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# taz.de -- Alkoholpreise in Deutschland: Das Geschäft mit dem Tod
> Vollsuff zum Schnäppchenpreis, Zigaretten an jeder Tankstelle: Ungesund
> zu leben ist in Deutschland einfach. Eine Reform ist dringend notwendig.
Aktuell vergeht fast kein Tag, an dem man nicht auf die beunruhigende
finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung aufmerksam
gemacht wird. Seit 2009 haben sich deren Ausgaben von 171 Milliarden Euro
auf geschätzt knapp 320 Milliarden Euro in 2024 nahezu verdoppelt.
Will man die Gesundheitskosten reduzieren, ergeben sich im Wesentlichen
zwei Optionen: Erstens, man reduziert Ausgaben, indem man Leistungen kürzt
und dabei idealerweise Verschwendungen im Gesundheitssystem beseitigt. Oder
zweitens, man sorgt dafür, dass die Bevölkerung gesünder lebt, deshalb
seltener erkrankt und damit seltener [1][teure Gesundheitsleistungen] in
Anspruch nehmen muss.
Der zweite Ansatz entspricht einer Politik wirksamer Prävention. Ihr Ziel
ist es, die im Land weit verbreiteten ungesunden Lebensstile und den Konsum
gesundheitsgefährdender Konsumgüter wie alkoholischer Getränke und
Tabakwaren spürbar zu reduzieren. Damit aber hat sich die deutsche
Gesundheitspolitik schon immer schwergetan.
Die Deutschen verfolgen mehrheitlich ungesunde Lebensstile. Da ist zum
Beispiel der Alkoholkonsum: Deutschland gilt mit 10 Litern konsumiertem
Reinalkohol pro Kopf und Jahr als Hochkonsumland – europa- und weltweit.
Das kostet in Deutschland, konservativ geschätzt, mittlerweile knapp 60
Milliarden Euro an ökonomischen Schäden jedes Jahr durch Frühverrentung,
Arbeitslosigkeit, Suchtrehabilitation, Pflegekosten und teure medizinische
Therapien. Noch nicht mit eingerechnet sind hier die Sachschäden und
Körperverletzungen infolge von Vandalismus und rauschbedingter
Aggressivität sowie Schmerz und Leid, die Alkoholiker ihrer Familie
zufügen.
Mindestens 1,7 Millionen Menschen wohnen in Deutschland mit einem schädlich
alkoholkonsumierenden Partner zusammen, gut 1 Millionen Kinder werden mit
einem alkoholkranken Elternteil groß. Bei Kindern von Alkoholikern bleibt
das psychische Leid oft über Jahrzehnte verborgen, bis dann im
Erwachsenenalter weitere Kosten durch Psycho- und Pharmakotherapien folgen,
weil die psychischen Belastungen der Kindheit nicht mehr kontrolliert
werden können.
## Im Land des Billig-Alkohols
Deutschland begünstigt diese Zustände, denn es gehört zu den EU-Ländern mit
besonders niedrigen Steuern auf alkoholische Getränke. Aus zahlreichen
Untersuchungen ist bekannt: Höhere Steuern auf Alkoholika bewirken, dass
weniger getrunken wird. Insbesondere sogenannte Rauschtrinkereignisse, an
denen fünf und mehr alkoholische Getränke nacheinander konsumiert werden,
nehmen deutlich ab.
Im Jahr 2003 erfolgte letztmalig mit der Sondersteuer auf Mischgetränke aus
Spirituosen und Softdrinks noch der Versuch, vor allem Jugendliche vom
frühen Konsum abzuhalten. Kurzfristig zerstörte dies den Markt für
Alkopops.
Leider brachten politische Kompromisse und Lobbyanstrengungen der
Alkoholindustrie eine Obergrenze beim Steuertarif ins Gesetz hinein, sodass
Getränke ab 10 Volumenprozent Alkohol keiner Alkopopsteuer mehr
unterfallen. Und so, um diese Geschichte wie aus dem Lehrbuch der
Wirtschaftswissenschaften zu beschließen, stellt man aktuell bei
Betrachtung der Spirituosenregale im Supermarkt fest, dass die bunten
Alkopops wieder da sind: mit einem Volumenprozentanteil von exakt 10
Prozent. Die junge Zielgruppe ist zu wichtig, als dass man auf
geschmacklich auf sie zugeschnittene Produkte verzichtet.
