| # taz.de -- Außenpolitiker Roth über Georgien: „Friedliche Macht auf den St… | |
| > SPD-Bundestagsabgeordneter Michael Roth war mit einer europäischen | |
| > Delegation in Tbilissi. Ein Gespräch über die Proteste und die Zukunft | |
| > Georgiens. | |
| Bild: Begeisterungsfähige junge Europäer*innen in Tbilissi | |
| Seit wenigen Stunden ist Michael Roth zurück aus Tbilissi, der Hauptstadt | |
| Georgiens. Mit einer europäischen Delegation reiste er in das Land, das wie | |
| kaum ein anderer EU-Beitrittskandidat Leidenschaft für Europa zeigt, wie | |
| Roth es nennt. In seinem Bundestagsbüro gibt es eine Europaflagge mit | |
| aufgenähter Georgienflagge. Auf dem Tisch liegen eine Gasmaske und eine | |
| Schutzbrille. Geschenke von georgischen Oppositionellen oder | |
| Anhänger:innen der Protestbewegung. Sie demonstrieren seit Wochen gegen | |
| das sogenannte „Agenten-Gesetz“ und den verschärften Einfluss Russlands. | |
| wochentaz: Herr Roth, Sie waren vor wenigen Tagen in Tiflis, besuchten dort | |
| auch eine Demo der Protestierenden. Sehr beeindruckend ist Ihr Video auf X, | |
| das die Menge zeigt während die Europahymne gespielt wird. Was ging Ihnen | |
| dabei durch den Kopf? | |
| Michael Roth: Wenn man in ein Land fährt, wo wieder mal die Demokratie und | |
| die Freiheit unter Druck geraten, ist das sehr frustrierend. Aber wenn man | |
| dann so viele leidenschaftliche, [1][begeisterungsfähige junge | |
| Europäerinnen und Europäer] erlebt, die keine Angst haben, die auf die | |
| Straße gehen, dann lädt man seine Batterien ganz schnell wieder auf. Ich | |
| gebe zu, als überzeugter Europäer ist man gerade in diesen Zeiten manchmal | |
| ziemlich müde und erschöpft, es geht in der EU eben nicht richtig voran. | |
| Aber die Menschen vor Ort haben mich ziemlich geflashed. Tiflis ist derzeit | |
| die wahre Hauptstadt Europas. | |
| Also hält das Projekt Europa? | |
| Ich habe mir Kritik eingehandelt, als ich vor wenigen Tagen gesagt habe, | |
| wenn man das wahre Europa erleben möchte, dann sollte man weniger nach | |
| Berlin, Paris oder Rom fahren, sondern vor allem nach Eriwan, Kyjiw oder | |
| eben Tiflis. Dort erlebt man, was Europa wirklich ist: Eine Liebe zur | |
| Freiheit, eine Begeisterung für die Demokratie und eine ganz, ganz große | |
| Sehnsucht danach, ohne Angst verschieden sein zu können. Diese Leidenschaft | |
| für Europa ist uns verloren gegangen. | |
| Inwiefern? | |
| Für zu viele Menschen ist Europa einfach eine ganz große seelenlose | |
| Maschinerie. | |
| Der schwerfällige, technokratische Apparat Brüssel? | |
| Eine Maschinerie, die es immer noch nicht geschafft hat, sich in ein | |
| positives Bild zu rücken. Eigentlich dürfte es nicht so schwer sein, dies | |
| in einer Zeit der Krisen, Kriege und Konflikte in einer globalisierten Welt | |
| zu verdeutlichen. Wir alle sind nur kleine Fische in einem großen Teich von | |
| Hechten. Wenn wir wirklich was zum Besseren verändern wollen, dann müssen | |
| wir das im Team machen. Frieden, Selbstbestimmung, Demokratie und Freiheit | |
| schafft man nicht mit nationalen Egotrips. | |
| Wasserwerfer zielen auf Demonstrant:innen, Menschen werden von | |
| Sicherheitskräften geschlagen. Auch diese Bilder gibt es Tiflis. Haben Sie | |
| solche Ereignisse auch gesehen? | |
| Ich habe ausschließlich friedfertige Demonstrantinnen und Demonstranten | |
| erlebt. Aber ich habe natürlich auch diese schrecklichen Bilder in den | |
| Medien verfolgt. Ich hatte das große Privileg, an einer der vielen Demos | |
| teilzunehmen. Es sind so viele Menschen bei den Protesten. Die kann der | |
| Sicherheitsapparat der Regierung nicht alle inhaftieren, die können sie | |
| nicht alle zusammenschlagen, die können sie erst recht nicht alle mit | |
| Tränengas vertreiben oder einschüchtern. Das ist eine friedliche Macht auf | |
