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# taz.de -- Politische Kriminalität auf Allzeithoch: Hass ohne Ende
> Die Zahl politischer Straftaten steigt auf ein Allzeithoch, vor allem bei
> rechten Delikten. Auch der Nahostkonflikt schlägt sich deutlich nieder.
Bild: Sehen eine Bedrohung der Demokratie durch die politische Gewalt: BKA-Prä…
Berlin taz | Es sind Taten wie die Schüsse eines Rechtsextremisten auf eine
schwangere Pakistanerin im Mai 2023 in Hamburg, abgefeuert von außen durch
ihre Wohnungstür – die Frau überlebte. Oder der Fall eines Mannes in
Regensburg, der im Oktober einen 20-jährigen Syrer aus rassistischen
Gründen unvermittelt von einer Brücke stieß. Oder die [1][Schläge eines
Lehrers in Cottbus gegen einen 12-jährigen syrischen Schüler], wonach
dieser stationär ins Krankenhaus musste.
All dies waren politisch motivierte Straftaten im vergangenen Jahr – und
ihre Zahl stieg erneut auf ein Allzeithoch. [2][Gab es bereits im Jahr 2022
einen Spitzenwert seit Einführung der Statistik beim Bundeskriminalamt
(BKA) im Jahr 2001], gab es im vergangenen Jahr eine Steigerung noch einmal
um knapp 2 Prozent auf 60.028 Straftaten. Damit hat sich die Zahl der
registrierten politischen Straftaten in den vergangenen zehn Jahren
verdoppelt.
8.011 der registrierten Straftaten waren sogenannte Hasspostings im
Internet. Ihre Zahl stieg um 135 Prozent, auch die Polizei hier genauer
hingeschaut habe, betonte das BKA.
[3][Den mit Abstand größten Teil stellten 2023 rechte Straftaten], mit
28.945 Delikten. Das bedeutet einen Anstieg um 23 Prozent zum Vorjahr – und
ebenfalls den höchsten Stand seit 2001. Es folgen 16.678 Straftaten, welche
die Polizei der Kategorie „sonstige“ zuordnete, in die etwa Reichsbürger
fallen oder Coronaprotestierende. Im Vorjahr machte diese Gruppe [4][noch
den größten Anteil aller Delikte aus], nun sank er um ein Drittel – auch
weil die Coronaproteste zuletzt deutlich abnahmen.
## Alle Bereiche steigen – bis auf eine Ausnahme
Linke Straftaten stiegen um 11 Prozent auf 7.777 Taten. Einen Großteil
machten hier vor allem die Klimaproteste der Letzten Generation und anderen
aus, bei denen 3.303 Taten gezählt wurden, welche die Polizei zu drei
Vierteln der linken Szene zurechnete.
Auch Delikte, die durch „ausländische Ideologie“ motiviert waren, stiegen
um ein Drittel auf 5.170. Hier zählen etwa Straftaten mit Bezug zum Nahost-
oder Ukrainekrieg dazu oder Auseinandersetzungen zwischen hiesigen
PKK-Anhänger*innen und nationalistischen Türk*innen. Auf kleinerem Niveau,
aber sehr deutlich, stiegen auch „religiös motivierte“ Straftaten, worunter
islamistische fallen: von 481 auf 1.458 Delikte. Auch dieser Anstieg hat
vor allem mit Reaktionen der Szene auf den Nahostkrieg zu tun.
Ein Drittel der politischen Straftaten waren Propagandadelikte. Im rechten
Bereich machten sie gut die Hälfte aller Straftaten aus. Aber auch bei den
Gewalttaten lag die rechte Szene vorne: mit 1.270 Delikten, ein Anstieg von
8,5 Prozent zum Vorjahr und der höchste Stand seit 2016. Darunter waren
auch vier versuchte, rechte Tötungsdelikte. Linke Gewalttaten lagen bei 916
Delikten, „sonstige“ bei 794.
Im Bereich der „religiösen“ und „ausländischen“ Ideologie kam es auch…
drei vollendeten Tötungsdelikten: [5][So hatte etwa in Duisburg ein
Islamist einen 35-Jährigen erstochen und vier weitere Männer schwer
verletzt], weil er „Ungläubige“ töten wollte. Der zweite Fall war der
[6][Angriff auf eine Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg], bei dem im
März 2023 sechs Menschen getötet. Bei dem dritten Fall handelt es um eine
Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen in Offenbach im August, bei der
ein Mann ums Leben kam.
Insgesamt sanken politische Gewalttaten aber um 11,9 Prozent – hier jedoch
nur, weil sich der Bereich „sonstige“ in diesem Feld fast halbierte.
Dafür schlugen sich die Reaktionen auf [7][den neu aufgeflammten
Nahostkrieg] in der Statistik deutlich nieder. Insgesamt zählte das BKA
4.369 Straftaten im Kontext des Nahostkonflikts – im Vorjahr waren es 61.
Von diesen Taten waren 223 Gewaltdelikte. Die meisten der Straftaten, 63
Prozent, wurden dem Bereich „ausländische Ideologie“ zugeordnet. Das BKA
gründete nach den Hamas-Angriffen auf Israel am 7. Oktober eigenes ein
neues Themenfeld „Hamas“.
## Zahl antisemitischer Straftaten verdoppelt
Insgesamt verdoppelten sich antisemitische Straftaten fast zum Vorjahr, auf
5.164 Delikte. Die Hälfte der Taten wurde nach dem 7. Oktober notiert. Und
immer noch mehr als die Hälfte der antisemitischen Taten wurde „rechts“
einsortiert, ein Fünftel als „ausländisch“ motiviert. Zugleich stiegen au…
islamfeindliche Straftaten von 610 auf 1.464 Fälle. 70 Moscheen wurden im
vergangenen Jahr angegriffen und 42 Synagogen – aber auch 92 Kirchen.
