# taz.de -- Agrarpolitik in der EU: Umwelt? Nicht mehr so wichtig! | |
> Bei der Europawahl entscheidet sich, ob die EU noch weniger Naturschutz | |
> von den Landwirten verlangen wird. Viele Bauern würden das begrüßen. | |
Bild: Besonders in Brüssel merkte man den Unmut der Milchbäuer*innen auf der … | |
DION/BRÜSSEL taz | Stéphane Godfriaux ist eigentlich ein sympathischer, | |
offener Bauer. Der Landwirt aus der belgischen Gemeinde Dion nahe Brüssel | |
hat kein Problem damit, eine ganze Gruppe Journalisten durch seinen Hof zu | |
führen. Seine kleine Enkelin hat er auf dem Arm, seine Frau steht in | |
Gummistiefeln neben ihm. Aber als man ihn danach fragt, wie er die | |
EU-Agrarpolitik findet, weicht das Lächeln aus seinem Gesicht. | |
„Nicht gut“, sagt der Milchbauer etwas ungehalten. „Es gibt immer mehr | |
Regeln und immer weniger Geld.“ Wo die Milchpreise doch sowieso zu niedrig | |
seien. „Würden Sie mehr arbeiten für weniger Geld?“ Dabei macht der Belgi… | |
eine Geste, als ob ihm jemand ein Messer an den Hals hielte. | |
Für Godfriaux und viele seiner Kollegen etwa in Deutschland sind die | |
Zahlungen der Europäischen Union unverzichtbar. Er hat nur 50 Milchkühe, | |
die eben nicht so viel Milch und damit Geld generieren wie größere Herden. | |
Da fallen die ungefähr 27.000 Euro, die er 2022 dem belgischen | |
Agrarministerium zufolge von der EU bekam, durchaus ins Gewicht. | |
Die Subventionen für die Landwirtschaft sind mit 55 Milliarden Euro | |
jährlich der zweitgrößte Posten im Haushalt der Staatengemeinschaft. Ohne | |
das Geld kann sein Hof nicht überleben. Aber Godfriaux fordert, dass der | |
Staat dafür zum Beispiel weniger Umweltschutzbedingungen stellt. | |
## EU weicht Regelungen auf | |
Genau diesen Weg hat die EU bereits eingeschlagen. Auch nachdem Godfriaux’ | |
Sohn und andere Landwirte zum Beispiel in Brüssel teils recht aggressiv | |
demonstriert haben. Die Europäische Union nahm etwa die bereits | |
beschlossene Regelung zurück, wonach ein Bauer mindestens 4 Prozent seiner | |
Ackerfläche für die Natur reservieren sollte – wenn er denn | |
Direktzahlungen, die wichtigsten Agrarsubventionen, erhalten will. | |
Und auf Höfen mit höchstens 10 Hektar Agrarfläche sollen die Behörden gar | |
nicht mehr kontrollieren, ob die Umweltvorschriften eingehalten werden – | |
das sind laut EU-Kommission 65 Prozent aller Betriebe. Doch Godfriaux sagt | |
dazu: „Das wird nicht viel verändern. Wir haben immer noch zu wenig | |
Freiheit.“ Er dürfe nach wie vor nicht genug düngen und Pestizide spritzen. | |
Mit Kontrollen muss er weiter rechnen, weil er rund 80 Hektar | |
bewirtschaftet. | |
Wenn bei der EU-Wahl am Sonntag Parteien wie die CDU, FDP oder AfD stärker | |
werden, könnte das künftige EU-Parlament zusammen mit dem Rat der | |
Mitgliedstaaten weitere Umweltbedingungen für die Agrarsubventionen | |
streichen. Parteien wie Grüne, Linke und SPD lehnen das eher ab. | |
## Die Landwirtschaft schadet dem Klima | |
In der Agrarpolitik geht es um die Branche, die die Bevölkerung ernährt. | |
Aber die Landwirtschaft ist auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass | |
immer mehr Pflanzen- und Tierarten aussterben. In Deutschland | |
beispielsweise hat sie ungefähr die Hälfte der Landfläche unter Beschlag. | |
