| # taz.de -- Universitätsstadt Ilmenau in Thüringen: Raus aus der Blase | |
| > Das kleine thüringische Ilmenau schmückt sich mit dem Titel | |
| > Universitätsstadt. Doch Campus und Stadt sind zwei Welten. | |
| Bild: Auf Kontaktsuche: Kamila Costa, Mira Rochyadi-Reetz und zwei Seniorinnen�… | |
| Ilmenau taz | Ein bisschen außer Atem steht Mira Rochyadi-Reetz vor ihrem | |
| Publikum. Das besteht aus rund 40 Seniorinnen und Senioren, wobei die | |
| Männer in der Minderzahl sind. In einem indonesischen Gewand mit einer | |
| bunten Maske vor dem Gesicht hat Mira gerade einen Tanz aufgeführt. „Wir | |
| sind die Frauen von der Uni“, sagt die 44-jährige gebürtige Indonesierin | |
| und übergibt das Mikrofon an Kamila Costa, die Brasilianerin ist und ein | |
| T-Shirt in den Farben der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft trägt. | |
| Die 28-Jährige, die über Blitzableiter an Solaranlagen promoviert, hält | |
| einen Vortag über Brasilien. Eine knappe halbe Stunde dauert die mit Fotos | |
| unterlegte Show, dann bekommen die Rentner brasilianisches und | |
| indonesisches Fingerfood serviert. | |
| Es ist der „Tag der Nachbarn“, Ort des Geschehens ist eine Wohnanlage in | |
| [1][Ilmenau]. Rund 26.000 Einwohner zählt die am Rande des Thüringer Waldes | |
| gelegene Kleinstadt, die sich mit dem Zusatz Universitätsstadt schmückt. | |
| Die Technische Universität bietet diverse Bachelor-Master- und | |
| Diplomstudiengänge an, das Spektrum reicht von Informatik, | |
| Medienkommunikation bis zu Wirtschaftswissenschaften, der Schwerpunkt liegt | |
| auf Ingenieurwissenschaften. | |
| Laut einer Studie des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft | |
| gehört sie zu den innovativsten Universitäten bundesweit. Unter | |
| Studierenden gilt sie wegen der familiären Atmosphäre als gute Adresse und | |
| weil man in der Forschung viel Freiheiten hat. Ein Drittel der rund 5.000 | |
| Studierenden kommt aus dem Ausland, rund 100 Nationen sind vertreten. Aber | |
| wenn die Stadt llmenau [2][auf ihrer Homepage schreibt], durch die | |
| Universität sei das Stadtbild geprägt von den jungen Menschen, entspricht | |
| das nicht ganz den Tatsachen. | |
| Der am Stadtrand gelegene Campus ist ein Kosmos für sich. Viele der | |
| ausländischen Studierenden können kein Deutsch, müssen es wegen | |
| englischsprachigen Studienangebote auch nicht. Auf dem Campus ist für alles | |
| gesorgt, es gibt Wohnheime, eine Mensa, diverse Clubs und eine | |
| Einkaufsmöglichkeit. Begegnungen mit der Stadtbevölkerung fänden kaum statt | |
| – viele sagen das. Die Bahnschienen sind die Trennlinie. Nur in einem nahe | |
| der Altstadt gelegenen Supermarkt mit einem großen internationalen | |
| Lebensmittelangebot kreuzen sich die Wege, wirkliche Begegnungen sind das | |
| nicht. | |
| „Jeder lebt in seiner Blase“, sagt Mira Rochyadi-Reetz. Mit Veranstaltungen | |
| wie der in der Seniorenwohnlage versucht sie das zusammen mit einer Gruppe | |
| von Gleichgesinnten aus der Uni zu ändern. Seit 2012 lebt in Rochyadi-Reetz | |
| in Ilmenau. In der TU ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am | |
| Fachbereich Medienforschung und politische Kommunikation, Sprecherin eines | |
| indonesischen Kulturkreises, Referentin im Studierendenrat für | |
| Internationales. Im Januar, als deutschlandweit [3][Millionen gegen die | |
| Remigrations-Fantasien von AfD und Co auf die Straße gingen], waren | |
| Rochyadi-Reetz und ihre Mitstreiterinnen der Motor für eine Demonstration | |
| in Ilmenau: Für Demokratie, gegen Rechtsextremismus – „Wir sind Ilmenau.“ | |
| Kürzlich haben [4][in Thüringen Kommunalwahlen stattgefunden]. Mit einem | |
| Ergebnis von rund 27 Prozent hat die AfD in den Kreistagen deutlich | |
| zugelegt, für die Landtagswahlen am 1. September lässt das Schlimmes | |
| befürchten. Auch im Stadtrat Ilmenau ist die AfD zweitstärkste Kraft, | |