| den Straßen und Plätzen, die mich sehr beeindruckt, vor allem weil es | |
| gerade so viele junge Leute sind. | |
| Kritiker:innen sprechen von einer Elite aus der Hauptstadt, die auf die | |
| Straße geht. | |
| Dem ist nicht so. Es gibt Protestbewegungen in vielen Städten. Was man in | |
| Georgien erlebt, ist eine Protestbewegung von Jung und Alt, von | |
| Arbeiter:innen genauso wie von Menschen mit einem akademischen | |
| Hintergrund, Männer und vor allem Frauen. Frauen sind wie so oft – | |
| insbesondere in Osteuropa – die treibende Kraft. | |
| Wie kam es zu Ihrer Reise nach Georgien? | |
| Wir haben seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Netzwerk | |
| von Ausschussvorsitzenden aus Europa, Kanada und USA aufgebaut. Wir | |
| kommunizieren über Signal. Ich hatte die Idee, im Team zu reisen. Wir waren | |
| dann eine Delegation von fünf Abgeordneten, neben mir Kollegen aus | |
| Finnland, Litauen, Polen und Tschechien. Uns war wichtig, dass wir | |
| verschiedene Regionen und Parteien Europas repräsentieren. Ich war der | |
| einzige Sozialdemokrat. Wir hatten keine abgestimmten Sprechzettel, aber | |
| waren uns in unseren Botschaften stets einig. | |
| Nämlich? | |
| Erstens Solidarität bekunden mit der Protestbewegung und zweitens zuhören | |
| und zwar allen: Der Opposition, der Zivilgesellschaft, auch der Regierung | |
| und der herrschenden Partei Georgischer Traum. | |
| Aber Sie und die Delegation wurden nicht mit offenen Armen empfangen. | |
| Seitens der Regierung hat sich niemand bereit erklärt, mit uns zu sprechen | |
| – und wir wurden auch nicht ins Parlament gelassen. Unser Amtskollege, der | |
| dortige Ausschussvorsitzende, hat uns dann in das Hauptquartier der | |
| Regierungspartei Georgischer Traum eingeladen. Wir wollten unbedingt vor | |
| der Abstimmung über das sogenannte Agenten-Gesetz das Gespräch suchen. | |
| Kritik kommt ja selten gut an. | |
| Wir wollten verstehen, wie eine Regierung, die überall Europaflaggen | |
| gehisst hat, dazu kommt, seit Monaten konsequent das zu missachten, was die | |
| EU-Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten der georgischen Regierung als | |
| Hausaufgaben gegeben haben. Die Empfehlungen müssen erfüllt werden, damit | |
| Beitrittsverhandlungen beginnen können. Es gibt keinen einzigen | |
| Fortschritt, aber deutliche Rückschritte. Es werden Gesetze gemacht, die | |
| man von autoritären Regimen wie Russland zu Genüge kennt. Gleichzeitig | |
| behauptet die Regierung, sich auf den Weg Richtung EU machen zu wollen. | |
| Worte und Taten passen schlicht nicht zusammen. | |
| Welche Reaktionen bekommen Sie? | |
| Bereits zuvor hat es gegen meine Kollegen und mich schlimme Lügen-Kampagnen | |
| gegeben. Am Samstag vor unserer Reise wurde verbreitet, wir würden von | |
| einem Oligarchen jeweils 50.000 Dollar bekommen, wenn wir die Opposition | |
| treffen und nochmal 50.000 Dollar, wenn wir an einer Demonstration | |
| teilnehmen. Derzeit läuft auch eine Kampagne gegen meinen Mann und mich. | |
| Ich habe ein paar kritische Worte zur Orthodoxen Kirche verloren. Jetzt | |
| dämonisiert man mein Schwulsein. Mein litauischer Kollege, der seit Jahren | |
| Opfer von Kampagnen ist, warnte mich davor. | |
| Wo laufen diese Kampagnen? | |
| Vor allem in den sozialen Medien. Es gibt nicht nur eine sehr starke | |
| polarisierte Gesellschaft und eine sehr starke Polarisierung zwischen | |
| Opposition und Regierung. Es gibt auch eine sehr stark polarisierte | |
| Medienlandschaft, wo Teile der Medien das schmutzige Geschäft der Regierung | |
| erledigen. Vor dem Hauptquartier der Partei Georgischer Traum hingen | |
| Plakate mit den Gesichtern von Oppositionellen, die durchgestrichen waren | |
| und über allen prangte die Regenbogenflagge. Das ist eine Form von | |
