| # taz.de -- EU-Migrationsprojekt 2024: Migrationspolitik mitentscheiden | |
| > In einem Monat bestimmt die EU ihr neues Parlament, Migration ist ein | |
| > großes Thema im Wahlkampf. Doch steht eine andere Migrationspolitik zur | |
| > Wahl? | |
| Anfang Juni treten die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union an die | |
| Urnen. Den Wahlkampf beherrschen die Themen Sicherheit und Migration – und | |
| die Differenzen zwischen den Parteien sowie ihren Wählerinnen und Wählern | |
| könnten nicht größer sein. | |
| Die Frage, wie mit Migration umgegangen werden soll, birgt in der EU schon | |
| lange Sprengkraft: Soll sie ihre Außengrenzen weiter abdichten? Wie sollen | |
| Migranten und Geflüchtete verteilt werden? | |
| Länder wie [1][Italien stehen für einen harten Antimigrantenkurs], | |
| Deutschland eher für ein weiterhin uneingeschränkt geltendes Recht auf | |
| Asyl. Italien wird rechts regiert – der Kurs des Landes überrascht daher | |
| kaum. [2][Griechenland hingegen hat eine konservative Regierung] – und | |
| fährt dennoch einen noch härteren Kurs. Auch die EU selbst setzt auf | |
| Abschreckung und dabei auf Abkommen mit Staaten, die für | |
| Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, etwa Tunesien. | |
| Bringt wählen überhaupt etwas? Oder hat sich die Migrationspolitik längst | |
| von den versprochenen Kursen der Parteien gelöst? | |
| Darüber diskutieren Stavros Malichoudis, Redakteur beim griechischen Medium | |
| We Are Solomon, das vor allem zu Migration arbeitet, Alessia Manzi, die für | |
| italienische Medien über Migration und Menschenrechte berichtet, und Mirco | |
| Keilberth, Tunesien-Korrespondent der taz und oft an den Ablegeplätzen der | |
| Boote nach Europa unterwegs. Lisa Schneider, Redakteurin im | |
| Ausslandsressort der taz und Co-Leiterin des Projekts der [3][taz Panter | |
| Stiftung] zu Migration und den EU-Wahlen, moderiert. | |
| Dieser Podcast ist der Auftakt zu einer Serie: Jede zweite Woche bis zur | |
| EU-Wahl veröffentlicht die taz Panter Stiftung an dieser Stelle eine neue | |
| Podcastfolge – und geht dabei verschiedenen Fragen zu den EU-Wahlen und | |
| Migration nach. | |
| Nachfolgenden findet Sie ein deutsches und gekürztes Transkript des | |
| Podcasts zum Nachlesen: | |
| Lisa Schneider (Moderation): Ich möchte mit einem Zitat aus einem Artikel | |
| der taz beginnen, den wir vor kurzem veröffentlicht haben, denn es führt | |
| direkt zum Thema der heutigen Diskussion ein. Ganz unverblümt ausgedrückt, | |
| ob wählen überhaupt einen Unterschied macht oder ob die Migrationspolitik | |
| im Grunde genommen nicht durch die Entscheidungen der Menschen beeinflusst | |
| werden kann. | |
| Wie ich und meine Kollegen in diesem Podcast erläutern werden, scheint es, | |
| dass die Migrationspolitik in Europa nicht durch das Wahlverhalten der | |
| Menschen oder die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst wird, | |
| sondern im Wesentlichen durch Angst. Das ist eine starke These, denke ich, | |
| und wir werden sie jetzt diskutieren. | |
| In der taz haben wir berichtet: Italiens rechtsextreme Regierungschefin | |
| Georgia Meloni steht derzeit besonders unter Druck, weil sie die Wahlen im | |
| Herbst 2022 mit dem Versprechen gewonnen hat, die Zahl der in Italien | |
| ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren. Stattdessensind seit ihrem | |
| Amtsantritt so viele Flüchtlinge nach Italien gekommen wie seit mehreren | |
| Jahren nicht mehr. Ich denke, das gilt für ganz Europa. Heute kommen | |
| ähnlich viele Menschen wie im Jahr 2015, die Zahlen sind also nach einer | |
| Phase niedrigerer Zahlen wieder gestiegen. | |
| Alessia – glaubst du, dass Meloni oder ihre Partei, Fratelli d'Italia, bei | |
| den EU-Wahlen dafür bestraft werden, dass sie dieses Versprechen, das sie | |
| im letzten Wahlgang gegeben haben, nicht einhalten? | |
| Alessia Manzi: Am 8. und 9. Juni ist Italien aufgerufen, seine Vertreter | |
