# taz.de -- Nach den Kommunalwahlen in Thüringen: Nichts ist okay | |
> Der eigentliche Rechtsruck vollzieht sich nicht auf Sylt, sondern bei | |
> bürgerlichen Politikern. Doch der Durchmarsch der Faschisten ist | |
> aufhaltbar. | |
Bild: An diesen Menschen liegt es nicht, wenn die Nazis stark sind: Demo in Ess… | |
Zu Beginn ein kleines Quiz mit Triggerwarnung: Auf welchen AfD-Politiker | |
gehen die drei folgenden rassistischen Bullshitzitate zurück? Zitat eins: | |
„Es gibt hier kein Schariarecht auf deutschem Boden. Es geht nicht, dass | |
unsere Kinder in den staatlichen Schulen unterrichtet und in den | |
Koranschulen indoktriniert werden.“ Zitat zwei: „In diesem Land hat jeder | |
eine Chance, die sind selten so gut gewesen wie gegenwärtig, und wer sich | |
nicht daran hält, der hat hier nichts zu suchen.“ Zitat drei: „Wir erleben | |
mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, | |
zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine.“ | |
Und, wer hat’s gesagt? Richtig geraten, all diese Zitate stammen natürlich | |
vom CDU-Chef Friedrich Merz. Derselbe Merz, der seit Jahren AfD-Positionen | |
salonfähig macht, regte sich Anfang der Woche über das Sylt-Video mit | |
„Ausländer raus“ grölenden Schnöseln auf und nannte es „völlig | |
inakzeptabel“. Und auch reihenweise Ampelpolitiker, die | |
EU-Abschottungspolitik mittragen und faktisch „Ausländer raus“ mit dem | |
Euphemismus „Rückführungsverbesserungsgesetz“ durchsetzen, zeigten sich | |
entsetzt. | |
Natürlich haben sie alle beim Video recht. Aber keine Sorge, mittlerweile | |
ist die Aufregung um das widerliche Sylt-Video wieder abgeklungen. Die | |
Verursacher [1][fliegen wohl aus Jobs und Unis], und das deutsche | |
Rassismusproblem ist mal wieder aus der Mitte der Gesellschaft | |
externalisiert, Opposition und Regierung können zur Tagesordnung übergehen | |
und abwechselnd mehr [2][Abschiebungen fordern oder durchsetzen]. | |
Was das Problem eigentlich ganz gut illustriert: Noch während sich die | |
halbe Bundesrepublik (zu Recht) aufregte über die rassistischen | |
BWL-Justusse und Jura-Elisa-Marias, die „Ausländer raus“ auf Kirmestechno | |
grölen, ist gleichzeitig aus dem Blick geraten, wo tatsächlich gerade | |
realpolitisch etwas zu kippen droht und in Teilen schon gekippt ist: | |
## Lupenreiner Neonazi | |
Nur für den Realitätscheck drei weitere Randmeldungen der Woche: Am Montag | |
haben mutmaßlich Neonazis in Mönchengladbach Steine auf ein Wohnhaus von | |
Menschen mit Behinderungen geschmissen, mit der Aufschrift [3][„Euthanasie | |
ist die Lösung“]; am Mittwoch haben drei Jugendliche in Sachsen-Anhalt an | |
einer Bushaltestelle das „[4][Tagebuch der Anne Frank“ verbrannt]; und | |
bereits am Sonntag ist die AfD flächendeckend bei den Thüringer | |
Kommunalwahlen mit deutlich über 20 Prozent in die Regionalparlamente | |
eingezogen, und der lupenreine Neonazi [5][Tommy Frenck] ist in die | |
Landratsstichwahl im Kreis Hildburghausen gekommen. | |
Dort nämlich kann die völkisch-nationalistische Höcke-AfD im weiteren Sinne | |
bereits das im Alltag umsetzen, was sich die rassistischen Sylter | |
Bonzenkids wünschen. Im Landkreis Sonneberg etwa, wo seit fast einem Jahr | |
der AfD-Landrat Robert Sesselmann amtiert, fühlen sich viele | |
Rassist*innen berufen, „Ausländer raus“ konkret umzusetzen: Die | |
[6][rechte Gewalt ist dort seit 2023 deutlich gestiegen]. Vermummte warfen | |
mit Steinen, zeigten den Hitlergruß, es gab Körperverletzungen, und selbst | |
Kinder wurden bedroht. | |
Der AfD-Landrat hatte bisher keine Mehrheit im Kreistag, jetzt aber, da die | |
AfD sich bei den Kommunalwahlen deutlich verstärkt hat und eine | |
Zusammenarbeit mit der dortigen rechtsoffenen CDU-Abspaltung Pro Sonneberg | |
möglich scheint, kann der Landrat durchregieren und etwa | |
Demokratieprojekten den Geldhahn zudrehen. | |
Die Schlagzeilen vieler Medien zu den Kommunalwahlen klangen dennoch | |
erleichtert: „Kein Durchmarsch der AfD“, war zu lesen. Die Frage ist: Woran | |
haben wir uns gewöhnt? Nur weil die AfD nach einem | |
Slapstick-Europawahlkampf mit einer Reihe von Skandalen nirgendwo auf über | |
50 Prozent im ersten Wahlgang kam, vermelden wir erleichtert, dass die AfD | |
nur in neun (!) Stichwahlen Bürgermeisterposten und Landratsämter gewann? | |
## Mehr Macht | |
Auch wenn die AfD schwächer abgeschnitten hat als noch zu Jahresbeginn | |
befürchtet, ist das kein Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil. Nichts ist | |
hier okay. In Regionen, wo schon jetzt die vermeintliche Brandmauer eher | |
aus Maschendraht besteht und die AfD ohnehin schon weitgehend normal ist, | |
wird es nun noch schlimmer. | |
Die extrem rechte AfD in Thüringen hat bei den Kommunalwahlen ihr Ergebnis | |
gegenüber 2019 deutlich verbessert, landesweit hat sie 8,6 Prozent | |
hinzugewonnen. In vielen Kreistagen und Gemeinderäten hat sie die relative | |
Mehrheit und kann womöglich Ratsvorsitze stellen. Sie wird auf der | |
Graswurzelebene der Politik deutlich präsenter sein und könnte sich in der | |
Sacharbeit der Kommunalparlamente wahlweise noch weiter normalisieren und | |
entdämonisieren oder blockieren. Sie bekommt mehr Macht über die | |
Unterbringung von Flüchtlingen, über sozialpolitische Entscheidungen in der | |
Kommune und Gelder für Sozialarbeit und Kultur – mit negativen Auswirkungen | |
vor allem für jene, die nicht in ihr Weltbild passen. | |
Der Rechtsruck ist dabei nicht unausweichlich. Es braucht weiter eine klare | |
Ausgrenzung der AfD und ihrer rassistischen Inhalte. Sozialen und | |
rassistisch aufladbaren Verteilungskämpfen um knappen Wohnraum und | |
Kitaplätze muss die Grundlage entzogen werden. Das bedeutet eine Abkehr vom | |
Spardiktat und langfristige Investitionen in die über Jahre kaputtgesparte | |
soziale Infrastruktur. Demokratische Mitbestimmung muss erlebbar gemacht | |
werden mit Geld für kleine Förderprojekte auf kommunaler Ebene und durch | |
eine bessere Ausstattung klammer kommunaler Kassen. Ebenso müssen die | |
Resonanzräume der AfD streitig gemacht werden: Den demokratischen Parteien | |
muss es gelingen, vor Ort mehr Präsenz zu zeigen und die stellenweise | |
regionale Hegemonie der Rechten zu brechen. | |
31 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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