| immerhin aber hat es Daniel Schultheiß (parteilos) mit 56,4 Prozent | |
| geschafft, sich als Oberbürgermeister zu halten. | |
| ## Bunt und divers | |
| lm Vergleich zu manchen anderen thüringischen Kleinstädten ist Ilmenau bunt | |
| und divers. In der Fußgängerzone der schön sanierten Altstadt gibt es viele | |
| kleine Läden und Einkehrmöglichkeiten. Es gibt Döner- und Asia-Imbisse, | |
| Sushi, Pizza und Pasta, auch zwei Bioläden. Menschen, die so aussehen, als | |
| hätten sie eine Migrationsgeschichte und auch Frauen mit Kopftuch sieht man | |
| auf der Straße selten. Die Vielfalt der Uni spiegelt sich im Alltag von | |
| Ilmenau nicht wider. Und nach Geschäftsschluss ist die Altstadt wie | |
| ausgestorben. | |
| Auf dem Campus gebe es doch alles, sagt Fabian, Masterstudent Maschinenbau. | |
| Der 33-Jährige gehört dem Kollektiv „Wunderrad“ an, das auf dem Unigelän… | |
| für die Studierenden immer donnerstags Fahrräder repariert. Die Nachfrage | |
| ist groß. „Wenn, dann fahren wir lieber nach Erfurt als nach Ilmenau“, sagt | |
| Fabian. Oder in den Wald mit den Rädern, ergänzt Piotr, 23, Studienfach | |
| Ingenieurinformatik. Auf dem Kickelhahn, Ilmenaus 861 Meter hohem Hausberg, | |
| gibt es gute Mountainbike-Trails. Allenfalls zum Eisessen gehe sie mal in | |
| die Stadt, sagt eine 28-jährige Chinesin, die Informatik studiert. | |
| „Beide Seiten müssen raus aus ihrer Blase,“ findet Mira Rochyadi-Reetz. Mit | |
| ihrem Mann, einem gebürtigen Deutschen, und dem 11-jährigen Sohn wohnt die | |
| Hochschulmitarbeiterin in Ilmenau in einer Plattenbausiedlung. Ihr | |
| Engagement für das Zusammenführen der Gesellschaft begründet sie mit | |
| Schlüsselerlebnissen: Ihrem damals dreijährigen Sohn sei auf dem Spielplatz | |
| von einem Kind das Spielzeug weggenommen worden. Musst du nicht | |
| zurückgeben, sind doch Ausländer, habe dessen Mutter gesagt. Sie habe sich | |
| damals nicht getraut zu protestieren, sagt Rochyadi-Reetz. | |
| Der zweite Vorfall ist noch nicht so lange her. In der Grundschule habe ein | |
| Kind zu ihrem Sohn und einem Kind aus Pakistan gesagt: Mein Opa hätte euch | |
| längst vergast. Diesmal habe sie gleich reagiert und die Schulleitung | |
| informiert, die ihrerseits sehr gut reagiert habe, sagt Rochyadi-Reetz. Es | |
| habe ein Elterngespräch gegeben und eine Informationsveranstaltung über | |
| Rechtsextremismus in sozialen Medien. | |
| ## Eine interkulturelle Woche | |
| An einem Samstag, in der Altstadt von Ilmenau: Sechs Studentinnen und zwei | |
| Studenten haben einen Stuhlkreis gebildet. Sie kommen aus Iran, Mexiko, | |
| Afghanistan, Indien, Myanmar, Kolumbien, studieren Biomedizintechnik, | |
| Businessmanagement, Computersience. Mitten drin Mira. Es ist eine zufällig | |
| zusammengewürfelte Gruppe, die sich anlässlich der gerade stattfindenden | |
| Intercultural Week im sogenannten Mehrgenerationenhaus trifft, das von | |
| Freien Trägern sozialer Projekte genutzt wird. | |
| Um „Substainable Communitys“ soll es in Miras Veranstaltung gehen, bei der | |
| nur Englisch gesprochen wird. Bevor die Studenten aufschreiben, was sie | |
| darunter verstehen, erklärt Mira, dass das Treffen an diesem Ort | |
| stattfindet, um die Studierenden raus aus dem Campus in die Stadt zu holen. | |
| „Ihr müsst verstehen, wie die deutsche Community funktioniert.“ | |
| Der Informatikprofessor Kai- Uwe Sattler wohnt seit 2003 in Ilmenau, seit | |
| 2020 ist er Präsident der TU. Das Treffen findet im Ernst-Abbe-Zentrum auf | |
| dem Campus statt. Die Uni sei der Initiative „Weltoffenes Thüringen“ | |
| beigetreten, auch zu der Demonstration im Januar „Wir sind Ilmenau“ habe | |
| man aufgerufen, erzählt Sattler, 56, ein großer schlaksiger Mann. Auch er | |
| habe bei der Kundgebung geredet. | |
| „Total super“ finde er die Initiative von Mira Rochyadi-Reetz und ihren | |