Die Politik aber traut sich nicht an den Alkoholkonsum heran und handelte
vor der Alkopopsteuer letztmalig 1982, als noch unter Bundeskanzler Helmut
Schmidt die Steuern auf Spirituosen angehoben wurden. Warum passiert auf
dem Gebiet wirksamer Alkoholprävention so wenig? Die wahrscheinlich
einleuchtendste Antwort lautet: Alkoholsteuererhöhungen sind höchst
unpopulär und kosten wichtige Wählerstimmen. Dabei würden eine klare
Kommunikation und eine Kombination der Maßnahme mit Steuererleichterungen
an anderer Stelle sicherlich ein höheres Maß an Akzeptanz erzeugen.
Auch aus Fairnessgründen ist wirksame Prävention richtig: Wenn wir die
Solidarität im Falle schwerer alkoholbedingter Krankheit in unserer
gesetzlichen Krankenversicherung aufrechterhalten wollen, dann ist es nur
fair, den Alkoholkonsumenten vorab beim Kauf an der Supermarktkasse einen
Teil der Folgeschäden finanziell tragen zu lassen. Sonst wird die
Solidarität irgendwann nicht mehr bezahlbar.
## Lobbyismus, Lügen und Verlockung
Bei anderen ungesunden Lebensstilen in Deutschland verhält es sich analog:
Durch Tabakkonsum verursachte Erkrankungen wie COPD, Bronchialkarzinome
und Schlaganfälle sind mit großem Leid für Betroffene und deren Familien
verbunden, die Kosten des [2][Rauchens] belaufen sich auf knapp 100
Milliarden Euro in Deutschland. Jedes Jahr. Dennoch rauchen nach wie vor
zwischen 25 und 30 Prozent der Deutschen.
Während sich andere Länder mit rigorosen Maßnahmen dem Ziel verpflichten,
die Raucherquote in den kommenden Jahren deutlich unter 5 Prozent zu
bringen oder sogar Rauchfreiheit anstreben, verteidigt man in Deutschland
die Freiheit zur Selbstschädigung. Süchtige sind die besten Kunden. Und mit
den ungefähr 18 Millionen Rauchern in Deutschland schafft es die
Tabakindustrie alljährlich, Umsatzrekorde im deutschen Markt zu
erwirtschaften.
Dabei basiert die Vermarktung der Zigarette seit gut 100 Jahren auf
Lobbyismus, gekaufter Wissenschaft, Lügen über das Abhängigkeitspotenzial
von Tabak und dessen gesundheitlicher Konsequenzen, verbotener Vermarktung
an Minderjährige und Millionen Toten. Zwar wurden die Tabaksteuern im Jahr
2021 ausnahmsweise einmal etwas stärker angehoben, aber letztlich reicht
das erzielte Tabaksteueraufkommen bei Weitem nicht aus, die Schäden, die
Tabak und Nikotin verursachen, abzudecken.
Das Geschäft mit dem Tod geht weiter. Neue Nikotinprodukte, deren
gesundheitliche Risikokonturen zwar noch schemenhaft, aber dennoch
erkennbar sind, stehen bunt verpackt und gut sortiert mit jugendaffinen
Flavors an jeder Tankstelle im Regal.
## Marketing-Milliarden für Kinder und Jugendliche
Ein weiteres Problem ist die ungesunde Ernährung der Deutschen: Mehr als
die Hälfte der Bevölkerung ist übergewichtig. Die jährlichen Kosten der
Adipositas liegen bei 65 Milliarden Euro. Die Gesundheitsexpertin Mindy
Pelz brachte das Problem vor einiger Zeit auf den Punkt, als sie, nach der
größten Lüge der Lebensmittelindustrie gefragt, antwortete: „All food is
safe.“
Bislang aber wird jedweder Versuch, den Konsum sogenannter hyperpalatable
foods, also besonders schmackhafter Lebensmittel mit hohem Fett- und
Zuckeranteil, durch eine Softdrink- oder Zuckersteuer zu reduzieren,
politisch abgelehnt. Selbst eine Absenkung der Mehrwertsteuer bei Obst und
Gemüse bleibt chancenlos.
