| # taz.de -- Nukleare Drohungen: Angst ist ein lautes Gefühl | |
| > Raketen fliegen, viele haben Angst. Und trotzdem müssen wir sie aushalten | |
| > und nicht auf die erstbesten Idioten reinfallen, die Sicherheit | |
| > versprechen. | |
| Bild: Ein Angstmacher | |
| Das erste Mal ist mir die Angst vor einem Atomkrieg auf einer | |
| Solidaritätskundgebung für die Ukraine begegnet. Das ist schon fast drei | |
| Jahre her. Russland hatte da gerade seinen Angriff auf die Ukraine | |
| ausgeweitet, die Bilder in den Nachrichten waren bestimmt von vorrückenden | |
| Panzern. „Zeitenwende“, Sondervermögen, Schützengraben, Helme – große | |
| Wörter und Angst überall. | |
| Die Freundin, die mit mir zwischen all den Menschen am Brandenburger Tor | |
| stand, fragte auf dem Heimweg, ganz leise: „Und was ist, wenn Putin jetzt | |
| wirklich eine Atombombe wirft?“ Ich versuchte, ihre Sorge zu entkräften, | |
| durch Argumente, die mir rational erschienen: „Niemand hat Interesse an | |
| einer nuklearen Eskalation, das wäre doch vollkommen wahnsinnig. Das ist | |
| nur Drohgebärde.“ | |
| Diese Gewissheit ist in den letzten Jahren, Monaten und Wochen geschrumpft. | |
| Die Angst vor einer weiteren globalen Eskalation, die Furcht vor einem | |
| dritten Weltkrieg, vor einer nuklearen Selbstzerstörung der Menschheit, die | |
| spüren immer mehr Menschen. Und sie wird geschürt, von Putin bewusst | |
| eingesetzt, um uns einzuschüchtern. | |
| Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bewegt sich von einer | |
| Eskalationsstufe in die nächste: nordkoreanische Soldaten und eine neue | |
| Nukleardoktrin, amerikanische Langstreckenraketen, russische | |
| Interkontinentalraketen. | |
| ## Unsere Angst ist nichts gegen die Angst der Ukrainer*innen | |
| Die Angst vor einer weiteren Eskalation, die wir hier empfinden, in unseren | |
| beheizten Wohnungen und mit unseren vollen Supermarktregalen, ist | |
| selbstverständlich nichts gegen die Angst, die Ukrainer*innen spüren | |
| müssen, während Bomben auf ihre Häuser fallen. Aber Angst verstummt durch | |
| solche Vergleiche nicht. Niemand hat jemals seine Angst verloren, weil man | |
| ihm sagte, sie sei unbegründet oder lächerlich. | |
| Jetzt Angst zu haben ist sogar vernünftig: Die vergangenen Jahre und Monate | |
| haben gezeigt, dass Krisen wahrscheinlich sind. Die Klimakrise sorgt für | |
| immer mehr Naturkatastrophen. Die Coronapandemie hat bleibende Brüche, | |
| viele Tote und dauerhaft Kranke hinterlassen. Amerika hat erneut den | |
| autoritären Trump gewählt, die Ampelregierung ist geplatzt, die politische | |
| Zukunft Deutschlands ist ungewiss. Die AfD wird in Umfragen immer stärker. | |
| Angst ist ein lautes Gefühl, sie lässt sich schwer ignorieren. Das hat | |
| einen Zweck. Sie soll uns davor schützen, dass wir uns in Gefahr begeben. | |
| Sie soll uns dazu zwingen, uns vorzubereiten. Aber wir können sie | |
| bewältigen, wenn wir sie anerkennen, innehalten, nachdenken und | |
| Handlungsoptionen abwägen. Wenn wir das nicht machen, wird Angst zur Panik | |
| und bei Panik helfen nur noch schnelle Lösungen, einfache Wege. | |
| Rechte Populist*innen bieten solche einfachen Lösungen, versprechen | |
| Sicherheit, auch wenn sie keine geben können. Die Wahrheit ist, dass | |
| niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Wir wissen nicht, wie Putin | |
| sich verhalten wird, ob mehr oder weniger Waffenlieferungen an die Ukraine | |
| noch mehr Eskalation wirklich verhindern können. | |
| ## Wie wird es uns in fünf Jahren gehen? | |
| Genauso wenig wissen wir, wie es uns persönlich in fünf Jahren geht. Werden | |
| wir eine schwere Krankheit kriegen? Wird unsere Ehe geschieden? Wird unser | |
| Mietvertrag gekündigt? Werden wir arbeitslos? | |
| Unsere Angst vor dem Unheil und unsere Angst davor, das Falsche zu tun, | |
| entlässt uns nicht aus der Verantwortung, schwere Abwägungsprozesse zu | |
| durchlaufen, zu schauen, welches die beste Lösung sein könnte, und sich | |
| darauf vorzubereiten, dass auch alles ganz anders kommen könnte als wir es | |
| uns vorgestellt haben. | |
| Es gilt die Unsicherheit auszuhalten. Vielleicht gelingt das besser, wenn | |
| wir in die Vergangenheit schauen: Im September 1983 findet eine Anhörung im | |
| US-Repräsentantenhaus statt. Die Welt ist da gerade, ausgelöst durch einen | |
| Fehlalarm, knapp an einem umfassenden Atomkrieg zwischen der Sowjetunion | |
| und dem Westen vorbeigeschlittert. | |
| Im Kongress sind als Zeug*innen Kinder und Jugendliche geladen, um über | |
| ihre Angst vor einem Atomkrieg zu sprechen. Ein zwölfjähriger Junge sagt: | |
| „Ich denke fast jeden Tag über die Bombe nach. Es macht mich traurig und | |
| niedergeschlagen, wenn ich darüber nachdenke, dass sie abgeworfen wird. Ich | |
| hoffe, ich werde bei meiner Familie sein, ich möchte nicht alleine | |
| sterben.“ | |
| Der Zwölfjährige ist heute wahrscheinlich ein 53-jähriger Mann. Seine | |
| Angst, an einer Atombombe zu sterben, ist nicht wahr geworden. Der | |
| nuklearen Aufrüstung im Kalten Krieg folgten Jahre der Abrüstung, neue | |
| Atommächte kamen hinzu, es gab weitere Kriege, Finanzkrisen, eine Pandemie. | |
| Wahrscheinlich wurde das Leben dieses Mannes letztendlich von anderen | |
| Sorgen bestimmt – um seine Kinder, seine Ehe, seinen Job. | |
| Wahrscheinlich ist auch, dass seine Kinder heute die gleichen Ängste haben | |
| wie er damals. So fatalistisch das klingt: mit Angst müssen wir leben. Und | |
| wir können das. | |
| 23 Nov 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Luisa Faust | |
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