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# taz.de -- Krawalle in Großbritannien: Tote Mädchen als Machtinstrument
> In Großbritannien marodieren nach einem Mord an drei Mädchen
> rechtsextreme Mobs. Incels und Rechte motiviert eine diffuse ideologische
> Mischung.
Bild: Hauptsache Zerstörung: Demonstrant*innen vor dem Holiday Inn in Rotherham
Berlin taz | Was [1][am Wochenende in Großbritannien passiert ist], zählt
zu den brutalsten rechtsextremen Ausschreitungen im Großbritannien der
Nachkriegszeit. Seit Tagen marodieren Mobs aus organisierten Neonazis und
Wutbürger*innen durch zahlreiche britische Städte, [2][verüben Angriffe
auf Moscheen und Geflüchtetenunterkünfte] und schaffen eine Atmosphäre
absoluter Angst, vor allem für muslimisch gelesene Menschen.
Als Legitimation für diese pogromartige Gewalt wird [3][der Mord an drei
Mädchen in der Küstenstadt Southport] im Nordwesten Englands am 29. Juli
herangezogen. Der 17 Jahre alte Täter drang in die Räumlichkeiten einer
Tanzschule ein, wo gerade ein Taylor Swift-Tanzkurs stattfand, und tötete
die sechsjährige Bebe King und die sieben Jahre alte Elsi Dot Stancombe. Er
verletzte neun weitere Kinder und zwei Erwachsene, die sich schützend vor
die Schüler*innen stellten. Die neunjährige Alice Dasilya Aguiar
verstarb im Krankenhaus.
Bereits kurze Zeit nach dieser Tat haben Mitglieder der besonders ekligen
Orte im Internet den dreifachen Mord zelebriert. Auf Incel-Foren wird der
Mörder bereits als „neuer Heiliger“ gehandelt. Die Kommentare lauten
beispielsweise: „[4][Taylor Swift-Fans] sind alle Feministinnen, also ist
das toll“, oder „Komplettes Lifefuel [Incel-Jargon für „Lebenselixier“…
„Das werden sicher Huren, die, wenn sie aufwachsen, das Schwanzkarussell
reiten und Incels hassen“.
Wie kaum eine andere kontemporäre Künstlerin steht Taylor Swift für
weibliche Selbstbestimmung – und ist damit Hassobjekt von misogynen Männern
in aller Welt. Auf Incel-Foren, dem Imageboard 4chan und auf dem von
Menschenfeinden frequentierten Troll-Forum Kiwi Farms amüsieren sich User
nicht nur über den dreifachen Kindsmord, das Leid der Angehörigen und der
Community von Southport, sondern auch darüber, dass der Täter
Migrationshintergrund hat.
Viele User dieser Foren zeichnen sich durch extremen Zynismus und
voyeuristische Freude an Gewalt aus. Seitdem bekannt ist, dass der Täter
nicht weiß ist, erwarten Mitglieder dieser Online-Echokammern händereibend
rassistische Ausschreitungen.
## Empathie ist ihnen fremd
Empathie mit den Mordopfern und den Angehörigen oder Angst um als
muslimisch gelesene Brit*innen ist ihnen fremd. Bereits am Tag des Mordes
folgte auf eine friedliche Mahnwache eine rechtsextreme Demonstration, bei
der laut Angaben der antifaschistischen Britischen NGO „Hope Not Hate“ über
60 Polizeibeamt*innen verletzt worden sind.
Die Demonstrierenden machten deutlich, dass sie kein Interesse an einer
pietätvollen Trauerveranstaltung hatten: rassistische Sprechchöre und
Skimasken prägten die Veranstaltung, die der Auftakt zu einem Wochenende
voller rassistischer Hetze und Gewalt war. Die Demonstrationen sind ein
ideologischer Mischmasch aus Muslimfeindlichkeit und einem generellen
diffusen Hass auf „die da oben“.
Unterfüttert wird der Hass [5][von einer Flut an Desinformationen], gepusht
unter anderem durch rechtsextreme Akteur*innen wie den Neonazi Tommy
Robinson, den frauenverachtenden Influencer Andrew Tate oder
Vertreter*innen von faschistischen Gruppen wie der Patriotic
Alternative. Sie behaupten fälschlicherweise, der Mörder der drei Mädchen
sei Migrant und Muslim gewesen. Dies stimmt beides nicht – er ist Brite und
auch nicht muslimisch.Obwohl der Täter minderjährig ist, wurde seine
Identität von rechten Gruppen publik gemacht.