Zuletzt wurde sogar das geplante Verbot, Kinder mit ungesunden
Lebensmitteln mit hohem Fett-, Salz und Zuckeranteil zu umwerben durch
Lobbyismus und fehlenden politischen Konsens zur Hängepartie, obwohl laut
Umfragen mehr als zwei Drittel der Bundesbürger von arm bis reich und links
bis rechts sich eine Einschränkung der an ihre Kinder gerichteten
Werbeansprachen mit ungesunden Lebensmitteln wünschen.
Kinder sind auch die wichtigste Zielgruppe der Lebensmittelindustrie. Deren
Kindermarketing auf Social-Media, an Leuchtreklamen und im Fernsehen ist
allgegenwärtig. Mit Informationskampagnen und etwas Unterricht in der
Schule kann man den Kampf gegen Marketing-Milliardenbudgets nicht gewinnen.
Und so schafft es die Industrie durch Produktinnovationen und schlaues
Hakenschlagen, gesetzliche Regelungen zu verzögern, zu umgehen und die
junge Zielgruppe weiter an sich zu binden. Denn es geht um viel Geld.
Das zeigt sich auch am seit April legalen deutschen Cannabismarkt, auf dem
die Ausweitung der Kommerzialisierung in Form flankierender
Geschäftstätigkeit durch Zubehör und Merchandise bereits begonnen hat.
Bislang führten Cannabislegalisierungen in anderen Ländern stets zu
sinkenden Preisen und damit zu steigender Nachfrage. Damit ist auch hier zu
rechnen.
## Der kameralistische Blick des Bundeshaushalts
Möglich, dass die Aussicht auf geringere Steuereinnahmen der Politik
wirksame Prävention unattraktiv erscheinen lässt. Doch die Rechnung ist
falsch, denn die Schäden durch [3][Alkohol], Tabak und ungesunde
[4][Ernährung] übersteigen die Steuereinnahmen des Staates deutlich. Es
wird also weder für die Rente geraucht, noch gegen den Terror getrunken.
Würde man die Steuern auf ungesunde Lebensstile erhöhen, würden diese im
Ergebnis nicht nur reduziert, die Bevölkerungsgesundheit erhöht und Kosten
im Gesundheitssystem gesenkt. Es käme auch zu höheren Steuereinnahmen in
Form von Einkommenssteuern und höheren Beiträgen in die
Sozialversicherungen infolge weniger Krankheit und höherer Produktivität.
Man könnte die Sozialversicherungsbeiträge und damit die Lohnnebenkosten
alternativ sogar senken.
Aber es liegt an der vom Bundeshaushalt diktierten kameralistischen Sicht,
jeden Steuersäckel für sich betrachtet maximieren zu wollen, anstatt die
Zusammenhänge zwischen ungesunden Lebensstilen und Gesundheitsausgaben
übergreifend wahrzunehmen.
Abschließend sollte nicht vergessen werden: Eine Präventionspolitik, die
unwirksam bleibt, schadet insbesondere ärmeren, bildungsfernen Haushalten,
die überproportional stark von ungesunden Lebensstilen betroffen sind. Die
Vermarktung ungesunder Lebensstile richtet sich überdies an die jungen
Zielgruppen in diesen Milieus. Eine Politik der Reduktion der
Gesundheitskosten durch wirksame Prävention verringert damit auch die
gesundheitlichen Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheiten.
Die Politik wird sich angesichts der steigenden Kosten entscheiden müssen,
welchen Weg sie zur Lösung der Kostenproblematik geht. Aus
wissenschaftlichen Befunden zeigt sich aber: Diejenigen, die durch den
Konsum krank werden, wünschen sich nicht nur vielfach, sie hätten gesünder
gelebt, sie bringen auch mehr Verständnis dafür auf, dass
Gesundheitsprävention nicht mit gutem Zureden und einer Infobroschüre
erfolgreich sein kann.
4 Nov 2024
## LINKS
[1] /Oekonom-zu-Kosten-im-Gesundheitsystem/!5917795
[2] /EU-Kommission-fuer-qualmfreie-Zonen/!6034319
[3] /Alkohol-erst-ab-18/!6033184
[4] /Gesunde-Ernaehrung/!5981939
## AUTOREN
Tobias Effertz
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