| Stigmatisierung und Kriminalisierung von Oppositionellen und von | |
| Minderheiten, die einer liberalen Demokratie schlicht unwürdig sind. Diese | |
| Partei sollte sich von Georgischer Traum in Georgischer Albtraum | |
| umbenennen. | |
| Wie erklären Sie sich den russischen Einfluss in Georgien? | |
| Die Regierung argumentiert, Russland ist ein Feind Georgiens und 20 Prozent | |
| des georgischen Territoriums sind seit 2008 okkupiert. Das stimmt. Aber was | |
| derzeit in Georgien läuft, [2][wird von den Menschen vor Ort als | |
| Russifizierung empfunden]. Diese Gesetze und Kampagnen gibt es in Russland. | |
| Wir brauchen die aber definitiv nicht in Ländern, die zur EU gehören | |
| wollen. Für den eigenen Machterhalt ist man bereit, russische | |
| Unterdrückungsmechanismen einzuführen. | |
| Die Bedrohung durch Russland sehen wir in der Ukraine, aber auch in Moldau. | |
| Wo ziehen Sie Vergleiche zu Georgien? | |
| Es gibt sicher Parallelen. Aber Georgien spielt doch eine Sonderrolle. Es | |
| gibt keine einzige Gesellschaft in Europa, in der die Begeisterung und die | |
| Zustimmung zur EU derart hoch ist, von deutlich über 80 bis teilweise hin | |
| zu 90 Prozent. | |
| Sind die Proteste in Georgien eine Art Maidan-Moment wie in der Ukraine | |
| 2014? | |
| Das wird davon abhängig sein, wie sich der Westen, die EU, auch die USA | |
| verhalten. Wenn jetzt die Regierung kein klares Stoppschild bekommt und der | |
| Protestbewegung nicht endlich zuhört, dann kann das durchaus kippen. Vor | |
| allem wenn sie eine Taktik der Provokation gegenüber der Protestbewegung | |
| fährt und dann mit brutaler Härte und Gewalt antwortet. Meine Botschaft an | |
| die Menschen lautet also: Lasst euch nicht provozieren. | |
| Kommt die Botschaft an? | |
| [3][Diese Menschen wollen keine Gewalt.] Unser Hotel war unweit des | |
| Parlamentes, und ich habe Tag und Nacht die Stimmen der Protestierenden | |
| gehört. Es gibt keine zentrale Steuerung der Protestbewegung, vieles ist | |
| spontan und unkoordiniert. Deswegen bin ich auch aus reiner Neugierde zur | |
| Demo gegangen. Ich hatte ein tiefes Bedürfnis, mir selbst einen Eindruck zu | |
| verschaffen. | |
| Sie wurden spontan aufgefordert, eine Rede zu halten. | |
| Die Protestierenden erkannten mich und applaudierten. Auf einmal hörte ich | |
| auf der Bühne meinen Namen, und dann stand ich da vor zehntausenden von | |
| Menschen und sollte sprechen. Ich weiß, so eine Aktion kann auch | |
| schiefgehen, weil wir von der Regierung sofort als ausländische Kräfte | |
| stigmatisiert werden, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Aber ich bin | |
| dann der spontanen Einladung einfach gefolgt. Es war einer der bewegendsten | |
| Momente meines politischen Lebens. | |
| Auch die drei baltischen Außenminister und die isländische Außenministerin | |
| waren inzwischen in Tbilissi und haben sich der Protestbewegung | |
| angeschlossen. Sollte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock dies | |
| auch tun? | |
| Wir sollten dem Wunsch der Freiheitsbewegung Rechnung tragen und ihnen zur | |
| Seite stehen. Hoffentlich folgen viele dem Beispiel der baltischen | |
| Außenminister:innen. Ich fände es super, wenn dort möglichst viele | |
| Abgeordnete und Regierungsmitglieder nach Tiflis fahren würden, nicht nur | |
| aus Deutschland. | |
| Was erwarten Sie von der EU? | |
| Die einzige Sprache, die diese Kräfte verstehen, die ihre Länder in | |
| autoritäre Staaten umbauen wollen, ist Klarheit. Es wäre falsch, auf | |
| Zurückhaltung und stille Diplomatie zu setzen, auf einen gangbaren | |
| Kompromiss zu hoffen. Das haben wir jahrelang versucht – und sind | |
| gescheitert. | |
| Was bedeutet Klarheit? | |
| Sanktionen sind eine Option. Ein Aussetzen der Visafreiheit würde jedoch | |
| die Falschen treffen, also vor allem die Zivilgesellschaft. Das wollen wir | |
