# taz.de -- Was 2024 passieren muss: Machen statt Meckern | |
> 2023 war kein gutes Jahr. Politik und Gesellschaft stecken in einer | |
> Sackgasse. Wie kommen wir da wieder raus? Ein Plädoyer. | |
Bild: Stimmungsbarometer: Übermalte Flohmarkt-Fotos haben Max Kersting, Jahrga… | |
Wie kann man über die Zukunft schreiben, ohne dass es in eine geile | |
Apokalypse, eine sinnlose Moralpredigt oder eine gutgemeinte, aber | |
unrealistische Alles-wird-gut-Fantasie abgleitet? | |
Und wie kann man glasklar sagen, was Sache ist? | |
Gar nicht. Alles ist kompliziert und ambivalent, leider. Es bringt gar | |
nichts, zu entdifferenzieren und wieder das alte (Wir sind gut, die anderen | |
böse) Spiel zu spielen. Schlimmer: Es ist sogar kontraproduktiv. | |
Andererseits bringt es aber auch nichts, die Augen zuzumachen, sagen wir, | |
[1][vor den imperialen Interessen Russlands], wie es die SPD jahrelang | |
praktizierte, und zu denken, man könne mit Wandelhandel best friends mit | |
allen werden – oder gar religiös-totalitäre Staaten mit feministischer | |
Außenpolitik bekehren wie manche Grüne. | |
Auf der einen Seite gibt es zunehmend Leute, die Zukunft für ein | |
Schimpfwort und eine Zumutung halten, nichts damit zu tun haben wollen und | |
vor allem nicht, dass jemand aktiv Zukunftspolitik macht. Sie denken, wenn | |
wir nichts aktiv ändern, dann ändert sich auch nichts, bisschen mehr | |
umverteilen halt. Eigentlich wissen sie, dass es so nicht läuft, aber wie | |
Menschen halt sind, machen wir lieber die Augen zu als auf. Dahinter steht | |
die stärker werdende Erzählung des „nostalgischen Nationalismus“. Was | |
zählt, ist der eigene Schrebergarten. Es gibt sie in unterschiedlichen | |
Ausprägungen, milder und heftiger, linker und rechter, staatsnäher und | |
staatsferner. Ironischerweise sind gerade Turboliberale überzeugt, dass | |
alles den Bach runtergeht, wenn sich was ändert. | |
Vor allem die Bewahrung der planetarischen Grundlagen ist schlecht | |
angesehen und wird von populistischer Politik diffamiert: Ha’m wa doch noch | |
nie gemacht! Nicht nur AfD, sondern auch CDU, CSU, SPD, FDP und Wagenknecht | |
stellen einen weitgehend bewohnbaren Planeten gern als ideologiegetriebenen | |
Elitismus von akademischen Schnöselinnen und Schnöseln hin, die damit nicht | |
den Wohlstand durch postfossile Produkte und Produktion erhalten, sondern | |
den tollen Verbrennungsmotor und im Grunde die ganze Industrie zerstören | |
wollen. Die Bratwurst nicht zu vergessen. | |
## Schöner wär’s, wenn’s schöner wär’ | |
Auf der anderen Seite gibt es Leute, die einfach immer weiter daherreden, | |
dass Frieden doch besser sei als Krieg, keine Waffen besser als Waffen, und | |
dass wir das 1,5-Grad-Ziel schaffen, wo wir faktisch eine globale Politik | |
machen, die auf das 3-Grad-Ziel hinwirtschaftet. Schöner wär’s, wenn’s | |
schöner wär’, klaro. | |
Es reicht aber nicht, einfach immer ambitioniertere Zahlen auf Papiere zu | |
schreiben, solange wir das Gesagte und Geschriebene nicht ausreichend | |
machen, also zügig und komplett von fossiler auf erneuerbare Energie | |
umsteigen. Beispiel aus dem zu Ende gehenden Jahr: Wenn die Emissionen im | |
Gebäudebereich sinken sollen, was sie laut Pariser Abkommen müssen, dann | |
