| # taz.de -- Reaktionen auf Sylt-Video: Was bringt die Aufregung? | |
| > Rechtspopulisten und Nazis soll und kann man nicht ignorieren. Aber | |
| > moralische Dauerempörung führt bei ihnen leider selten zur moralischen | |
| > Umkehr. | |
| Bild: …war mal ein Wahlplakat der Grünen, machen, was zählt | |
| Es ist sinnlos, darüber zu streiten, ob Schnappatmung über ein paar | |
| [1][Naziparolen grölende Deutsche] auf der Insel Sylt angemessen ist oder | |
| nicht. Sinnvoll ist hingegen, zu klären, was die Aufregung bringt. Und wem | |
| sie etwas bringt. | |
| Uns Medien bringt sie auf jeden Fall etwas, denn Aufregung ist unser | |
| Geschäftsmodell. Dem Einzelnen kann sie ein geiles Gut-Böse- oder ein | |
| deprimiertes „Alles immer schlimmer“-Gefühl geben. Kontraproduktiv wird es, | |
| wenn Linksliberale in einem Anfall von antiaufklärerischem Simpeldenken | |
| [2][„die Reichen“ als Gruppe stigmatisieren], zu deren Gruppenidentität | |
| neben Fahren großer Autos und Tragen geschmackloser Pullover die Neigung | |
| zum Faschismus gehöre. | |
| Das „Narrativ“ ist die „sinnstiftende Erzählung“ einer Gesellschaft od… | |
| Zeit, also wie wir die Welt wahrnehmen. In den schönen | |
| Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik war die Story, dass alles immer | |
| besser wird (was für sehr viele hier auch stimmte). Nun geraten wir mehr | |
| und mehr in ein „Krisennarrativ“ (Armin Nassehi). Angesichts der | |
| Entwicklungen naheliegend, doch die Frage ist auch hier, für wen diese | |
| Story sinnstiftend ist, dass alles immer schlimmer wird. | |
| ## Illiberale Kräfte und Krisengefühl | |
| Hilfreich ist sie für illiberale Kräfte, denen daran gelegen ist, Angst, | |
| Wut, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten, um die Verteidigungskraft der | |
| liberalen Demokratie zu schwächen. Wenn dann noch die Union und die | |
| Regierungspartei FDP rumheulen, wie schlimm alles sei („alles“ meint hier | |
| die Grünen), dann zahlt auch das für die Stärkung eines [3][allgemeinen | |
| Krisengefühls] ein. | |
| Nun bringt es andererseits auch nichts, wie es der Zufallskanzler Olaf | |
| Scholz gern praktiziert, einfach so zu tun, als laufe doch alles prima, | |
| Füße schön auf dem Tisch lassen. Weil es eben doch nicht mehr so einfach | |
| weiterläuft, werden noch mehr Leute wütend. | |
| Jetzt sagen manche, man müsse halt mit uns Leuten endlich „wie mit | |
| Erwachsenen“ reden, müsse offen sagen, dass es eben nicht mehr so | |
| weitergehen könne mit Rente, Bundeswehr und Gasheizungen. Bloß hat der | |
| Vizekanzler das ja im letzteren Fall probiert und ist von heterogenen, aber | |
| vereint wirkenden Kräften knallhart zurückgeschlagen worden. (Klassisches | |
| Wording: „Aber doch nicht sooo.“) | |
| Kurzum: Wir hängen fest. Nach dem unwürdigen „Fortschritts“-Blabla der | |
| Ampel braucht es eine Koalitionsperspektive, die die Kraft, Kompetenz und | |
| Bereitschaft hat, eine Mehrheit für einen differenzierten | |
| Fortschrittsbegriff zu gewinnen, der statt Wegducken einen produktiven | |
| Umgang mit den veränderten Realitäten – planetarisch, geopolitisch, | |
| wirtschaftlich, militärisch – ermöglicht. Aber diese politische Perspektive | |
| gibt es nicht, die eine Mehrheit dazu bringt, vertrauensvoll zu sagen: | |
| Okay, so geht es nicht mehr weiter – aber anders! | |
| ## Eskalierende Gesellschaftsbetrachtung | |
| Diese fehlende Perspektive ist eine Grundlage dafür, dass die | |
| Mediengesellschaft sich mit Volldampf der Erweiterung des Krisennarrativs | |
| widmet und dieses über Polarisierungsgeschichten vorantreiben wird. | |
| Freund-Feind, wir gegen die. Ich will überhaupt nicht darauf hinaus, dass | |
| man Rechtspopulisten und Nazis ignorieren sollte und kann, im Gegenteil, | |
| Justitiables muss knallhart bestraft werden. Aber darüber hinaus braucht es | |
| eine Methode, die wirklich funktioniert. Es war ja eben gerade auch | |
| dauermoralische Entrüstung der Liberalen, auf deren Grundlage Donald Trump | |
| Präsident wurde. | |
| Der Spruch „Wer AfD wählt, ist ein Nazi“ und reflexhafte Nazifizierung von | |
| Andersdenkenden führt nicht zu deren moralischer Umkehr, sondern ist | |
| Brennstoff für eine eskalierende Gesellschaftsbetrachtung in den festen | |
| Identitäten Freund und Feind, aus der nichts Liberales, Emanzipatorisches, | |
| Friedliches folgen kann. Das Krisennarrativ und das Identitätennarrativ | |
| blockieren die Möglichkeit einer ordentlichen Zukunft. | |
| Think about it. | |
| 1 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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