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# taz.de -- Rechte Krawalle in Großbritannien: „England braucht Einwanderung…
> Warum richteten sich die Ausschreitungen in England gegen Flüchtlinge und
> Muslime? Die Soziologin Aleksandra Lewicki macht die Politik
> verantwortlich.
Bild: 3. August in Manchester: Rechte demonstrieren gegen Einwanderung
taz: Frau Lewicki, [1][in England sind vorige Woche Tausende Menschen gegen
Rassismus auf die Straße gegangen]. Sie auch?
Aleksandra Lewicki: Ja, ich wohne in Brighton, das ist ein sehr
alternativer und progressiver Ort. Es gibt einige solcher Inseln in
Großbritannien. Dort hat die aktuelle rechtsextreme Mobilisierung wenig
Chancen, weil der antirassistische Widerstand so groß ist.
taz: Was hat zu den [2][rassistischen Ausschreitungen] der vergangenen
Woche geführt?
Lewicki: Das hatte mehrere Gründe. Zum einen haben die großen Volksparteien
in den vergangenen Jahren zunehmend extrem rechte Positionen zur
Einwanderung vertreten – vor allem die Konservative Partei, die 16 Jahre an
der Regierung war. Sie glaubte, so die rechtspopulistische Mobilisierung
aushebeln und deren Milieus absorbieren zu können. Tatsächlich wurden
rassistische Diskurse dadurch legitimiert. Die ehemalige britische
Innenministerin, Suella Braverman, sprach etwa von einer „Invasion“ von
Flüchtlingen und forderte, dass Großbritannien aus der Europäischen
Menschenrechtskonvention austritt.
taz: Aber warum kam es gerade jetzt, [3][nach dem Mord an drei Mädchen in
der Stadt Southport], zu einem solchen Ausbruch der Gewalt?
Lewicki: Hinter den Unruhen stehen vernetzte Akteure, die gerade ein
Momentum verspüren. Das Gerücht, der Mörder von Southport sei als
Flüchtling auf einem aufblasbaren Boot nach Großbritannien gekommen, wurde
von rechtsextremen Agitatoren wie Tommy Robinson verbreitet, die in den
sozialen Medien über sehr große Reichweite verfügen, und Elon Musk hat das
verstärkt. Das sind Leute, die auch finanziell davon profitieren, dass eine
polarisierende Debatte eskaliert. Hinzu kommt, dass Großbritannien in einer
tiefen Krise steckt. Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen, und es
wird immer deutlicher, dass die Versprechen des Brexits nicht eingelöst
werden.
taz: Welche Erwartungen hat der Brexit enttäuscht?
Lewicki: Der Brexit kam mit dem Versprechen, dass es möglich und
wünschenswert wäre, die Einwanderung einzudämmen. Politiker der
Konservativen Partei wie Boris Johnson wussten, dass das ein falsches
Versprechen war. Aber er konnte damit Karriere machen und sogar
Premierminister werden.
taz: Warum war das ein falsches Versprechen?
Lewicki: Großbritannien braucht Einwanderung. Der Bausektor oder die
Landwirtschaft sind so stark von prekären Jobs geprägt, dass sie nur
funktionieren, wenn sie Arbeiter finden, die bereit sind, sich auf Zeit
beengte Unterkünfte zu teilen und dann wieder in ihre Heimatländer
zurückkehren. Die britischen Unis sind auf ausländische Studierende
angewiesen, die höhere Studiengebühren zahlen. Und nach der russischen
Invasion in die Ukraine haben viele Briten aus Solidarität Geflüchtete bei
sich zu Hause aufgenommen. Darum sind die Einwanderungszahlen nicht
zurückgegangen, sondern sogar gestiegen.
taz: Die Debatte konzentriert sich vor allem auf die wenigen Flüchtlinge,
die per Boot über den Ärmelkanal übersetzen. Deren Zahl hat auch
zugenommen. Warum?
