# taz.de -- Rechtsextreme Pogrome in Großbritannien: Recht und Ordnung – und… | |
> Mit einer harten staatlichen Reaktion hat Großbritannien die | |
> rechtsextremen Krawalle gebändigt. Eine politische Antwort steht aber | |
> noch aus. | |
Bild: Als Durchsetzer des Rechts ist er gut, eine politische Antwort gegen Rech… | |
Nach der rechtsextremen Gewaltwelle auf Großbritanniens Straßen wird | |
aufgeräumt. In Schnellverfahren urteilen Richter quer durch das Land Täter | |
und Mittäter ab. Am Donnerstag erhielten der 28-jährige Adam Wharton und | |
sein 22-jähriger Bruder Ellis in Liverpool Strafen von 20 beziehungsweise | |
11 Monate Gefängnis, weil sie ein Gemeindezentrum mit Bibliothek und Tafel | |
angezündet und verwüstet hatten. John O’Malley (43) und William Morgan | |
(69), die betrunken mit Knüppeln auf die Liverpooler Polizei losgegangen | |
waren, müssen sogar für jeweils zwei Jahre und acht Monate hinter Gitter. | |
„Ihr werdet eure Beteiligung bereuen“, hatte Labour-Premierminister Keir | |
Starmer [1][am 4. August den Randalierern gedroht] und ihnen „die volle | |
Härte des Gesetzes“ angekündigt. Die Drohung und vor allem die ungewohnte | |
Entschlossenheit der Gerichte haben Wirkung gezeigt: Angekündigte erneute | |
rechte Aufmärsche am vergangenen Mittwoch fielen weitgehend aus. | |
Einen handlungsfähigen Staat hatte Keir Starmer vor seinem Wahlsieg am 4. | |
Juli versprochen, und dies wurde jetzt unter Beweis gestellt. Quer durch | |
die politischen Lager wird das harte Vorgehen der Justiz begrüßt. | |
Die These von Rechtsextremismusexperten – [2][etwa von Matthew Feldman | |
im Interview mit der taz] – scheint sich zu bestätigen: Die Mehrheit der | |
Randalierer, die seit der Ermordung dreier kleiner Mädchen in Southport | |
durch einen 17-Jährigen mit Migrationshintergrund am 29. Juli auf die | |
Straße gehen, sind unpolitische Mitläufer, die zwar von einem harten Kern | |
von Rechtsextremisten online aufgehetzt wurden, aber nicht gegen | |
Widerstände weitermachen. | |
## Nicht alles wieder gut | |
Ist also alles wieder gut? Mitnichten. Auf die polizeiliche und juristische | |
Antwort müsste nun eine politische folgen – die ist jedoch nicht in Sicht. | |
Die unter anderem vom Rechtspopulistenführer Nigel Farage und von der | |
schwarzen Labour-Linksaußenabgeordneten Diane Abbott erhobene Forderung, | |
das Parlament aus der Sommerpause zurückzuholen, hat die Regierung bislang | |
ignoriert. | |
[3][Weitergehende politische Schlüsse aus den Ereignissen] sucht man in | |
Premierminister Starmers Stellungnahmen vergebens. Man merkt, dass er im | |
Herzen mehr Jurist ist als Politiker, mehr Generalstaatsanwalt als | |
Premierminister. | |
Hartes und schnelles Eingreifen der Justiz erlebte Großbritannien erstmals | |
vor dreizehn Jahren, als im August 2011 schwere Unruhen das Land | |
erschütterten. Ein Polizist hatte im Londoner Stadtteil Tottenham den | |
schwarzen Jugendlichen Mark Duggan erschossen. Aus einer Trauerkundgebung | |
entwickelte sich ein Showdown zwischen Schwarzen und der Polizei, und in | |
den Tagen danach zogen gewaltbereite Jugendliche durch London und andere | |
Großstädte. Tausende Geschäfte wurden geplündert, es gab Tote. | |
In Schnellverfahren kamen innerhalb weniger Wochen über 1.000 Beteiligte | |
vor Gericht: Fünf Monate Haft für das Entgegennehmen gestohlener | |
Turnschuhe, vier Jahre Haft für das Verbreiten von Aufrufen über Facebook – | |
die Strafen waren beispiellos. Verantwortlich: Generalstaatsanwalt Keir | |
Starmer. | |