| Mitstreiterinnen von der Uni. Auch er sei der Meinung, dass Ilmenau bunter | |
| sein könnte, als es ist, sagt Sattler. Er sei darüber auch im Austausch mit | |
| dem Oberbürgermeister Schultheiß, der im übrigen auch Absolvent der TU sei, | |
| und der Landrätin Petra Enders (parteilos), [5][die sich am 9. Juni in der | |
| Stichwahl gegen einen No Name von der AfD behaupten muss]. | |
| ## Keine Treffpunkte für Studierende | |
| Ein zentrales Problem sei, dass Ilmenau keine Treffpunkte für Studenten | |
| habe. Das sie anders als in Uni-Städten wie Marburg, wo eine | |
| Studentenkneipe, neben der anderen sei. | |
| Meiden ausländische Studierende Ilmenau vielleicht auch, weil sie Angst vor | |
| Fremdenfeindlichkeit haben? Dafür habe er keine konkreten Anhaltspunkte, | |
| sagt Sattler. Bei Gesprächen im Vorfeld sei das aber durchaus Thema. „Man | |
| wird schon gefragt, ob man hier sicher studieren kann.“ Der Ruf von | |
| Thüringen sei ja bekanntlich nicht der beste. 30 Prozent Umfragewerte für | |
| die AfD, „das ist schlimm“, sagt Sattler. Was ihn aber auch massiv störe | |
| sei, dass „der Osten“ in der Berichterstattung „als braune Ecke“ | |
| heruntergeschrieben werde. | |
| Schon zu DDR-Zeiten war die Uni ein Kosmos für sich, erzählt [6][Matthias | |
| Platzeck (SPD)]. Von 1974 bis 1979, also lange vor der Wende und lange | |
| bevor er selbst Ministerpräsident von Brandenburg wurde, hat Platzeck in | |
| Ilmenau Biomedizinische Kybernetik studiert. Abgesehen von Skifahren und | |
| Wandern habe es für die Studenten damals nur zwei Gründe gegeben, den | |
| Campus zu verlassen: Ins Kino gehen und Geldverdienen in den großen | |
| Porzellanfabriken, die es damals noch in Ilmenau gab. | |
| 35 Mark auf die Hand für Geschirr sortieren pro Tag, „das war gutes Geld, | |
| wir haben uns nicht totgemacht“. Das Sortieren ging so: „Fehlerloses | |
| Porzellan kam in die Kiste für den Export in den Westen, kleine Fehler | |
| bekam die Sowjetunion, der Rest war Inland“. | |
| Fernab von der Hauptstadt Berlin sei die Uni „einen Tick freier“ gewesen | |
| als andere Hochschulen in der DDR, erzählt der heute 70-jährige Platzeck. | |
| Bestens in Erinnerung geblieben ist ihm die Büttenrede eines | |
| Philosophieprofessors beim Studentenkarneval, für die der später aber | |
| streng reglementiert worden sei: In der DDR sei es so, dass man kantig als | |
| Würfel zur Welt komme und als abgeschliffene Kugel ende, habe der Professor | |
| gesagt. | |
| In Bananenblätter eingewickelte Reisbällchen, geröstete Gemüsefladen, | |
| Biskuit in Birnenform mit einer Gewürznelke als Stängel – diese und andere | |
| Köstlichkeiten bekommen die Senioren nach der Veranstaltung von Mira, | |
| Kamila, Jialan und zwei, drei anderen Frauen von der Uni auf Tellern | |
| überreicht. Den ganzen Vortag haben sie dafür in der Küche gestanden. „Hat | |
| sehr gut geschmeckt“, sagt eine alte Dame mit grauen kurzen Haaren, die | |
| Spitzen an der Stirn sind lila gefärbt. Und, auf den Ehemann an ihrer Seite | |
| deutend – sogar der habe alles aufgegessen, „wo der doch sonst immer so | |
| mäkelig ist“. | |
| Bei dem netten Beisammensein stellt sich heraus, dass sie, 85, früher mal | |
| Friseurin war, und er, 88, Bäcker. Seit einem Schlaganfall gehe er am | |
| Rollator. Aber sie gehörten nicht zu den Leuten, die ständig über alles | |
| meckern, sagt sie. Die Wohnanlage sei sehr schön, Rente und Pflegegeld | |
| ausreichend. „Wir sind zufrieden, für uns wird gesorgt.“ | |
| Fix und fertig sei sie an diesem Abend nach Hause gekommen, sagt Mira | |
| später am Telefon. Am Ende der Unterhaltung hätten die beiden alten Leute | |
| erzählt, dass sie AfD-Wähler seien. „Ist meine Zeit das alles wert?“, habe | |
| sie sich da gefragt. Aber nichts zu machen, sei auch keine Lösung. | |
| „Außerdem mache ich das auch für mich selbst.“ | |
| 10 Jun 2024 | |
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