# taz.de -- Spielfilm „Red Rocket“: Eine erdbeerige Liebe | |
> Sean Bakers Spielfilm „Red Rocket“ zeigt mit Laien von entwaffnender | |
> Wahrhaftigkeit die US-amerikanische Unterschicht, ohne sie auszubeuten. | |
Bild: Bunte Donut-Welt: Mikey Saber (Simon Rex) und Strawberry (Suzanna Son) in… | |
Es klopft. Vor der Tür des verlotterten Häuschens im Industriegebiet von | |
Texas City lehnt, etwas verbeult und von der langen Busfahrt verschwitzt, | |
Mikey „Saber“ Davies (Simon Rex). Und quatscht direkt los. Denn das kann | |
er: Der Mittvierziger hat sich siebzehn Jahre nicht bei seiner Noch-Ehefrau | |
Lexi (Bree Elrod) blicken lassen, die das Haus gemeinsam mit der zahnlosen | |
Mutter Lil (Brenda Deiss) unablässig vollqualmt. | |
In der ersten Szene von Sean Bakers „Red Rocket“ lässt Mikey jedoch einen | |
derartig dringlichen Mix aus Hundeblick, Großkotzigkeit und | |
Verzweiflungstalk vom Stapel, dass Lexi ihn, nach einem wüsten „Fuck you | |
Mikey!“, schließlich doch reinlässt. Und schon einen Schnitt später steht | |
Mikey unter Lexis tröpfelnder Dusche. Geschafft. | |
Im Laufe der Geschichte wird Mikeys zweideutig ranziger Charme und sein | |
eindeutig gutes Aussehen noch einiges reißen – wenn auch nicht alles. Einen | |
„normalen“ Job wird er, trotz Bemühungen, nicht bekommen, denn auf die | |
Frage seiner potenziellen Arbeitgeber:innen nach Referenzen aus den | |
letzten Jahren muss er stets zugeben, in der brummenden „adult industry“ | |
von Los Angeles gearbeitet zu haben. | |
Und einen Ex-Porn-Star (Simon Rex sammelte tatsächlich Erfahrungen in | |
schwulen Pornoproduktionen, bevor er als Model, VJ und Rapper auftrat) | |
wollen die meisten Branchen nicht beschäftigen. Nicht mal einen, der | |
mehrere Erotikfilmpreise für die beste Hetero-„Blowjob“-Szene einsacken | |
durfte. Wieso bekommst überhaupt du den Preis dafür, will eine | |
Gesprächspartnerin wissen. Weil es beim Blowjob ja wohl auf den Mann | |
ankommt, gibt Mikey im Brustton der Überzeugung zurück. | |
## In den Niedriglohnwelten | |
Sean Baker lässt seine tragikomischen, authentischen Geschichten (unter | |
anderem „Starlet“, 2012, [1][„Tangerine L. A.“, 2015], [2][„The Flori… | |
Project“, 2017]) gern in Niedriglohnwelten, in Randgesellschaften, im | |
„Gutter“, der Gosse, oder dem sprichwörtlichen Bordstein mit den | |
dazugehörigen Schwalben spielen. Die Sexfilmindustrie ist für Bakers | |
Figuren nur irgendeine latent ausbeuterische, aber bei Weitem nicht die | |
ausbeuterischste aller Branchen. | |
Der Regisseur und sein Co-Drehbuchautor Chris Bergoch zeichnen Mikey als | |
energischen, etwas abgehalfterten Möchtegern-„suitcase pimp“, was mit | |
„Westentaschen-Casanova“ vielleicht unzureichend übersetzt wäre, es aber | |
zum Teil trifft: In der strukturell ungerechten Welt der | |
Mainstream-Sexfilmindustrie, die oft misogyne Narrative bedient, | |
profitieren Pornodarstellerinnen oft auf vielen Ebenen weniger als die | |
Männer vor und hinter den Kameras und in den Vertrieben – siehe Mikeys | |
Blowjob-Auszeichnung. | |
Doch Baker ist kein Moralist: Er lässt seine Figuren, wie sie sind. | |
Stattdessen badet er sie in Charme, gepaart mit einer lebendigen, durch | |
viele Laiendarsteller:innen unterstützten Wahrhaftigkeit. Und so hat | |
Mikeys erwachende Liebe zu einer 17-jährigen Donut-Verkäuferin namens | |
„Strawberry“ (Suzanna Son), die er in einem Imbiss kennengelernt hat und | |
für die er die vorsichtig und durch einigen Körpereinsatz geknüpften Bande | |
zur pragmatischen Lexi wieder schleifen lässt, etwas Erdbeeriges, Reines. | |
Auch wenn Mikey es kaum abwarten kann, bis seine Süße 18 und damit | |
pornotauglich wird: Mit Strawberry als Star will er eine echte | |
Managerkarriere durchstarten. Und sie will das auch – gegen den | |
Fettkringelverkauf an muffelige Ölarbeiter im „The Donut Hole“ sieht eine | |
Zukunft als Sexfilmstar mit festem Partner nicht nur erdbeerig, sondern | |
rosig aus. | |
## Jenseits der Moralkonvention | |
Selbst wenn Baker jedoch nicht „moralisch“ im Sinne einer fragwürdigen, | |
gesellschaftlichen Moralkonvention ist, und das auch nicht sein muss, kann | |
