# taz.de -- „Anora“ und „Marcello mio“ in Cannes: Mit Papas Schnurrbart | |
> In Christophe Honorés „Marcello mio“ schlüpft Chiara Mastroianni in die | |
> Rolle ihres Vaters. Ein anderer Vater aber macht Probleme in Cannes. | |
Bild: Marcello beziehungsweise Chiara Mastroianni in „Marcello mio“ | |
Einblicke in ärmere Lebensverhältnisse gab es in Cannes bisher einige im | |
Wettbewerb. Da ist die Sozialbaurealität von [1][Andrea Arnolds „Bird“] | |
ebenso wie von [2][Agathe Riedingers „Diamant brut“] oder die Näherin in | |
Magnus von Horns „The Girl with the Needle“. Auch die Familie des | |
Protagonisten von „Three Kilometres to the End of the World“ von Emanuel | |
Pârvu lebt in ständiger Sorge um das Geld. | |
Mit Sean Baker ist ein Regisseur im Wettbewerb vertreten, der sich in | |
seinen bisherigen Filmen wie [3][„Tangerine L. A.“ (2015)], [4][„The | |
Florida Project“ (2017)] und [5][„Red Rocket“ (2021)] auf das Leben in | |
unterprivilegierten Verhältnissen konzentriert hat. Auch Sexarbeit ist eine | |
seiner thematischen Konstanten. In seiner Komödie „Anora“, mit der er in | |
Cannes antritt, ist die Hauptfigur ebenfalls eine Prostituierte. | |
Anora, gespielt von Mikey Madison, lebt und arbeitet in Brooklyn. Da ihre | |
Familie aus Russland stammt und sie die Sprache einigermaßen beherrscht, | |
muss sie oft bei russischen Kunden aushelfen. Einer von ihnen ist Ivan, ein | |
charmanter, zügelloser Mann Anfang zwanzig. Mit seiner naiven | |
Begeisterungsfähigkeit weckt er Gefühle in Anora, die alle schlicht Ani | |
nennen. | |
## Las Vegas? Heirat! | |
Anora darf Ivan bald darauf zu Hause „besuchen“, in einer gigantischen | |
anonymen Villa, die er mit dem Hauspersonal allein zu bewohnen scheint. Sie | |
wird zu seiner Silvesterparty geladen, fliegt schließlich mit ihm und ein | |
paar seiner Freunde nach Las Vegas. Dort kündigt er ihr zunächst an, dass | |
er nach Russland zu seinen Eltern zurückkehren muss. Plötzlich steht eine | |
Green Card durch Heirat als Möglichkeit im Raum, und Ivan macht ihr spontan | |
einen Hochzeitsantrag. Sie heiraten noch in der Nacht. | |
„Anora“ hat etwas von einem Märchen nach Aschenputtelmuster, in dem | |
allerdings die sofortige Entzauberung der Aufstiegsfantasie als Pointe | |
dient. Denn die Oligarchenfamilie von Ivan ist erwartungsgemäß wenig | |
begeistert, als sie von der jüngsten Eskapade ihres Sohns erfährt. Der | |
Vater, Nikolai Sacharow, teilt seinen Namen übrigens mit einem sowjetischen | |
Serienmörder. | |
Wie Anora anschließend erst von den Handlangern der Familie drangsaliert | |
und dann in eine Verfolgungsjagd nach dem flüchtigen Ivan verwickelt wird, | |
sorgt für reichlich Situationskomik, vor allem dank des überzeugend | |
temperamentvollen Einsatzes von Mikey Madison. | |
Eine preiswürdige Darstellung kann man zudem in Christophe Honorés | |
autofiktionaler Fantasie „Marcello mio“ erleben. Darin schlüpft Chiara | |
Mastroianni in die Rolle ihres verstorbenen Vaters Marcello Mastroianni. | |
Sie ist damit die einzige Protagonistin, die nicht sich selbst spielt. Ihre | |
Mutter Catherine Deneuve tritt als ihre Mutter auf, und Mastroiannis | |
ehemalige Partner Melvil Poupaud und Benjamin Biolay sind ebenfalls als sie | |
selbst vertreten. | |
## Zweite Chance | |
Chiara Mastroianni entscheidet sich als sie selbst zu Beginn des Films, | |
sich ihrem Vater äußerlich anzuverwandeln und fortan dessen Namen zu | |
tragen. Ihr Umfeld reagiert teils verstört, teils hilflos. Bloß der | |
Schauspieler Fabrice Luchini nimmt die Gelegenheit wahr, seine verpasste | |
Freundschaft mit Marcello Mastroianni nachzuholen. | |
Wie Honoré und seine Besetzung mit dieser Prämisse ernst machen, hat etwas | |
luftig Verspieltes, manchmal auch Bemühtes. Als Trauerarbeit allemal | |
eigenwillig. Und wie Chiara Mastroianni diese Identitätsverschiebung | |
unbeirrt maskenhaft durchhält, ist virtuos. | |
22 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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