Die Branche verursacht inklusive der Emissionen aus Böden und Maschinen | |
laut Umweltbundesamt 13 Prozent der Treibhausgase hierzulande. Viele Tiere | |
werden unter Bedingungen gehalten, die die meisten Menschen [1][Umfragen | |
zufolge kritisieren.] | |
Das gilt auch für die „Anbindehaltung“ wie auf dem Hof von Godfriaux. | |
Seine Milchkühe sind angekettet: Sie können ihre nur rund 1,30 Meter | |
breiten Plätze im Stall nicht verlassen, weil an ihren Halsbändern Ketten | |
hängen, die an einem Metallgerüst vor und neben den Tieren befestigt sind. | |
Auch in Deutschland lebten 2020 laut dem bundeseigenen | |
Thünen-Agrarforschungsinstitut 10 [2][Prozent aller Rinder] in der | |
Anbindehaltung, die den Bewegungsdrang der Tiere erheblich einschränkt, | |
Schmerzen und Schäden verursachen kann. Immerhin sagt Godfriaux, dass er | |
seine Kühe normalerweise von Ende April bis Ende September auf die Weide | |
lasse – nur dieses Jahr zumindest bis Ende Mai nicht, weil die Böden wegen | |
starken Regens zu weich seien. Für einen Laufstall fehle ihm das Geld. | |
## Fokus auf die Landwirtschaft | |
Doch Umweltprobleme sind bei wichtigen Beamten der EU-Kommission in den | |
Hintergrund gerückt. Die Behörde, die für Parlament und Rat die | |
Gesetzesvorlagen entwirft, hat ihren Hauptsitz in dem kreuzförmigen | |
Berlaymont-Gebäude in Brüssel. EU-Flaggen wehen davor, in der Umgebung | |
haben Abteilungen der Kommission ihre Büros. Ein hochrangiger Mitarbeiter | |
sagt: „Die Bauernproteste beschäftigen uns fast jeden Tag.“ | |
Viele Landwirte bangten um ihr Geschäftsmodell. Ein anderer | |
EU-Verantwortlicher redet zuerst lange darüber, dass die Europäische Union | |
fast alle Lebensmittel überwiegend selbst produzieren kann, dass seit 2010 | |
mehr als 3 Millionen der vorher 12 Millionen Bauern aufgegeben hätten, dass | |
die Landwirte doch die Kulturlandschaft pflegen würden. | |
Das wichtigste Ziel für zuständige Kommissionsbeamte scheint derzeit zu | |
sein, Bauern einen „angemessenen Lebensstandard“ zu garantieren, | |
Klimaschutz beispielsweise erwähnen sie in ihren Vorträgen vor den | |
Journalisten erst später. | |
Der für Landwirtschaft zuständige Sprecher der Kommission weist auch Kritik | |
an der Rücknahme von Umweltauflagen für die Subventionen zurück. „Die | |
Kernelemente der grünen Architektur der Direktzahlungen sind immer noch | |
da“, sagt Olof Gill. | |
## Ökoregelungen nicht bindend | |
32 Prozent des gesamten Agrarbudgets würde für freiwillige Maßnahmen zur | |
Förderung der Umwelt-, Klima- und Tierschutzziele bereitgestellt. Landwirte | |
bekommen dieses Geld zum Beispiel im Rahmen von „Ökoregelungen“, wenn sie | |
Blühstreifen auf Ackerland anlegen, mehr Pflanzenarten anbauen oder auf | |
Pestizide verzichten. | |
„Die Ökoregelungen sind freiwillig. Die Landwirte müssen die nicht | |
wahrnehmen, und das werden sie gerade auf den besseren Standorten auch | |
nicht“, widerspricht Friedhelm Taube, Agrarprofessor an der Universität | |
Kiel. | |
Schon jetzt würden die Landwirte das Budget für die Ökoregelungen nicht | |
ausschöpfen, weil es sich für sie ökonomisch nicht lohne, so Taube. Auch | |
deshalb haben gerade mehr als 10 Vereinigungen von Wissenschaftlern in | |
einem offenen Brief verlangt, die jüngsten Streichungen von Vorschriften | |