muss man anders heizen, nämlich fossilfrei, und darf nicht neue Öl- und | |
Gasheizungen einbauen. | |
Jetzt wird man sagen: Genau, aber dass das nicht passiert, liegt ja nicht | |
an unsereins, sondern an den anderen. [2][Oder an einem angeblich | |
vermurksten Gesetz.] Das muss man halt richtig machen und sozial und | |
richtig kommunizieren, dann klappt das auch. Ja, kann sein. Aber im Moment | |
kann niemand, nicht mal Robert Habeck, so sprechen, dass die | |
Zukunftserzählung den nostalgischen Nationalismus schlagen könnte. Und die | |
„soziale Frage“ ist selbstverständlich zentral für | |
demokratiestabilisierende Veränderung. Aber sie ist eben gleichzeitig auch | |
eine perfide Chiffre, die jeder Lobby-Hanswurst verwendet, wenn es etwas zu | |
verhindern gibt, aber leider nicht zum Wohl der alleinerziehenden | |
Supermarktverkäuferin, sondern im Sinne der fossilen Besitzstandswahrer. | |
## Menschen mit konservativen Bedürfnissen | |
Kulturlinke und Linksemanzipatorische rufen gern, die Gesellschaft drifte | |
nach rechts, und nazifizieren fleißig alle, die nicht wie sie sprechen und | |
denken. Liberalkonservative wähnen sich in einem linksautoritären Staat | |
(sic!) und halten alles für „links“, was ihnen nicht passt, vom Gendern bis | |
zum postfossilen Wirtschaften. Ich dagegen denke, dass wir in einer recht | |
stabilen Demokratie leben. Aber es fehlt das Commitment auf ein gemeinsames | |
Ziel, durch dessen Erreichen jeder in einer liberal-emanzipatorischen | |
Gesellschaft seine Idiosynkrasien auch in Zukunft pflegen kann. | |
Die überwiegende Mehrheit der Leute hat konservative Bedürfnisse, um im | |
Alltag klarzukommen und Halt zu spüren. Das gilt für Union, SPD und | |
Rest-Linkspartei sowieso, aber eben auch für die, die mittlerweile | |
entschlossen die postfossile Republik voranbringen wollen. Diese Leute | |
entsprechen überwiegend nicht den Ressentiment-Schablonen der Gegner oder | |
den Träumen der Alt- und Neolinken. Sie sind weder antikapitalistisch noch | |
superwoke, sie schätzen und stützen die gesellschaftliche Liberalisierung | |
der letzten Jahrzehnte, sie brauchen Sicherheit und Perspektive, | |
ordentliche Kitas für ihre Kinder, eines Tages Pflege für ihre Eltern und | |
sich selbst. Auf dem Land ein E-Auto und – je nachdem – auch mal eine | |
Bratwurst. Sie finden Deutschland okay, im Vergleich mit anderen Staaten | |
und Zeiten sowieso. Und sie wissen, dass sie mit anderen auskommen müssen, | |
die manches anders sehen. | |
Das sind die normalen Leute, mit denen Staat zu machen ist. | |
Nun wird es für sie – für uns – darum gehen, dagegenzuhalten, wenn die | |
Aufregungszuständigen im kommenden Jahr hyperventilieren (was sie auf jeden | |
Fall tun werden). Für uns Medien wird das eine echte Herausforderung, denn | |
wir leben ja von der Verbreitung des Negativen und der negativen Emotionen. | |
Für die Protagonisten der oppositionellen Union wird es ein Balanceakt, | |
denn irgendwo ist der Punkt, wo populistisch überzogenes Schlechtreden | |
antidemokratische Wirkungen hat, etwa wenn man umstrittene, aber | |
handelsübliche Gesetzesreformen zur Staatskrise und Ökodiktatur hochjazzt. | |
## Ständig in Sorge | |
Es wird nichts mehr, wie es war, und es wird – erst mal – immer noch ein | |
neues Problem dazukommen. Das ist das neue Normal, und auf dieser Grundlage | |
