# taz.de -- Mehr als Essen: Pommes sind mein Zuhause | |
> Für unsere Autorin und ihre Familie sind Pommes die Stars auf dem Teller. | |
> Sie geben ein Heimatgefühl und spenden Trost, wenn nichts mehr geht. | |
Bild: Mein nächstes Tattoo werden drei Pommes, auch wenn das vielleicht ein bi… | |
„Redflag: Wer keine Pommes mag“ hätte ich in mein Datingprofil schreiben | |
sollen. Seit Kurzem versuche ich neue Menschen kennenzulernen. Leider habe | |
ich das vergessen und sitze jetzt im Park mit einem Fitness-Fanatiker, der | |
sich weigert mit mir eine Portion Pommes zu teilen. Warum ich deshalb so | |
beleidigt bin, kann ich ihm nicht erklären. Denn dann müsste ich über meine | |
Familie sprechen, und das ist mir zu persönlich für ein erstes Date mit | |
einem Frittenhasser. | |
An einem Weihnachtsabend, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein, | |
überreichte meine Oma meinen Eltern feierlich eine Fritteuse in einem | |
sperrigen Karton, den sie kaum umgreifen konnte. „Damit die Kinder mal wat | |
Anständiges zu essen bekommen“, sagte sie. | |
Schon am Vortag hatten wir gemeinsam zwischen schweren Eichenmöbeln und auf | |
weißer, gestickter Tischdecke Backofen-Pommes gegessen, serviert mit | |
riesigen Tuben Mayo und Curryketchup und aufgespießt mit dem | |
Silberbesteck, auf das mein Opa seit Jahrzehnten so gut aufpasst. | |
Auf das Geschenk folgten gute Jahre, in denen mein Vater, egal bei welchem | |
Wetter, etwa alle sechs Wochen mit Pantoffeln und Unterhemd auf der | |
Terrasse unserer Wohnung stand und Kartoffelstifte frittierte – mindestens | |
zwei Ladungen pro Person. Dazu machte meine Mutter einen Gurkensalat mit | |
Joghurtsoße – nur als Beilage, denn die Pommes waren definitiv die Stars | |
auf dem Teller. | |
„Schon deine Ururgroßmutter hat einmal im Monat für uns Kinder Fritten | |
gemacht, aus frischen Kartoffeln. So war das eben“, sagte meine Oma, als | |
ich mich letztens mit ihr über Pommes unterhielt. Diese Erklärung erschien | |
mir zunächst ausreichend: Tradition und Gewohnheit. Meine Großeltern hatten | |
nie viel, und Kartoffeln konnte man günstig selbst anbauen. Auf die | |
rheinländische, lebensfrohe Art wurde eben aus wenig „wat Leckeres“ | |
gezaubert. So war das eben. | |
## Pommes gegen Losgelöstheit | |
Mit meiner [1][Pommesliebe bin ich nicht allein]. In Deutschland lag der | |
Pro-Kopf-Konsum von Kartoffelerzeugnissen wie Chips und Pommes im Jahr 2023 | |
bei rund 40 Kilogramm – so viel wie seit 1990 nicht mehr. Gerade im Sommer | |
feiern alle die Freibadpommes fast schon wie eine Ersatzreligion, jedes | |
Jahr füllen Journalist*innen mit Liebesbekundungen an dieses Gericht | |
die Zeitungsseiten. | |
Ich zweifle also daran, ob ich etwas Neues über Pommes beitragen kann. Weil | |
ich aber das starke Gefühl habe, dass hinter dem Pommeskonsum in meiner | |
Familie etwas anderes steckt, will ich aber trotzdem darüber schreiben. | |
Während andere das salzige, fettige Gericht draußen, auf dem Jahrmarkt, im | |
Freibad oder im Stadion wegmampfen, essen wir die Pommes meistens im | |
Stillen, zu Hause. | |
Vielleicht, denke ich, sind die Pommes das, was es bei uns heimelig macht. | |
Denn mit dem Zuhause und meiner Familie ist das so eine Sache. Der eine | |
Teil kommt aus Westberlin, der andere aus dem Pott. Wegen der Arbeit und | |
aus praktischen Gründen sind meine Eltern irgendwo dazwischen gelandet. | |
Zufälligerweise war das Kassel. | |
Der Umzug brachte sozialen Aufstieg für beide, aber auch eine | |
Losgerissenheit aus allem Bekannten mit sich. Was blieb, waren Erinnerungen | |
an Konzerte zu Zeiten, als Berlin noch wild war, und den niederländischen | |