Die aufflammenden Proteste sind lose und über Telegram organisiert. In der
inzwischen privaten Telegram-Gruppe „Southport Wakes Up“ organisieren knapp
15.000 User*innen Aktionen, vernetzen sich und teilen rechtsextreme
Propaganda, darunter Videos und Bilder des Attentats von Christchurch.
## Muslimfeindliche Fake News
Ein Post verherrlicht den Rechtsterroristen, der 55 Muslime ermordet hat,
als „weiße Legende“, darunter steht „Fuck Islam, fuck Jews, 1488“ –
letzteres ein rechtsextremer Zahlencode, der für die „14 Words“ [eine
Chiffre für den von dem US-amerikanischen Neonazi David Eden Lane geprägten
Satz „We must secure the existence of our people and a future for white
children“] und „Heil Hitler“ steht.
Immer wieder werden die Chats, aber auch Plattformen wie Tiktok und Twitter
mit muslimfeindlichen Falschnachrichten geflutet, um die Empörung am Laufen
zu halten: Muslime hätten einen Pub angezündet oder Demonstranten mit einem
Messer angegriffen.
Auch deutschsprachige rechtsextreme und verschwörungsideologische
Telegram-Gruppen verbreiten die rassistische Propaganda aus Großbritannien.
Die Intention ist eindeutig: auch in Deutschland soll eine ähnliche
rassistische Stimmung wie im Vereinigten Königreich angefacht werden.
## Klima der Verrohung
Rassist*innen brauchen keine Gründe oder Legitimation für ihren Hass.
Reaktionäre menschenfeindliche Ideologien sind nicht rational. Rassismus
ist eine Ideologie und ein Instrument der Abwertung, Ausbeutung und
Herrschaft von und über nichtweiße Menschen. Dass diese Ausschreitungen
aber gerade jetzt auftreten, ist in das aktuelle politische und
gesellschaftliche Klima einer allgemeinen Verrohung einzuordnen.
Weltweit [6][erstarken faschistische Kräfte], und die Krisen des
Spätkapitalismus artikulieren sich regelmäßig in beispielsweise
Sozialchauvinismus oder Geflüchtetenfeindlichkeit, in der Illusion, durch
Ausgrenzung von Schwächeren den eigenen kleinen „Wohlstand“ verteidigen zu
können.
Influencer*innen, die Menschenfeindlichkeit zu ihrem Geschäft gemacht
haben, radikalisieren bereits Jugendliche. Kurz: die rassistische
Propaganda rechtsextremer Akteur*innen trifft gerade auf einen extrem
fruchtbaren Boden.
## Misogyne Ideologie
Die drei ermordeten Mädchen könnten den rassistischen Mobs egaler nicht
sein – es handelt sich hier um Menschen, deren politische Ideologie
grundlegend misogyn und antifeministisch ist. Aber gerade so etwas
Entsetzliches wie der Mord an drei Kindern lässt sich ganz hervorragend
instrumentalisieren, um gesellschaftlich ohnehin omnipräsente rassistische
Ressentiments zu befeuern und Menschen zu radikalisieren, auf dass sie sich
von gefestigten Neonazis mitreißen lassen.
Auch in Deutschland passiert dies immer wieder: sobald der Täter eines
Femizids oder einer Vergewaltigung nicht weiß ist, wird dieser Akt für
xenophobe Stimmungsmache genutzt. [7][Patriarchale Gewalt] wird so
ethnisiert, also auf eine nichtweiße Bevölkerungsgruppe verschoben.
Dies soll ganz bewusst verschleiern, dass der mit Abstand größte Teil von
patriarchaler Gewalt im Nahumfeld verübt wird: Familienmitglieder,
Ehemänner, Arbeitskollegen, Freunde, dass sich patriarchale Gewalt durch
alle Gesellschaftsschichten zieht. Sie ist nicht migrantisch, sie ist
männlich.
