphabet nach sollen die Teilnehmer Wörter zu Name, Tier, | |
Beruf, Sache nennen – während allen noch relativ schnell Namen einfallen, | |
ist vor allem die Sache eine kognitive Herausforderung. Assoziationen | |
funktionieren bei den meisten noch gut, sich aber auf eine konkrete Aufgabe | |
zu konzentrieren, ist für alle schwer – auch für meine Oma. Zum Abschluss | |
der ersten Stunde fragt die Logopädie-Studentin Christina: „Wer kann sich | |
an ein Lied erinnern? Lasst uns singen.“ Zunächst bleibt es stumm, aber | |
weil meine Oma Stille noch nie lange ertragen konnte, fängt sie an, ein | |
wenig schief „Pera stous pera kampous“ („Drüben auf den Feldern“) zu s… | |
– ein altes griechisches Volkslied. Damit zaubert sie ihrer Sitznachbarin | |
ein Lächeln ins Gesicht, die nach einer Zeile langsam mit einstimmt. | |
Gemeinsam singen sie den Refrain, an mehr können sich beide nicht erinnern. | |
Nach dieser ersten Stunde Gehirnjogging kommt eine Pause: Wer möchte, | |
kriegt einen zyprischen Kaffee und Gebäck. Meine Oma lehnt ab, ich erinnere | |
sie an ihr Halloumi-Brot, das ich ihr morgens in die Tasche gepackt habe. | |
Zufrieden beißt sie in das Sandwich. | |
Schließlich gibt es nochmal eine Stunde Gedächtnistraining, auch hier fragt | |
die junge Lehrerin als erstes: „Wer kann mir Datum und Wochentag nennen?“ | |
Niemand antwortet, also schreibt sie es an die Tafel. „Wir haben halt nicht | |
das gleiche Alter wie du, wir vergessen ab und zu“, scherzt meine Oma. Das | |
sei nicht schlimm, versichert ihr die Logopädin, dafür sei sie schließlich | |
da. Danach sollen die Teilnehmer ihr Synonyme zu den Verben und Nomen an | |
der Tafel nennen. | |
Zum Abschluss der Vormittagsbetreuung haben alle Musikunterricht mit einer | |
Musiktherapeutin. Es läuft eine alte CD von Giannis Poulopoulos – einem | |
griechischen Sänger, der vor ein paar Jahren im Alter von 79 gestorben ist. | |
Die meisten hier kennen die Lieder aus ihrer Jugend, ein älterer Herr | |
stellt sich in die Mitte des Raums und tanzt langsam zu der Musik. Er | |
schnipst dabei schwach mit den Fingern und versucht, die sich | |
überkreuzenden Schritte von griechischen Volkstänzen nachzuahmen, während | |
er sich immer wieder gemächlich um seine eigene Achse dreht. Er hat die | |
Augen halb geschlossen und scheint nur so halb im Hier und Jetzt zu sein. | |
Den Vormittag mit einer Gruppe von Menschen mit Demenz zu verbringen, war, | |
als hätte jemand die Zeit verlangsamt. Alles ist schleichender passiert, | |
vieles hat sich wiederholt. Die teils leeren Blicke zu sehen, die kaum | |
verstehen, hat mich unangenehm berührt; Angst vor dem eigenen Altern habe | |
ich jedoch – zumindest noch – nicht. Aber das mag auch daran liegen, dass | |
ich noch keine 30 bin. | |
Um 12.30 Uhr neigt sich der Schultag seinem Ende zu, die Teilnehmer werden | |
nach und nach von ihren Verwandten abgeholt und auch meine Oma möchte | |
gehen, sie ist müde geworden. Wir verabschieden uns, und Marika versichert | |
allen, dass sie erst mal nicht mehr ins Ithaki kommen wird, weil sie jetzt | |
Gesellschaft hat. Ich freue mich zu sehen, dass sie gerne ins Ithaki geht | |
und mit anderen redet. Und ich freue mich, dass wir die nächsten drei | |
Wochen zusammen verbringen werden. | |
Auch wenn ich vor dem Moment Angst habe, in dem sie unsere Namen vergessen, | |
und nicht mehr wissen wird, wer die Fremden aus Deutschland sind. | |
8 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anna Flörchinger | |
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