# taz.de -- Karlsruhe beanstandet Wahlrechtsreform: Sitze, Stimmen und Hürden | |
> Das Bundesverfassungsgericht beanstandet ein wichtiges Detail des neuen | |
> Bundestagswahlrechts. Die CSU und ihre Wähler würden womöglich | |
> benachteiligt. | |
Bild: Raum für Verbesserungen: der Reichstag in Berlin | |
Karlsruhe taz | Das Bundesverfassungsgericht hat das neue Wahlrecht im Kern | |
bestätigt. Allerdings erklärte das Gericht die Streichung der | |
Grundmandateklausel für verfassungswidrig, weil dies die CSU und ihre | |
Wähler unzulässig benachteiligt hätte. | |
Karlsruhe urteilte über das neue Wahlrecht, das der Bundestag im März 2023 | |
mit den Stimmen der Ampelkoalition beschlossen hat. Die Ampel wollte damit | |
den Bundestag, der aktuell 734 Abgeordnete umfasst, dauerhaft auf 630 Sitze | |
verkleinern. Deshalb wurden Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft, | |
ebenso die Grundmandateklausel. Das Konzept war aber sehr umstritten. | |
Gerügt hat das Bundesverfassungsgericht nur den Wegfall der | |
Grundmandateklausel. Diese Regelung ermöglichte bisher Parteien den Einzug | |
in den Bundestag, wenn sie zwar an der Fünfprozenthürde scheitern, aber | |
mindestens drei Direktmandate in den Wahlkreisen holen. [1][2021 | |
profitierte die Linke davon, die bundesweit nur 4,9 Prozent der Stimmen | |
erreichte]. Die CSU wäre – bei Geltung der Zweitstimmendeckung – mit 5,2 | |
Prozent fast auch auf die Regelung angewiesen gewesen. | |
Das Verfassungsgericht entschied, dass die Fünfprozentklausel ohne | |
Grundmandatsklausel verfassungswidrig ist. Grundsätzlich sei die | |
Fünfprozenthürde zwar gerechtfertigt, um die Funktionsfähigkeit des | |
Bundestags zu sichern. Bei der CSU sei die Hürde aber nicht nötig, weil ihr | |
Einzug in den Bundestag nicht zur Zersplitterung des Parlaments beitrage. | |
Traditionell schließe sich die CSU mit der CDU zu einer gemeinsamen | |
Fraktion zusammen. Es bestehe die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“, dass | |
CDU und CSU auch nach der nächsten Bundestagswahl eine | |
Fraktionsgemeinschaft bilden. | |
## Direkt gewählte Wahlkreiskandidaten nicht verpflichtend | |
Keine Einwände hatte das Verfassungsgericht gegen den Kern des neuen | |
Wahlrechts, wonach die Parteien nur noch so viele Sitze im Bundestag | |
erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dies soll | |
künftig auch dann gelten, wenn eine Partei mehr [2][Wahlkreise] gewonnen | |
hat, als ihr Sitze zustehen. Bisher bekam sie dann Überhangmandate und die | |
anderen Parteien bekamen Ausgleichsmandate, damit das Wahlergebnis nicht | |
verzerrt wird. So wurde der Bundestag deutlich größer als eigentlich | |
geplant. | |
Doch künftig gibt es in dieser Konstellation keine Überhang- und | |
Ausgleichsmandate mehr. Vielmehr gehen die prozentual schwächsten | |
Wahlkreisgewinner leer aus. Wer in seinem Wahlkreis mit 40 Prozent der | |
Stimmen gewinnt, erhält sicher ein Mandat, wer den Erfolg nur mit 22 | |
Prozent erzielt, geht tendenziell leer aus. | |
Diese sogenannte Zweitstimmendeckung kann zwar dazu führen, dass es nicht | |
mehr in allen Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete gibt. Dies verstößt | |
aber nicht gegen das [3][Grundgesetz], so die Richter:innen, das dem | |
Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum gebe. „Der Gesetzgeber kann | |
Änderungen einführen, die ein Umdenken der Wähler erfordern“, sagte Doris | |
König, die Vizepräsidentin des Gerichts. | |
Der Gesetzgeber kann nun die Fünfprozentklausel neu regeln, muss dies aber | |
nicht. Das Gericht hat keine Frist gesetzt. Bis zu einer Neuregelung gilt | |
wieder die alte Grundmandatsklausel. Das heißt: Wenn eine Partei nur 4,8 | |
oder 2,8 Prozent der Zweitstimmen erhält, aber in drei Wahlkreisen am | |
meisten Erststimmen erhält, kann sie mit allen ihr prozentual zustehenden | |
Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Dies gilt nicht nur für die CSU, | |
sondern auch für die Linke und andere Parteien. Die Richter betonten, dass | |
die alte Grundmandatsklausel als Übergangsregelung besonders geeignet ist, | |
weil sie den Wähler:innen bereits bekannt ist. Sie stärke das Vertrauen, | |
„dass durch die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt wird“, betonte | |
Richterin Astrid Wallrabenstein, die das Urteil vorbereitet hatte. | |
Wenn der Bundestag die Rückkehr der alten Grundmandatsklausel verhindern | |
will, ist dies möglich. Der Bundestag müsste die Neuregelung dann aber sehr | |
schnell beschließen, denn die Vorbereitungen auf die Bundestagswahl 2025 | |
haben bereits begonnen. Wahrscheinlich ist das nicht. | |
Die Neuregelung der Fünfprozentklausel wird wohl eher ein Projekt für die | |
nächste Wahlperiode. Der Bundestag hat dabei eine Vielzahl von | |
Möglichkeiten. So könnte er zum Beispiel mehr als 3 Grundmandate verlangen, | |
etwa 5 oder 15 Mandate. Alternativ könnte der Bundestag aber auch die | |
5-Prozent-Hürde auf 4 oder 3 Prozent absenken oder Parteien, die wie CDU | |
und CSU gemeinsam eine große Fraktion bilden, ausnehmen. | |
Als weitere Option erwähnten die Richter:innen ein Modell, bei dem so | |
viele Parteien Mandate im Bundestag erhalten, bis 95 Prozent der | |
Wähler:innen vertreten sind. Der Gestaltungsspielraum des Bundestags ist | |
offensichtlich sehr groß. | |
Das Urteil war am Bundesverfassungsgericht nicht sehr umstritten. Die | |
Klagen der CDU/CSU gegen die Zweitstimmendeckung wurden einstimmig | |
abgelehnt. Die Beanstandung der weggefallenen Grundmandatsklausel erfolgte | |
mit 7:1 Richterstimmen. Erfolg hatten hier CDU/CSU, Bayern, die CSU und | |
Links-Wählerinnen. Die Klagen von Links-Partei und Links-Fraktion waren | |
unzulässig. | |
Das Urteil war schon am späten Montagabend bekannt geworden, weil es mit | |
einem speziellen Link auf dem Server des Gerichts abrufbar war. „Das | |
Gericht prüft, wie es dazu kommen konnte“, sagte Vizepräsidentin König | |
bei der Urteilsverkündung. | |
30 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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