Hang, fast alles zu frittieren. | |
Auch an uns Kinder wurde diese Losgelöstheit übertragen. Ich war lange | |
stolz darauf, dass ich nicht wie einige meiner Klassenkamerad*innen | |
„ein Blatt Papier“ wie „ein platt Babier“ aussprach und mich somit als | |
Nordhessin zu erkennen gegeben hätte. Noch heute fehlen mir Worte, Kassel | |
gut zu beschreiben und zu sagen, ob man hier gut oder schlecht leben kann. | |
Es ist ein Ort, an dem ich eine Zeit lang lebte, bis ich eben eines Tages | |
nicht mehr dort lebte. | |
## Sie vereinen und versöhnen uns | |
Selbst in der Zwischenzeit war ich oft nicht da – als Kind verbrachte ich | |
unzählige Stunden auf der Autobahn zwischen den verschiedenen Heimaten | |
meiner Eltern, drei bis vier Stunden zähe Stunden pro Weg. Einziger | |
Lichtblick: frisch gekochtes Essen bei meinen Großeltern und meist eine | |
Süßigkeit vorab. Unzählige Male war die Ankunftsmahlzeit frisch frittierte | |
Pommes. | |
Mein Opa etwa ist seiner Zeit weit voraus, er aß eigentlich kaum Fleisch. | |
Das führte dazu, dass meine Oma meist zwei Gerichte kochte. Die Sache mit | |
dem Fleisch wurde im Stammbaum weitergereicht, ein paar Empfindlichkeiten | |
und Unverträglichkeiten kamen hinzu. Kein Fisch, keine Paprika, keine | |
gekochten Karotten, keine Früchte, keine Linsen, kaum Gewürze, keine rote | |
Beete, kein Kuchen. | |
Pommes vereinen und versöhnen uns, auch [2][wenn gar nichts mehr geht]. Ich | |
erinnere mich, dass ich einmal bei einem so schlimmen Liebeskummer tagelang | |
nichts herunterbekam. Als es Pommes und Gouda-Nuggets dazu gab, konnte ich | |
plötzlich wieder essen, und alles war nur noch halb so schlimm. | |
Auch erbitterte Kämpfe, wie es sie nur innerhalb von Familien geben kann, | |
fochten wir bei einer Portion Pommes aus. Vor allem in meiner Jugendzeit | |
stritten wir oft und heftig – Zeit dafür blieb nach der Ganztagsschule nur | |
noch beim Abendessen. Aber mit einer krossen, salzigen Pommes im Mund | |
streitet es sich schon viel wohlwollender. | |
## Curly Fries aus dem Ofen | |
Als ich nach der Schule in eine neue Stadt zog, nahm ich nicht viel mit. | |
Meine Liebe zu Pommes allerdings blieb. Und ich fand schnell | |
Gleichgesinnte. An vielen Abenden entschieden meine Freundinnen und ich | |
schon auf dem Nachhauseweg vom Club, dass wir eine Portion der Curly Fries | |
in den Ofen schieben würden. | |
Während wir darauf warteten, dass sie fertig wurden, saßen wir mit | |
dröhnenden Ohren und halb geschlossenen Augen auf der Couch und sprachen | |
über den vergangenen Abend. War das Blech leer und wir müde, war alles | |
schon viel weniger aufwühlend und uns ging es gut. | |
Die Pommes-Dates haben in letzter Zeit abgenommen. For obvious reasons. | |
Niemand muss mir erzählen, dass Pommes nicht gerade die gesündeste Mahlzeit | |
sind. Oder dass die Kartoffelernten durch den Klimawandel schlechter und | |
die Speise durch die Inflation immer teurer werden. | |
Ich habe ein schlechtes Gewissen und schiele gleichzeitig bei jedem Einkauf | |
auf die Tiefkühlpommes. Ich sehne mich nach dem versöhnlichen Miteinander | |
über einer Portion, gerade jetzt im Sommer. Mein nächstes Tattoo werden | |
drei Pommes, auch wenn das vielleicht ein bisschen pathetisch ist. Ich füge | |
endlich meine Red Flag in der Dating-App hinzu und schreibe meiner Oma dann | |
eine Nachricht: „Können wir beim nächsten Mal Pommes essen, wenn wir uns | |
sehen?“ „Na klar, heiß und fettig“, antwortet sie. | |
2 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Leclere | |
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