Lewicki: Eine Ironie des britischen Austritts aus der EU ist, dass
Großbritannien die Menschen, die aus einem EU-Land dort ankommen, nun nicht
mehr in dieses abschieben kann. Die direkte Einreise über die EU wurde
erschwert, was dazu führt, dass Asylsuchende jetzt gefährlichere Routen auf
sich nehmen. Statt weniger treten deshalb nun mehr Menschen die Reise über
den Ärmelkanal an.
taz: Die Ausschreitungen richteten sich nicht nur gegen Flüchtlinge,
sondern auch gegen alteingesessene Muslime. Dabei sind Muslime in
Großbritannien etablierter und sichtbarer als anderswo in Europa, sie
genießen auch mehr Rechte. Großbritannien schien deshalb lange das am
wenigsten islamophobe Land in Europa zu sein. War das ein Trugbild?
Lewicki: Mit seiner Kolonialgeschichte hat Großbritannien den
antimuslimischen Rassismus eher miterfunden. Einwandernde aus dem
britischen Commonwealth hatten zunächst mehr politische Rechte, das stimmt,
und die muslimischen Communitys waren daher schon früher politisch sichtbar
als in Deutschland. Die antirassistische Bewegung ist deshalb stärker. Aber
die Politik der vergangenen Jahre hat den antimuslimischen Rassismus
verstärkt.
taz: Inwiefern?
Lewicki: Die britische Migrationspolitik besteht seit etwa zehn Jahren zu
einem guten Teil darin, die Gesellschaft einzubinden: Beschäftigte im
Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungssystem sind beauftragt, die Papiere
von Einwanderern zu überprüfen und ihre Augen für frühe Anzeichen einer
Radikalisierung offenzuhalten. Die Kriterien, die dafür herangezogen
werden, sind teilweise sehr fragwürdig: dass sich ein Mann einen Bart
wachsen lässt, oder sich jemand mit Palästina solidarisiert. Das hat eine
Kultur des Misstrauens befördert.
taz: Es gab in Großbritannien mehrere islamistische Anschläge. Dennoch
haben sie keine vergleichbaren Reaktionen hervorgerufen wie jetzt. Warum?
Lewicki: Die Hasskriminalität hat nach jedem islamistischen Anschlag
zugenommen. Nach den Bombenanschlägen von 2005 wurden zudem
Präventionsprogramme mit großen Budgets aufgelegt. Migrantenorganisationen,
Stadtverwaltungen und Kommunen haben viel Geld bekommen, um
Radikalisierungsprävention zu betreiben. Das hat den antimuslimischen
Rassismus institutionalisiert. Wenn der Bevölkerung offiziell angetragen
wird, gegenüber Muslimen wachsam zu sein, prägt das deren Wahrnehmung.
An der Südostküste Großbritanniens, wo ich wohne, hat die letzte Regierung
außerdem die Anwohnerinnen aufgefordert, nach verdächtigen Booten Ausschau
zu halten. Das Projekt wurde „Kraken“ genannt – nach diesem Seemonster, d…
aus dem Meer kommt und Seefahrer verschluckt. Einige rechtsextreme Akteure
nehmen das sehr ernst und treiben es ein bisschen weiter. Zum Beispiel
stellen sie sich an den Ärmelkanal und filmen mit ihren Handys, wenn Boote
ankommen, um die vermeintliche Invasion zu dokumentieren. Diese
rassistische Eskalation der Gewalt ist nicht vom Himmel gefallen. Ihr geht
schon lange eine bestimmte Rhetorik und ein Handeln voraus.
taz: London [4][hat einen muslimischen Bürgermeister]. In welcher
Hauptstadt in Europa gibt es das sonst?
Lewicki: London ist sehr weltoffen und hat eine große Kulturszene. Sadiq
Khan steht für diese diverse Stadt und er spricht Themen wie die Klimakrise
und ihre Auswirkungen auf die Stadt offen an. Aber die früheren
Industriestädte im Norden haben stark unter der Deindustrialisierung und
dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft gelitten. Viele Betriebe wurden
geschlossen oder haben ihre Produktion nach Osteuropa ausgelagert. Die
daraus entstandenen Probleme lassen sich kaum durch eine restriktivere
Einwanderungspolitik lösen, wie Nigel Farage und andere versuchen uns
weiszumachen.
taz: Es gab jetzt Brandanschläge auf Hotels, in denen Asylsuchende
untergebracht sind: Das erinnerte an Rostock-Lichtenhagen.