| für das Europäische Parlament zu wählen. Das wird in einem besonderen | |
| Kontext stattfinden: Europa ist von Konflikten umgeben: dem Krieg mit | |
| Russland und der Ukraine, dem Nahen Osten und dem Vormarsch des | |
| Rechtspopulismus und des Neofaschismus in dem Geist, der die rechtsextremen | |
| Parteien umgibt. Dazu zählt auch die aktuelle Regierung, die Präsidentin | |
| Meloni für Fratelli d' Italia und Matteo Salvini von der Lega. | |
| Beide italienischen Parteien gehören zu den Parlamentsgruppen der | |
| Konservativen und Reformisten beziehungsweise der Identität und Demokratie. | |
| Diese rufen zur Verteidigung der nationalen Interessen auf, während sie den | |
| Kreuzzug gegen Asylbewerber und angebliche Islamisten vorbereiteten. Sie | |
| tun das, um die wirklichen Probleme in den jeweiligen Ländern – wie etwa | |
| die Arbeitslosigkeit – zu verbergen. Georgia Meloni sagt: „Ich bin Georgia, | |
| ich bin Mutter. Ich bin Italiener, italienischer Geist. Also Schluss mit | |
| der Umkehrung.“ Alles nur leere Slogans. Mit der Zeit ist ein Gefühl von | |
| Feindseligkeit gegenüber Migranten in Italien entstanden, gegen diejenigen, | |
| die an den Küsten oder auf den Straßen ankommen. Das wirkt sich zum | |
| Beispiel auch auf die italienisch-slowenische Grenze aus. | |
| Lisa Schneider: Abkommen, wie das zwischen Italien und Albanien, dienen | |
| dazu, Migranten draußen zu halten. Die EU hat eine Reihe Abkommen | |
| geschlossen – eines der jüngsten war das Abkommen mit Tunesien. Mirco, | |
| könntest du uns ein wenig darüber erzählen, wie dieses Abkommen in Tunesien | |
| aufgenommen wurde? Du hast sehr viel mit Migrant:innen zu tun, die | |
| Tunesien Richtung Europa verlassen wollen – wie wird es von ihnen | |
| angenommen? | |
| Mirco Keilberth: Tunesien ist ein sehr interessanter Schmelztiegel und ein | |
| Beispiel für die Probleme, die Europa versucht auf andere Länder | |
| abzuwälzen. Seit 2014 können Menschen aus Westafrika, Migranten, aber auch | |
| Studenten ohne Visum nach Tunesien kommen. Es gibt auch viele Menschen, die | |
| aus Libyen geflohen sind, vor den Gefangenenlagern und den libyschen | |
| Milizen, und einen sicheren Zufluchtsort in Tunesien gesucht haben. | |
| Lange Zeit hat das ganz gut funktioniert – bis Anfang letzten Jahres hatten | |
| wir eine Art Lösung in Tunesien. Die Leute hatten informelle Jobs, die | |
| Migranten und die Flüchtlinge haben in der Dienstleistungsbranche in | |
| Tunesien gearbeitet. Es gibt ein Asylgesetz, und es gab eine Art | |
| Gleichgewicht zwischen der lokalen Bevölkerung und den Migranten. | |
| Weder Italien noch Tunesien sind Endzielländer. Migration wird in Tunesien | |
| als eine Art Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur, gegen | |
| Nordafrika, bezeichnet. Das Ergebnis: Die Wut, die viele Tunesier über ihre | |
| eigene soziale Situation haben, über ihr eigenes Versagen, über das | |
| Versagen der Demokratie, wird übertragen. Wir sehen auch das Versagen von | |
| zehn Jahren politische Parteien. Seit dem Arabischen Frühling, seit 2011, | |
| hat sich das Leben, das wirtschaftliches Leben hier überhaupt nicht | |
| verbessert. Und plötzlich gab es einen Sündenbock: die Migranten. Und ich | |
| denke, es ist diese sehr miserable, sagen wir mal europäische, tunesische, | |
| autokratische Zusammenarbeit, die zu Gewalt gegen Migranten geführt hat. | |
| Ich bin recht oft in den Migrantengemeinschaften, in Sfax und in anderen | |
| Küstenstädten in Tunesien, unterwegs: „Offensichtlich will uns niemand hier | |
| in Tunesien, also lasst uns gehen“, sagen sie. Und sie verstehen nicht, | |
| warum Europa sie in Tunesien festhalten will und die tunesischen Behörden | |
| gewaltsam gegen die Gemeinschaft vorgehen, sie aber auch nicht mit dem Boot | |
| ausreisen lassen wollen. In Libyen oder Tunesien wollen sie nicht bleiben. | |
| Diese Abkommen sind keine Lösunge. | |
| Lisa Schneider: Welche Auswirkungen hat das Abkommen mit Tunesien vor Ort? | |