## Die Mobilisierungskraft der sozialen Netzwerke | |
Damals schockierte vor allem, wie leicht es war, über soziale Netzwerke und | |
Messengerdienste Jugendgangs zu mobilisieren, um gezielt auf Plündertour | |
für teure Smartphones und Turnschuhe und ähnliche Accessoires zu gehen. Die | |
konservative Regierung berief das Parlament zu einer Sondersitzung ein, und | |
Michael Gove, intellektueller Vordenker der Regierung, geißelte „eine | |
Kultur der Gier und der amoralischen Gewalt“. | |
Der eigentliche Auslöser, nämlich der polizeiliche Todesschuss von | |
Tottenham, trat zunächst in den Hintergrund. Aber langfristig entwickelte | |
sich aus den Unruhen von 2011 nicht eine Debatte über Jugendgangs, sondern | |
über die Londoner Polizei. | |
Im Jahr 2024 stellt sich nun wieder die Frage, ob die Unruhen an sich oder | |
ihr Auslöser das Thema sein sollten. Ähnlich wie in Tottenham haben sich | |
auch in Southport die unmittelbaren Angehörigen und Freunde der Opfer gegen | |
jede Instrumentalisierung ihres Leids verwahrt, in beiden Fällen begannen | |
die Unruhen mit der [4][Kaperung einer friedlichen Trauer durch auswärtige | |
Gewalttäter]. | |
Die politische Debatte fokussiert sich nun ähnlich wie 2011 auf das | |
Unruhephänomen – wer hetzt und macht mobil, und kann man das technisch und | |
juristisch unterbinden? Aber längerfristig wird es ähnlich wie 2011 nötig | |
sein, sich mit der Gewalttat zu beschäftigen, die der Auslöser war. | |
## Jugendliche und psychische Krisen | |
Das heißt nicht, rechten Parolen nachzugeben. Dass der mutmaßliche Mörder | |
von Southport aus einer Familie aus Ruanda kommt und beim Aufwachsen in | |
ärmlichen Umgebungen sicherlich Rassismuserfahrungen gemacht hat; dass bei | |
ihm eine autistische Störung diagnostiziert wurde; dass er mit einem zur | |
Tötung geeigneten Messer per Taxi zu einer Taylor-Swift-Tanzshow für Kinder | |
fuhr und dort wahllos auf Menschen einstach – all das wirft Fragen auf, die | |
mit dem rechtsextremen Thema „Flüchtlingspolitik“ ebenso wenig zu tun haben | |
wie mit dem politischen Thema „Hetze im Internet“. | |
So werfen die Morde von Southport ein Schlaglicht darauf, dass in | |
Großbritannien die Kapazitäten zum Umgang mit psychischen Krisen, vor allem | |
bei Jugendlichen, absolut unzureichend sind. Das wird politisch zwar immer | |
wieder beklagt, bleibt aber politisch folgenlos – und Menschen zahlen dafür | |
den Preis. | |
Am 24. Juli tötete ein 15-Jähriger in London einen Gleichaltrigen mit einem | |
Messer. Am selben Tag überlebte ein Armeeoffizier nur knapp einen | |
Messerangriff vor seiner Kaserne außerhalb von London. Die Bluttat von | |
Southport reiht sich also in eine Serie ein. Ab dem 18. Juli gab es in | |
Leeds außerdem über mehrere Tage gewaltsame Ausschreitungen von Roma gegen | |
die Polizei, was ein weiterer lokaler Faktor bei den rechten Unruhen war. | |
Ein weiteres Thema ist, dass Großbritannien seit dem Brexit mehr Zuwanderer | |
aufgenommen hat als in den 20 Jahren davor. Allein in den vergangenen zwei | |
Jahren betrug die Nettozuwanderung rund 1,5 Millionen Menschen. Das wird | |
politisch totgeschwiegen, weil es weder den Brexit-Gegnern noch den | |
Brexit-Befürwortern in den politischen Kram passt. | |
Aber daher wird ignoriert, was das an Erfordernissen im Ausbau staatlicher | |
und sozialer Infrastruktur nach sich ziehen müsste. Auch so etwas macht | |
deklassierte Weiße in armen Städten zu Mitläufern rechter Hetzer. | |
10 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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