Lewicki: Diese Radikalisierung macht mir große Sorgen. An den
Ausschreitungen haben sich auch sehr junge Leute beteiligt. Sie sind unter
Tory-Regierungen aufgewachsen und empfänglich für die Ängste, die da
artifiziell geschürt wurden, und haben die Rolle des vermeintlichen Opfers
verinnerlicht, die ihnen Agitatoren wie Farage andichten. Die behaupten
jetzt, die Polizei würde viel brutaler gegen Rechtsextreme vorgehen als
gegen andere Gruppen, etwa damals gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung.
Das stellt die Tatsachen auf den Kopf, zumal sich die friedlichen Proteste
damals explizit gegen Polizeigewalt richteten.
Das Feindbild, das zum [5][Brexit] geführt hat, waren die Einwanderer aus
Osteuropa?
Das war auf jeden Fall ein großes Thema. Im Zuge der EU-Osterweiterung 2004
hat Großbritannien aus Eigeninteresse seinen Arbeitsmarkt sofort für die
neuen EU-Bürger aus den neuen Mitgliedsländern geöffnet, während
Deutschland dafür eine siebenjährige Übergangsphase vorsah. Diese
Entscheidung der Labour-Regierung hat der Wirtschaft genutzt. Sie wurde
aber später von der Konservativen Partei als Dammbruch dargestellt, um an
die Macht zu kommen und den Brexit zu fordern. Die rechtspopulistische UKIP
war vor allem euroskeptisch, hat aber immer auch dezidiert antimuslimische
Töne angeschlagen.
Beim Brexit-Referendum stand 2016 dann die Fluchtmigration aus Syrien im
Fokus?
Ja. Der „Sommer der Migration“ und die Menschen, die in großer Zahl auf dem
Landweg nach Europa kamen, waren da ein großes Thema – auch wenn die
britische Regierung damals eher kleine Kontingente von Asylsuchenden
aufnahm. Mit dem Referendum gab es dann aber einen sehr großen Anstieg an
Hassverbrechen und Gewalt gegen muslimische, schwarze und teilweise auch
osteuropäische oder jüdische Menschen.
taz: Sie sind Rassismusforscherin. Ist es nicht ernüchternd, dass das
Bewusstsein für das Problem, zu dem man forscht, wenig verbreitet zu sein
scheint?
Lewicki: Nein. Jedenfalls bin ich nicht überrascht, dass sich wenig ändert,
auch wenn wir das Problem immer wieder ansprechen. Rassismus erfüllt ja
immer eine bestimmte Funktion. Ein Sündenbock lenkt von anderen Problemen
ab und hält davon ab, sich zum Beispiel mit sich selbst und seiner
gewaltsamen Geschichte des Kolonialismus auseinanderzusetzen. Solange
Rassismus diese Funktion erfüllt, wird es ihn geben.
taz: Was macht [6][die neue Labour-Regierung] jetzt anders?
Lewicki: Die Labour-Regierung hat die menschenunwürdigsten der
Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchenden abgeschafft und den
Ruanda-Plan zurückgenommen, der viele Millionen Pfund gekostet hat und
nicht umsetzbar war. Aber an den sehr rigiden Einwanderungsgesetzen der
Vorgängerregierung hält sie bislang fest. Die Rhetorik ist immer noch die
gleiche: Wir senken die Zahlen und lösen das Problem.
taz: Was sollte die neue Regierung stattdessen tun?
Lewicki: Sie könnte mehr tun, als die Täter zu verhaften und ins Gefängnis
zu stecken. Sie könnte ehrlich sagen, dass es nicht im britischen Interesse
ist, Einwanderung so stark zu begrenzen, und es auch nicht möglich ist,
sich komplett abzuschotten. Die großen Solidaritätsdemonstrationen dieser
Woche wie auch die Umfragen der letzten Jahre zeigen: Die Mehrheit der
Bevölkerung befürwortet Einwanderung. Das sollte sich auch in Wort und Tat
der Regierung abbilden.
13 Aug 2024
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## AUTOREN
Daniel Bax
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