# taz.de -- Britische Küstenstadt Brighton: Der fantastische Pier | |
> Der West Pier der englischen Küstenstadt Brighton ist seit Langem eine | |
> Ruine. Die Geschichten über die berühmte Seebrücke prägen die Stadt bis | |
> heute. | |
Bild: Schon 1992 sah der West Pier ziemlich mitgenommen aus | |
Still und einsam steht es im Wasser. Ein schwarzes Stahlskelett, ominös und | |
mitleiderregend zugleich. Der Steg des „Piers“, wie Seebrücken in der | |
englischen Sprache heißen, existiert nicht mehr. Die Verbindung zum | |
Festland ist somit gekappt, bis heute konnte der West Pier in der | |
englischen Südküstenstadt Brighton nicht mehr wiederaufgebaut werden und | |
vegetiert als Ruine vor sich hin. | |
Ist es ein Mahnmal oder ist es Nostalgie? Welche Funktion kann er | |
eigentlich in diesem Zustand noch haben? Es ist bezeichnend, dass man sich | |
in Brighton nie endgültig vom Pier trennen konnte, zu emotional ist das | |
Thema besetzt. Zwei Brände und mehrere Herbststürme mit Sturmfluten | |
zerstörten in den 2000er Jahren das wohl bedeutendste Wahrzeichen der | |
Stadt. | |
Erbaut wurde der West Pier nach Entwürfen von Eugenius Birch im Jahr 1866. | |
Da hatte sich Brighton schon längst einen gewissen Ruf erworben. Maßgeblich | |
dafür verantwortlich war King George IV., noch als Prinz kaufte er im Jahr | |
1786 ein Landhaus in Brighton und kam seitdem oft und gern an die Küste. | |
Später ließ George hier auch den opulenten Royal Pavilion bauen. Ein | |
Meisterwerk der Exzentrik, groß wie ein Schloss, das dank eines | |
ausgeprägten Hangs zum fantasievollen Orientalismus wie aus einem Märchen | |
aus 1.001 Nacht entsprungen wirkt. Noch heute können Touristen den Pavilion | |
bestaunen. | |
## Ein feierwütiger König | |
George hatte es faustdick hinter den Ohren, er brachte nicht nur seinen | |
Hofstaat mit nach Brighton, sondern auch seine wechselnden Geliebten. Das | |
„Dirty Weekend“, das „schmutzige Wochenende“ war geboren, es ging in den | |
englischen Sprachgebrauch ein. Und sie folgten ihm, die Aristokraten, die | |
Reichen und Schönen, verlustierten sich auch nach Georges Tod in Brighton, | |
und natürlich auch am und auf dem West Pier, der, wenn er überfüllt war, | |
die ungezählten Menschen zu einer homogenen Masse werden ließ und die | |
Klassenunterschiede einebnete. | |
Hier waren eigentlich alle gleich, Urlauber und Bewohner, die auf dem Pier | |
erst die Seele baumeln und dann die Blicke schweifen ließen. Der Pier war | |
Verlockung und Verheißung, nahm man ihn in der Ferne wahr, wurde ganz | |
automatisch der Vergnügungsmodus eingeschaltet, der manchmal auch den | |
Verstand aussetzen ließ. Ein Bauwerk so exzentrisch wie manche Engländer. | |
Ein literarisches Denkmal setzte dem West Pier der Autor Patrick Hamilton | |
in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1951, der die Zeit nach dem | |
Ersten Weltkrieg behandelt. Damals, als sich Orientierungslosigkeit | |
breitgemacht hatte und das ungute Gefühl, dass nichts mehr so sein würde | |
wie früher; die USA hatten das Königreich als größte Wirtschaftsmacht | |
abgelöst und [1][das britische Kolonialreich] zeigte erste Risse, die von | |
seinem baldigen Zusammenbruch kündeten. Der Pier bot den Menschen eine | |
willkommene Kontinuität. | |
Doch ist „The West Pier“ natürlich kein heiterer Sommerroman. Patrick | |
Hamilton war ein mit reichhaltigem emotionalem Ballast behafteter Autor, | |
der, wie auch schon seine Eltern, alkoholkrank war. Er starb 1962 an | |
Leberzirrhose. Happy Ends gibt es in seinen Büchern so gut wie nie. | |
Schonungslos demontiert Hamilton seine Protagonisten in den Nachwehen des | |
Ersten Weltkriegs, bis sie fast satirische Züge annahmen. | |
## Ein „Schlachtschiff im Kampf der Geschlechter“ | |
Hamilton war 1904 im unweit gelegenen Hassocks zur Welt gekommen. Zwischen | |
seinem Geburtsort und dem Wasser lagen aber noch einige Kilometer. Dann zog | |
seine Familie an die Küste, in den einst eigenständigen Brightoner | |
Stadtteil Hove, der sich vielleicht immer ein wenig für etwas Besseres | |
hielt. Gediegene viktorianische Bauten, kunstfertig restauriert und in | |
hellstem Weiß jungfräulich strahlend, zeugen noch heute vom Reichtum Hoves. | |