Den größten Anteil bei der Hasskriminalität machen aber erneut
„fremdenfeindliche Taten“ aus, sie stiegen von 10.038 auf 15.087 Delikte.
Auch Taten, die auf die sexuelle Orientierung der Opfer zählten, stiegen
von 1.005 auf 1.499 Delikte an.
Das BKA besorgen auch die Angriffe auf politisch Aktive, wie zuletzt die
[8][Attacke auf den sächsischen SPD-Europakandidaten Matthias Ecke] in
Dresden und weitere Wahlkämpfende. Schon im vergangenen Jahr gab es demnach
5.388 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger – ein Anstieg um ein
Drittel. 118 davon waren Gewaltdelikte. Die meisten Taten, 3.991 Fälle,
ließen sich für die Polizei politisch nicht zuordnen. Danach rangierten mit
788 Delikte rechte Tatmotive.
## „Eskalation politischer Aggression“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach am Dienstag von einer
„Eskalation der politischen Aggression“. Als Antwort müsse man
„unmissverständlich zeigen, dass der Rechtsstaat diese Gewalt nicht
hinnimmt“. Die Justiz sei hier ebenso mit schnellen Prozessen in der
Verantwortung wie die Polizei mit hohem Ermittlungsdruck. Der Rechtsstaat
müsse „deutliche Stoppsignale“ setzen.
Auch BKA-Präsident Holger Münch warnte vor „Radikalisierungstendenzen“ in
Teilen der Bevölkerung. „Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen,
denn sie bedroht unsere Demokratie.“ Die Polizei räume dem Kampf gegen
politische Kriminalität eine „hohe Priorität“ ein.
Unabhängige Opferberatungsstellen warnten am Dienstag aber, dass die Zahlen
des BKA längst nicht alle Straftaten abbildeten. So zählten die Initiativen
allein in den elf Bundesländern, in denen sie Beratungsstellen haben, im
vergangenen Jahr 2.589 rechte, rassistische und antisemitische Gewalttaten
– gegenüber den vom BKA gezählten 1.270 rechten Gewaltdelikten.
Auch zwei Todesopfer rechter Gewalt werden dort gezählt, anders als vom
BKA: Der Mord eines Coronaleugners an seiner Mutter im bayrischen
Thiersheim, um die Impfung seines jüngeren Bruders zu verhindern. Und der
sozialdarwinistische Mord an einem Wohnungslosen in Horn Bad-Meinberg
(Nordrhein-Westfalen) durch drei Jugendliche, welche sich bei der Tat
gefilmt hatten.
## „Dramatische Ausweitung von Gefahrenzonen“
Judith Porath vom Vorstand der Beratungsstellen warnte vor einer
„dramatischen Ausweitung von Gefahrenzonen durch eine unerträgliche
Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus“. Die Hälfte aller Taten
hätten ein rassistisches Motiv gehabt, antisemitische Taten seien um ein
Drittel gestiegen. Auch 585 Kinder und Jugendliche seien betroffen gewesen,
was besonders erschreckend sei – so wie der Schüler aus Cottbus.
Porath gab für dieses Klima auch der AfD eine Mitschuld. Zugleich gebe es
aber auch, anders als in den Neunzigern, eine aktivere Zivilgesellschaft.
Auch Polizei und Justiz habe dazugelernt – immer noch aber komme es dort zu
rassistischen Täter-Opfer-Umkehrungen, mehrere Prozesse zu rechten
Straftaten würden weiter verschleppt.
Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelba-Dora in Thüringen, berichtete ebenfalls von Anfeindungen gegen
sich und Mitarbeitende – und machte die AfD ebenso mitverantwortlich. Er
forderte, ein AfD-Verbot endlich „sehr ernsthaft zu prüfen“. Der
Rechtsstaat müsse sich hier wehrhaft zeigen. Auch Porath forderte mehr
Einsatz der Bundesregierung gegen den rechten Hass, mit einer Stärkung der
Zivilgesellschaft oder der Einrichtung eines Kabinettsausschusses gegen
Rassismus.
Der sächsische Student Pedro M. berichtete auf einer Pressekonferenz der
Beratungsstellen, [9][wie seine Mutter im April in Dresden rassistisch
angegriffen wurde]. Ein Mann hatte ihr unvermittelt ins Gesicht geschlagen,
ihr Handy zertreten. „Diese Geschichte ist eine, die viele erzählen
könnte“, sagte Pedro M. Er sei daher dankbar, dass zwei Männer seiner
Mutter zu Hilfe eilten. Das sei das ermutigende Zeichen: dass mancherorts
auch Zivilcourage geleistet werde – denn der Kampf gegen Rassismus müsse im
Alltag beginnen.
21 May 2024
## LINKS
[1] /Rassismus-an-Schulen/!5996532
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[3] /Zahlen-des-Bundeskriminalamts/!6005336
[4] /So-viel-politische-Kriminalitaet-wie-nie/!5850773
[5] /Islamistische-Attacke-in-Duisburg/!5960389
[6] /Amoktat-gegen-Zeugen-Jehovas-in-Hamburg/!5999298
[7] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[8] /Nach-Angriff-auf-Politiker-in-Dresden/!6005923
[9] /Rassistischer-Angriff-in-Sachsen/!6006757
## AUTOREN
Konrad Litschko
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