müssen wir etwas hinkriegen. Pandemie, Putin, [3][AfD], Israel/Hamas/Gaza, | |
Bundesverfassungsgericht. Man plant was – und dann kommt was dazwischen. | |
Man plant um – und dann kommt der nächste Hammer. Die Zerrissenheit der | |
Bundesregierung ist selbstredend ein großes Problem, aber sie drückt aus, | |
dass die bundesdeutsche Gesellschaft keine gemeinsamen Ziele hat und zu | |
viele ständig in Sorge sind, dass sie oder ihr Stamm zu kurz kommen. | |
Wenn wir auf das deutsche Wahljahr 2024 schauen, dann sollten | |
liberaldemokratische Politik und Medien vorher einen Plan entwickeln, wie | |
wir mit Wahlsiegen der AfD umgehen. Wir sollten nicht nur schön warnen, | |
dann „fassungslos“ sein (das neue Modewort) und die üblichen „Oh Gott, | |
Weimar reloaded“-Kommentare absetzen und „antifaschistische“ Demos | |
besuchen. Selbstverständlich sind Landesregierungen ohne Demokratiefeinde | |
wichtig, aber wichtiger ist die EU-Wahl im Mai, wenn der Green Deal und | |
damit die Zukunft Europas auf dem Spiel steht. Es geht darum, ob | |
EU-Präsidentin Ursula von der Leyen von europäischen Rechtspopulisten und | |
nationalen CDU-Strategie-Erwägungen gelähmt oder ob sie gar geschasst wird | |
– oder ob es eine mehrheitliche Grundlage dafür gibt, in der nächsten | |
Legislatur ernsthaft eine [4][Antwort auf Präsident Bidens Inflation | |
Reduction Act und Chinas breiten Vormarsch] zu finden, der uns Europäer im | |
Geschäft hält (im Sinne des Wortes). | |
Weil wir Bundesdeutsche in aller historisch gebotenen Zurückhaltung schon | |
zum selbstbezogenen Superlativ neigen, wird aus einer schwierigen Lage | |
flugs eine katastrophale. Na ja. Diverse Fortschritte setzen sich fort, | |
technologische, vor allem auch medizinische. Menschen leben besser, länger | |
und länger bei ordentlicher Gesundheit. Historisch und global gesehen, ist | |
diese Bundesrepublik (Freiheit, Emanzipation, Wohlstand) nach wie vor mit | |
die Beste aller bisherigen Welten. Es geht halt nur nicht mehr so weiter | |
wie bisher. Deshalb braucht es gemeinsame Ziele und eine neue, durch große | |
gesellschaftliche Bündnisse ermöglichte Art des Politikmachens – Betonung | |
auf Machen. | |
## Yogamatte reicht nicht | |
Im Moment sind wir noch in einer Phase der Verwirrung. Wir haben einen | |
gesamtgesellschaftlich lähmenden Pessimismus, einen teilgesellschaftlichen | |
Nihilismus, einen gelähmten und damit nichtsnutzigen Optimismus, der von | |
einer schöneren Welt träumt, und wir brauchen Mehrheiten für einen | |
knallharten und gleichzeitig empathischen Realismus, der uns handlungsfähig | |
macht und unsere Ziele durchsetzungsfähig. | |
Mit Yogamatten wird unsere Freiheit nicht zu verteidigen sein, um mal einen | |
weisen Spruch des Bundesministers Cem Özdemir zu paraphrasieren. Schon gar | |
nicht, wenn Trump wieder Präsident wird. Wir brauchen Solarpaneele, | |
Solarpaneel-Installateure, funktionierende Pflegesysteme, Pflegekräfte, | |
weltweit konkurrenzfähige Elektroautos und im diplomatisch-militärischen | |
Bereich eine europäische Verteidigung und Abschreckung. Es tut mir leid, | |
aber wir müssen wieder über Atom diskutieren. | |
30 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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