Von London ist Brighton nur 75 Kilometer und eine gute Stunde Bahnfahrt | |
entfernt, und für seine vergnügungssüchtigen Bewohner, George IV. mentale | |
Nachfahren, ist es bis heute eine ewige Partymeile, ein hedonistisches | |
Vergnügen, und immer ist alles ein wenig too much. Bis sich am Sonntag das | |
lange und schmutzige Wochenende so langsam dem Ende zuneigt, der Rausch | |
aber noch nicht so ganz, den manche vielleicht sogar am Strand | |
ausgeschlafen haben. Das ist allerdings eine eher ungemütliche Sache, weil | |
der Strand in dieser Gegend aus Kieselsteinen besteht. | |
Zum Feiern am Dirty Weekend gehört für viele auch das Ritual des „Getting | |
off“ wie Hamilton es bezeichnete (in etwa: die Anbahnung von Kontakten | |
zwischen den Geschlechtern). Für Hamilton, der zudem große Probleme mit dem | |
weiblichen Geschlecht hatte, war der West Pier ein „Schlachtschiff im Kampf | |
der Geschlechter“. | |
So hatte er ihn sehr treffend im ersten Teil seiner Gorse-Trilogie | |
beschrieben, die nach dem Antihelden der Bücher benannt ist, dem eis- und | |
gefühlskalten Psychopathen Ralph Ernest Gorse. Er war in Sachen | |
Hochstapelei unterwegs, suchte sich stets am West Pier sein nächstes Opfer, | |
umgarnte und manipulierte es, dann nahm er es völlig emotionslos aus, bis | |
vom Ersparten der bedauernswerten Dame nichts mehr übrig blieb. Und den | |
netten jungen Mann, mit dem sie ebenfalls angebändelt hatte, bekam sie | |
natürlich auch nicht, weil Gorse mit anonymen Briefen einen fiesen Keil | |
zwischen die beiden getrieben hatte. | |
Auf dem Pier flanierten nicht nur die Antihelden dieses Romans, sondern | |
auch in der Realität diejenigen, die sich dem „Getting off“ verschrieben | |
hatten, untermalt vom scheppernden Lärm der Spielautomaten. Wie immer | |
schwieg der Pier und dachte sich sein Teil. In seiner würdevollen Postur | |
schien er immer ein wenig mehr zu wissen als die ahnungslosen Flaneure, die | |
in ihrer Partnerwahl mitunter keine sehr glückliche Hand bewiesen. | |
So wie zum Beispiel die bedauernswerte Violette Kaye, eine Protagonistin | |
aus der realen Kriminalgeschichte Brightons. 1934 fand man ihre | |
Leichenteile in einem großen Koffer im Schließfach des Bahnhofs von | |
Brighton, was als Trunk Murder in die Geschichte einging. Es war nicht der | |
einzige Mord in Brighton, bei dem das Opfer in einem großen Koffer am | |
Bahnhof endete. Dunkle Schatten über der Stadt, Mord und Totschlag | |
verdunkelten so auch den schönsten Sonnenuntergang am Pier. | |
## Ein spätes Geständnis | |
Violette Kaye war Tänzerin, die auch als Prostituierte gearbeitet hatte, | |
sie wurde als letztes zusammen mit ihrem Freund Tony Mancini, im Café | |
Skylark gesehen, wo er als Kellner arbeitete. Dabei hatten sie sich sehr | |
lautstark gestritten. Als man dann ihre Leichenteile fand, fiel der | |
Verdacht sofort auf Mancini, der alles abstritt und in der | |
Gerichtsverhandlung schließlich freigesprochen wurde. Erst viele Jahre | |
später gab er den Mord zu, um das Geständnis kurz darauf wieder | |
zurückzunehmen. Ein notorischer Kleinkrimineller mit einem Hang zur Gewalt, | |
die schließlich in einer entfesselten Mordtat im Affekt endete. | |
Die Nähe zu London war für harmlosere Großstadtkriminellem sowieso | |
traditionell sehr verlockend, um ein paar Tage unterzutauchen, vor allem in | |
der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Filmklassiker „Brighton Rock“ | |
(1948) nach dem Roman von Graham Greene erzählte genau so eine | |
Gangstergeschichte, bei der es zum tödlichen Showdown am Pier kam, diesmal | |
jedoch am Palace Pier, der 1899 eröffneten zweiten großen Seebrücke | |
Brightons. Die hatte mehr Glück als ihr westlicher Rivale, ist ein würdiger | |
Nachfolger, und bietet Amüsierwilligen heute einen ganzen Vergnügungspark | |
auf Stelzen, inklusive Achterbahn, Spielhöllen und Restaurants. | |
Der Lauf der Dinge ändert sich nie, und noch immer flanieren Urlauber am | |
Strand von Brighton, nehmen den Palace Pier in Beschlag, wenig wissend über | |
die fiktiven und realen Geschichten des dunklen Brighton. Auf dem West Pier | |
sind die Lichter schon lange erloschen. | |
12 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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