## Beispiellose Gewaltwelle
Konkret artikuliert sich dieses „Mitreißenlassen“ [8][in antimuslimischer
Gewalt über das ganze Land hinweg]: Liverpool, Stockton, Manchester und
Bristol sind nur vier von vielen Städten, die momentan von einer
beispiellosen Welle an Gewalt überzogen werden.
Eingeschlagene Fensterscheiben, angezündete Autos, rassistische
Beleidigungen, Angriffe auf Häuser und Wohnungen in multikulturellen
Vierteln, Plünderungen – weiße, rassistische Brit*innen legen genau das
gleiche „unzivilisierte“ Verhalten an den Tag, das sie Migrant*innen
regelmäßig vorwerfen und das sie behaupten, eindämmen zu wollen.
In der Stadt Middlesborough wurde eine Gruppe Männer gefilmt, die die
Fahrenden von Autos darauf überprüften, „weiß und englisch“ zu sein. In
Sunderland im Nordosten von England haben Demonstrierende die
Räumlichkeiten einer Hilfsorganisation für bedürftige Menschen in Brand
gesetzt.
In Hull, einer Stadt nahe Yorkshire, mündete eine rechtsradikale
Demonstration in dem Angriff auf ein Hotel, in dem Geflüchtete
untergebracht worden sind; die Situation artete in eine Straßenschlacht mit
der Polizei aus. Am 4. August attackierten die Teilnehmenden der
rechtsextremen Krawalle zudem in Rotherham ein Hotel, in dem Geflüchtete
leben.
Die Szenen wecken erschreckende [9][Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen]:
ein rassistischer, von der eigenen Gewalt besoffener Mob, der Fenster und
Türen einschmeißt, durch die Räumlichkeiten marodiert, rassistische Parolen
an die Wände sprüht, versucht, das Gebäude in Flammen zu setzen, mit
Stühlen, Zaunlatten und Feuerlöschern auf Polizeibeamt*innen losgeht.
Zu dem Zeitpunkt befanden sich 250 Geflüchtete in dem Hotel. Auch in
Tamworth warfen Rassist*innen die Scheiben eines Holiday Inn Express,
das als Unterkunft für Asylsuchende genutzt wird, ein und versuchten, mit
Molotowcocktails Brände zu legen, sprühten rechtsradikale Parolen an die
Wände. Es ist Glück, dass bisher niemand ums Leben gekommen ist.
## Faschistische Kräfte mobilisieren
Faschistische Kräfte mobilisieren in Großbritannien konstant weiter, die
Bedrohungslage bleibt bestehen. Wie der Journalist Mark Chadbourn
berichtet, hat die Polizei in Liverpool Bewohner*innen angewiesen, zu
Hause zu bleiben und die Türen zu verriegeln, Geschäfte sind geschlossen.
Im ganzen Land herrscht Ausnahmesituation – und drei Mädchen werden für
diese beispiellose Gewalt instrumentalisiert. Die britische Regierung unter
dem Labour-Ministerpräsidenten Keir Starmer hat unterdessen versprochen,
dass die Täter mit „harten Strafen“ rechnen müssten.
Wie üblich bei rassistischen Pogromen sind es Antifaschist*innen, die sich
für den Schutz migrantisierter Menschen und der Bewohner*innen der
durch die Krawalle zerstörten Straßen einsetzen. In vielen Städten kam an
den Tagen nach der rassistischen Ausschreitungen die Community zusammen, um
aufzuräumen und sich gegenseitig Solidarität und Kraft zu spenden. Und dies
ist in derart verrohten Zeiten eines der wichtigsten Dinge überhaupt.
7 Aug 2024
## LINKS
[1] /Rechter-Mob-in-Grossbritannien/!6025254
[2] /Nach-Messerangriff-in-Grossbritannien/!6025036
[3] /Nach-Messerangriff-in-England/!6027295
[4] /Taylor-Swift-in-Deutschland/!6020670
[5] /Rechtsextreme-in-England/!6027344
[6] /Rechtsextreme-Parteien/!5998293
[7] /Gewalt-gegen-Frauen-und-Queers/!5884540
[8] /Rechtsextreme-Krawalle-in-England/!6027706
[9] /30-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5874650
## AUTOREN
Veronika Kracher
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