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# taz.de -- Mittelstreckenwaffen in Deutschland: Ungeteiltes Risiko
> Die Konfrontation mit Russland darf durch offensive Rüstungsmaßnahmen der
> Nato nicht verschärft werden – nicht ohne einen stabilisierenden Dialog.
Bild: Der Start einer Tomahawk-Rakete aus einer US-Navy-Basis (Datum unbekannt)
Die amerikanisch-deutsche Erklärung zur Stationierung von neuen
[1][konventionellen Langstreckenwaffen (]M6-Raketenabwehrsysteme,
Tomahawk-Marschflugkörper und Hyperschallgleiter) erscheint auf den ersten
Blick nachvollziehbar zu sein.
Die Bundesregierung hat die ab 2026 zunächst „episodisch“ und später
dauerhaft vorgesehene Stationierung in bisherigen Äußerungen mit einer
„Fähigkeitslücke“ begründet. Russland besitzt in der Tat ein bedrohlich
großes und breit gefächertes Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen,
einschließlich Hyperschallwaffen und Marschflugkörpern.
Eine Reihe dieser Waffen können sowohl mit konventionellen als auch [2][mit
atomaren Sprengköpfen] eingesetzt werden. Die Nato-Staaten verfügen auf
europäischem Boden bis auf luftgestützte Marschflugkörper über keine
vergleichbaren Raketensysteme. Washington hat diese Raketenstationierung in
Deutschland bereits seit Jahren geplant und 2021 eine Taskforce für Führung
und Einsatz dieser Systeme in Wiesbaden aktiviert. Die Bundesregierung hat
der Stationierung nunmehr offiziell zugestimmt. Die Tragweite dieser
Entscheidung ist gravierend und erfordert eine umfassende Begründung, vor
allem hinsichtlich der Implikationen für Deutschland.
## Lage zwischen Nato und Russland wird sich verschärfen
Denn Russland wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Reaktion eine noch
größere Zahl seiner nuklearfähigen Mittelstreckenraketen in Kaliningrad und
in Belarus stationieren, insbesondere unmittelbar gegenüber Polen und den
baltischen Staaten, auch in Kaliningrad und in Belarus. Eine Verschärfung
der Lage an der Konfrontationslinie zwischen der Nato und Russland wäre die
Folge und wird gegebenenfalls zu weiteren Rüstungsschritten auf der
westlichen Seite führen.
Warum wird die Stationierung aber nicht im Nato-Rahmen vorgenommen, wie
dies im Sinne einer Risiko- und Lastenteilung etwa bei der nuklearen
Teilhabe der Fall ist? Bisher ist nicht erkennbar, dass irgendein anderer
Bündnispartner bereit ist, diese Waffensysteme auf seinem Territorium zu
dislozieren und die damit verbundenen Risiken einzugehen. Deutschland wäre
im Kriegsfall aufgrund seiner geografischen Lage und Funktion als zentrale
Drehscheibe für Aufmarsch und Logistik zur Verteidigung der Nato-Ostflanke
ohnehin bereits in erheblichem Maße durch russische Mittelstreckenraketen
bedroht.
Darüber hinaus würden in einem Krieg an der Ostflanke die amerikanischen
bodengebundenen Mittelstreckensysteme durch die russischen Streitkräfte mit
allerhöchster Priorität aufgeklärt und bekämpft werden. Deutschland verfügt
zudem auf viele Jahre hinaus über keinen nennenswerten Zivilschutz und ist
gegen Raketenangriffe hoch verwundbar. Eine flächendeckende Raketenabwehr
ist unrealistisch.
Im Gegensatz [3][zur atomaren Nachrüstung der Nato in den frühen 1980er
Jahren] (Doppelbeschluss) ist die Stationierungsentscheidung nicht mit
einem Rüstungskontrollvorschlag zur Verringerung des russischen
Raketenpotenzials verknüpft worden. Dies mag zwar angesichts des
russischen Angriffskriegs in der Ukraine schwierig erscheinen. Andererseits
hat die Nato in der Gipfelerklärung von Washington ihre Bereitschaft zur
Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt.
## Allein die Option wirkt destabilisierend
Die gravierendsten Folgen der Raketenstationierung, insbesondere der
Hyperschallwaffen in Deutschland, liegen in den Auswirkungen auf die
künftige nuklearstrategische Stabilität zwischen den atomaren Supermächten
USA und Russland. Von dieser Balance hängt auch die deutsche und
europäische Sicherheit ab. Die USA könnten in der russischen Wahrnehmung
aufgrund der Reichweite, Zielpräzision und eventuell bunkerbrechenden
konventionellen Sprengkraft dieser neuen Waffensysteme von Deutschland aus
strategische Atomwaffen, die in den westlichen Bezirken Russlands
stationiert sind, mit kurzen Flugzeiten ausschalten.
Die USA würden solche Angriffe zwar nicht führen, weil dies in einen großen
Atomkrieg zwischen beiden Mächten münden würde. Aber allein diese
Angriffsoption wäre destabilisierend und gefährlich, weil Russland im
permanenten Alarmzustand verharren würde und weil Fehlalarme im schlimmsten
Fall zum Start von Atomraketen führen können. Überdies muss wohl davon
ausgegangen werden, dass mit der Stationierung der Marschflugkörper und
Hyperschallgleiter eine Verlängerung des 2026 auslaufenden
New-Start-Vertrags mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen beider
Seiten unmöglich wird.
Als Fazit kann festgehalten werden: Der Aufwuchs militärischer Kräfte zur
Abschreckung und zur Verteidigung der Ostflanke der Nato ist angesichts der
russischen Aggression unabdingbar. Zugleich darf die bereits vorhandene
Konfrontation zwischen Russland und der Nato nicht noch durch offensive
Rüstungsmaßnahmen ohne einen begleitenden stabilisierenden Dialog
verschärft werden. Ob die angekündigte Stationierung von
Mittelstreckenwaffen in Deutschland die deutsche Sicherheit tatsächlich
stärkt, muss noch überzeugend begründet werden. Dies hängt letztlich von
Annahmen über die psychologische Abschreckungswirkung auf [4][die
Machthaber im Kreml] ab. Also von Annahmen, bei denen Fehleinschätzungen
leicht möglich sind.
Es könnte sich als Trugschluss erweisen, unsere Sicherheit auf viele Jahre
hinaus allein auf Abschreckung und Kriegstüchtigkeit zu stützen. Die
Bevölkerung wird so im instabilen Zustand prekärer Sicherheit verharren,
heikler als im Kalten Krieg. Frieden wird so zur Utopie. Wir haben uns im
amerikanisch-deutschen Tandem Schritt für Schritt auf einen ungesicherten
Pfad begeben, einen Pfad der irreversiblen Konfrontation mit Russland, ohne
zu wissen, wo uns das am Ende hinführt und wie lange die Regierenden noch
die Kontrolle über die weitere Konfrontation in der Hand behalten. Immer
weiter ins Risiko zu gehen, ist auch politisch-moralisch fragwürdig.
16 Jul 2024
## LINKS
[1] /US-Bekenntnis-zur-Nato/!6023062
[2] /Schweden-laesst-US-Militaer-ins-Land/!6018506
[3] /US-Bekenntnis-zur-Nato/!6020648
[4] /Putin-vor-der-Wahl/!5994936
## AUTOREN
Helmut W. Ganser
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