| nicht. Aber das schärfste Sanktionsschwert ist, dass es nicht zu | |
| Beitrittsverhandlungen kommt. Es war ein großer Vertrauensvorschuss, den | |
| die Staats- und Regierungschefs und die EU-Kommission der Regierung | |
| gegenüber bekundet haben, als der Kandidatenstatus im Dezember vergangenen | |
| Jahres verliehen wurde. Das war vor allem auch eine Ermutigung gegenüber | |
| der Zivilgesellschaft und keine Belohnung für die derzeitige Regierung. | |
| Aber mit diesem Gesetz darf es nicht zu Verhandlungen kommen. | |
| Welche Befürchtung haben Sie? | |
| Im Sommer wird es hoffentlich mit Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine | |
| und Moldau losgehen. Aber nicht mit Georgien. Georgien war lange ein | |
| Musterschüler in Sachen EU-Annäherung. Nicht wir schlagen die Türen zu, | |
| sondern die georgische Regierung. Aber die lässt sich ganz schnell wieder | |
| öffnen, wenn die georgischen Gesetze, die nicht im Einklang mit den | |
| europäischen Werten und Prinzipien stehen, wieder zurückgezogen werden. | |
| Die EU müsste nun schnell zu einer Entscheidung kommen. | |
| Die wichtigste Wegmarke sind die Wahlen im Herbst. Die Regierung muss | |
| unseren Druck und unsere Entschlossenheit spüren. Ich kann mir nicht | |
| vorstellen, dass die Freiheitsbewegung bis dahin ermüdet und erlahmt. Aber | |
| sie braucht eine Ermutigung durch uns. Jeder, der dorthin reist, der ihnen | |
| das Gefühl gibt, ihr seid nicht allein, ist eine wichtige Hilfe. | |
| 17 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Agenten-Gesetz-in-Georgien/!6007703 | |
| [2] /Oligarch-Iwanischwili-in-Georgien/!6005092 | |
| [3] /Agenten-Gesetz-in-Georgien/!6009856 | |
| ## AUTOREN | |
| Tanja Tricarico | |
| ## TAGS | |
| Georgien | |
| Protest | |
| Annalena Baerbock | |
| Baltikum | |
| EU | |
| GNS | |
| Kolumne Vor der Tür | |
| Litauen | |
| Georgien | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Georgien | |
| Georgien | |
| Georgien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gaby Coldewey Vor der Tür: Lost in Litauen | |
| Litauens Hauptstadt Vilnius verändert sich rasant. Im Bewusstsein der | |
| meisten Westeuropäer ist die Stadt jedoch noch nicht angekommen. | |
| Präsidentschaftswahl in Litauen: Nauseda gewinnt Stichwahl | |
| Der litauische Präsident Gitanas Nauseda ist im Amt bestätigt worden. | |
| Experten rechnen mit Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik. | |
| Massenproteste gegen „Agentengesetz“: Georgischer Alptraum | |
| Die antiwestliche Regierung in Tbilissi geht brutal gegen Protestierende | |
| vor. Die Menschen kämpfen um nichts weniger als um ihre Freiheit. | |
| Russischer Vormarsch in der Ukraine: Kaum Widerstand am Himmel | |
| Außenministerin Baerbock ist nach Kyjiw gereist. Sie fordert die | |
| internationalen Verbündeten erneut auf, mehr Luftabwehr zu liefern. | |
| +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Baerbock zu Soli-Besuch in Kyjiw | |
| Systeme zur Luftverteidigung fehlen nach wie vor – und der russische | |
| Vormarsch geht weiter. Außenministerin Baerbock fordert mehr internationale | |
| Hilfen. | |
| „Agenten-Gesetz“ in Georgien: Für die Freiheit geben sie alles | |
| Das Parlament billigt trotz Protesten und internationaler Warnungen das | |
| „Agenten“-Gesetz. Vor allem junge Menschen wollen sich damit nicht | |
| abfinden. | |
| Agentengesetz in Georgien: Georgischer Irrsinn | |
| Das Parlament in Tbilissi setzt den Kampf gegen die Zivilgesellschaft fort. | |
| Rasch werden sich die Protestierenden jedoch nicht unterkriegen lassen. | |
| „Agenten-Gesetz“ in Georgien: Gegen alle Proteste durchregiert | |
| Georgiens Parlament verabschiedet gegen massiven Widerstand aus der | |
| Bevölkerung das umstrittene Gesetz. Das könnte den EU-Beitritt gefährden. |