zurückzunehmen. | |
Die Verantwortlichen in Brüssel überlegen jedoch, noch mehr Forderungen | |
nach weniger Umweltschutz aus der Bauernschaft entgegenzukommen. Die | |
Beamten stellen zum Beispiel infrage, ob die „Konditionalitäten“ genannten | |
grundlegenden Umweltvorschriften für die Direktzahlungen künftig von den | |
einzelnen Höfen erfüllt werden müssen, wie aus Kreisen der Kommission | |
verlautet. | |
## Klagen über Bürokratie | |
Vielleicht reiche es ja, dem jeweiligen Mitgliedstaat zum Beispiel Ziele | |
zur Artenvielfalt vorzugeben. Wenn sich dieser Vorschlag durchsetzt, könnte | |
der einzelne Landwirt also etwa Mais-Monokulturen anbauen, ohne EU-Geld zu | |
verlieren. Ob und wie die Mitgliedstaaten dennoch für Artenvielfalt sorgen | |
sollen, ist ungewiss. | |
Doch maßgebliche Teile der Kommission wollen Bauern wie Godfriaux | |
zufriedenstellen, der darüber klagt, dass es so kompliziert sei, die | |
Agrarhilfen zu beantragen. Er hält den Journalisten einen gut gefüllten | |
DIN-A4-Umschlag vor die Nase: So einen Antrag für die Subventionen muss er | |
jedes Jahr einreichen. Auf einem Blatt ist ein Satellitenbild seiner Felder | |
zu sehen. | |
„Da muss ich bis 31. Mai eintragen, was ich gesät habe, aber wegen des | |
Wetters kann ich noch gar nicht alles aussäen“, kritisiert der Bauer. Er | |
weiß offenbar nicht, dass genau in solchen Situationen die Mitgliedsländer | |
seit den neusten Beschlüssen der EU Ausnahmen ermöglichen dürfen. | |
Jede zusätzliche Anforderung kann für Godfriaux Kosten verursachen. Das ist | |
hart für jemanden, dem es ökonomisch nicht sehr gut zu gehen scheint. Wer | |
Milchbauer sein will, müsse bereit sein, von 5 Uhr morgens bis abends um 7 | |
Uhr zu arbeiten, erzählt der Landwirt. Und das jeden Tag, Urlaub ist kaum | |
möglich. Für Angestellte haben so kleine Betriebe in der Regel kein Geld. | |
## Nachfrage nach teurer Milch bleibt aus | |
Eigentlich würde der Bauer gern auf die Subventionen verzichten. Aber da | |
der Markt keinen fairen Preis für seine Produkte zahle, komme er nicht ohne | |
sie aus, sagt Godfriaux. Er ist auch Mitglied in einer Genossenschaft, die | |
bessere Preise für einen Teil seiner Milch aushandelt. Der Marktanteil der | |
im Supermarkt teureren Milch ist allerdings immer noch gering. | |
Auf was für Widerstände höhere Kosten für die Ernährung stoßen, hat der | |
Unmut wegen der Inflation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im | |
Februar 2022 gezeigt. Fraglich ist auch, ob die Milchpreise überhaupt | |
steigen müssen. Denn viele Höfe kommen mit ihnen klar. | |
„Insgesamt sind die Milchpreise beispielsweise derzeit auskömmlich für gut | |
aufgestellte Betriebe“, sagt Alfons Balmann, Leiter des Leibniz-Instituts | |
für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien in Halle. Das Problem: | |
Höfe wie der von Stéphane Godfriaux mit nur 50 Kühen sind das eher nicht. | |
Transparenzhinweis: Die Recherchereise wurde von der EU-Kommission | |
organisiert und finanziert. | |
3 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.beuc.eu/sites/default/files/publications/BEUC-X-2024-016_Farm_a… | |
[2] https://www.thuenen.de/de/themenfelder/nutztierhaltung-und-aquakultur/nutzt… | |
## AUTOREN | |
Jost Maurin | |
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