man in „Red Rocket“ (so nennt man nebenbei einen erigierten Hundepenis) | |
viel Humanismus entdecken: Innerhalb der Systeme, die Baker beschreibt, | |
werden durchaus Diskurse über Gerechtigkeit und Gleichberechtigung | |
verhandelt. | |
Die Gruppe um Mikeys neue, schwarze „Arbeitgeberin“ betrachtet und bewertet | |
beispielsweise sein ambivalentes Verhalten gegenüber Lexi scheel. Denn | |
Chefin Leondria ([3][Judy Hill]) kennt Mikey von früher – sie ist die | |
Drogenqueen der Gegend, betreibt mithilfe ihrer genderliquiden Tochter | |
einen florierenden Handelsring, und hat den damals jungen Mikey in den | |
90ern schon zum Grasverkaufen geschickt. | |
Und natürlich trägt auch Bakers unapologetische und selbstverständliche | |
Darstellung von Sex zur sichtbaren Botschaft von Toleranz bei: Manchmal ist | |
Verkehr eben einfach nur Verkehr, zum Beispiel wenn zwei ehemalige | |
Pornodarsteller:innen (auch Lexi hatte eine Karriere im Business) | |
sich einen langweiligen Abend aufhübschen und den Bums angenehm sachlich | |
durchführen. | |
„Du machst das echt gut“, ist in einem solchen Fall kein hervorgestöhntes | |
Kompliment, das die Frau verteilen muss, weil sie sich zu einer männlichen | |
Selbstbewusstseinsboosterung verpflichtet fühlt, sondern die professionelle | |
Anerkennung von (S)Expertise. | |
## Prekäre Poesie | |
Neben dem brillanten Schauspiel, das in vielen Fällen allein auf einem | |
Vertrauensverhältnis zwischen dem Regisseur und seinen | |
Laiendarsteller:innen beruhen kann (man hatte beim Dreh inmitten der | |
höchsten Covid-Auflagen nur ein zehnköpfiges Team und keine Proben), ist es | |
zudem Bakers Auge für die als ungastlich angesehenen Industrie-Randgebiete | |
der Stadt, das den auf 16 mm gedrehten Film auf eine knorrige Art funkeln | |
lässt. | |
Wenn Mikey die langen Gräten auf sein zu kleines Fahrrad schwingt, um auf | |
dem Weg zu Strawberry wie ein Affe auf dem Schleifstein an einem Gerüst, | |
einer Pumpe und einem (Phallus-)Turm nach dem anderen vorbeizuradeln und | |
ihm dabei eine übergewichtige Frau auf einem langsamen Elektrorollstuhl | |
entgegenkommt, ist das schon ein einwandfreies Bild der prekären Poesie. | |
Und das feinsinnige Gefühl für Timing des 51-jährigen Regisseurs und | |
Editors Baker spiegelt sich in den dramaturgisch perfekt geschnittenen, | |
einzelnen Sequenzen seiner Filme wider, die sich allerdings im Ganzen wenig | |
um die klassische Akt-Filmdramaturgie scheren. Stattdessen geht er „with | |
the flow“, und lässt seinen Figuren so viel oder wenig Zeit, wie sie seiner | |
Ansicht nach brauchen – auch wenn sie darum oft ein bisschen auf der Stelle | |
zu treten scheinen. | |
So erzählt Baker in seinen Independent-Werken eine US-Parallelwelt voller | |
Armut und Schönheit, voller Humor und Bodenständigkeit, ohne dabei | |
verstörend, didaktisch, warnend oder (im male gaze Sinne) ausbeuterisch zu | |
sein. Neben „Red Rocket schaffen es auch viele seiner anderen Geschichten – | |
in „Starlet“ arbeiten einige Figuren als Pornodarsteller:innen, „Tangerine | |
L. A.“ erzählt von trans Sexworker:innen –, die Sexindustrie nur zu | |
streifen, nur als „Welt“ zu behandeln. | |
## Menschenfreundliche Sex-Neugier | |
Das geht, weil Baker von den üblichen Signalbildern absieht, die einerseits | |
die Situation anprangern sollen, aber andererseits auf die normativ | |
geprägte Sex-Neugier des Publikums setzen. Es ist eine vielversprechende | |
Entwicklung, dass auch andere aktuelle Werke wie [4][Ninja Thybergs | |
„Pleasure“] oder die Serie „The Deuce“ neue Blicke und weibliche | |
Erzählperspektiven finden und nicht mehr aus Bildern Profit schlagen, die | |
auf Ausbeutung basieren. | |
Unterm Strich ist „Red Rocket“ trotz des flatterhaften Protagonisten mit | |
seiner Vorliebe für zu junge Frauen, seinem merkwürdigen | |
Karriereverständnis und seiner Treuelosigkeit somit kein frauen- und auch | |
kein männerfeindlicher Film. Sondern vor allem ein menschenfreundlicher. | |
13 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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