| Mirco Keilberth: Ich habe viele Menschen getroffen, die tief traumatisiert | |
| sind und Freunde auf dem Meer verloren haben. Ich habe dutzende Menschen | |
| getroffen, die miterlebt haben, wie jemand in der Wüste oder auf dem Meer | |
| gestorben ist. Und selbst sie sagen: „Lass es mich noch einmal versuchen. | |
| Warum lassen mich die tunesischen Behörden oder die libyschen Behörden | |
| nicht noch einmal mein Leben riskieren?“ | |
| Ich weiß, dass es aus europäischer Sicht absurd klingt, aber ich höre immer | |
| wieder die gleichen Antworten: „Ich habe nichts zu verlieren. Ich kann | |
| maximal 50 Dollar im Monat verdienen. Ein informeller Job in meinem | |
| Heimatland. Ich habe nichts, was dort auf mich wartet“, sagen sie. Sie | |
| nehmen auch die sehr brutale Art und Weise, wie die Behörden oder Milizen | |
| in Libyen und Tunesien gegen sie vorgehen, oder auch in Marokko, in Kauf. | |
| Das hat für sie keine Bedeutung, weil sie nur eine Richtung kennen: Norden. | |
| Sie werden es versuchen und wieder versuchen. Menschen, die einen Job | |
| gefunden haben – in Sfax, aber auch in Tripolis, Libyen – und ein sicheres | |
| Umfeld, fangen an zu überlegen, ob sie bleiben und nicht ihr Leben | |
| riskieren sollten, auch weil sie Kinder oder ihre Familie dabeihaben. | |
| Dieses Abkommen bringt weder den Italienern noch den Europäern Sicherheit | |
| noch den Menschen in Tunesien. Es sollte ein Abschreckungsfaktor sein, und | |
| ich habe von einigen Mitgliedern des Parlaments gehört: So muss die | |
| Situation aussehen. Weil die Leute, die jetzt in Tunesien sind, eine | |
| Botschaft nach Westafrika zurückschicken sollen: Kommt nicht dorthin. Doch | |
| das wird nicht passieren. Es fehlt das Bewusstsein, dass eine unmenschliche | |
| Behandlung von Menschen nicht unbedingt bedeutet, dass sie nicht mehr | |
| kommen werden. | |
| Lisa Schneider: Ich möchte ein weiteres Zitat aus einem anderen Artikel der | |
| taz hinzufügen. Es geht nicht nur um die Gefahr, auf dem Mittelmeer sein | |
| Leben zu verlieren. Es geht auch darum, was einen dann erwartet, wenn man | |
| kommt. Die Bedingungen, vor allem in Griechenland im Jahr 2015 oder an den | |
| osteuropäischen Grenzen, sind auch heute noch ziemlich schlecht. | |
| Etwa in Griechenland, das zum Beispiel seit 2020 mit einem neuen Gesetz den | |
| Straftatbestand der Beihilfe zur illegalen Einreise regelt. Seitdem kann | |
| praktisch jede Form der Hilfeleistung, der medizinischen Versorgung, des | |
| Transports, der Seenotrettung innerhalb der Hoheitsgewässer oder der | |
| Verteilung von Lebensmitteln strafrechtlich verfolgt werden, wenn das nicht | |
| mit den Behörden abgestimmt ist. | |
| Hilfe ist also theoretisch erlaubt, aber die Helfer müssen sich vorher mit | |
| den Behörden abstimmen, die diese verweigern können. Das bedeutet also, | |
| dass in Griechenland sogar Hilfe für ankommende Menschen, die Hilfe für | |
| Menschen in Not, illegal sein kann. | |
| Deshalb möchte ich dich fragen, Stavros: Griechenland hat keine | |
| rechtsextreme Regierung, sondern eine konservative Regierung. Woher kommt | |
| deiner Meinung nach diese Tendenz in Griechenland, gegenüber Migranten noch | |
| härter zu sein als die italienische Regierung heute? | |
| Stavros Malichoudis: Ich würde sagen, dass die derzeitige griechische | |
| Regierung der Rhetorik zum Opfer gefallen ist, die sie vor ihrem | |
| Amtsantritt verwendet hat. Vor 2019, als sie an die Macht kam, hat die | |
| derzeitige Regierung der Nea Dimokratia eine Rhetorik verwendet, die sehr | |
| gegen Menschen auf der Flucht war und die Menschen auf der Flucht | |
| kriminalisiert hat. Als sie an die Macht kam, erwarteten die Wähler, die | |
| ihr Vertrauen in diese Art von Rhetorik gesetzt hatten, von der Regierung, | |
| dass sie das auch umsetzt. | |
| Und die Regierung hat auch erkannt, dass diese Art von Rhetorik der | |
| Regierung wirklich hilft, fester im Sattel zu sitzen. Das Gesetz, das du | |
| erwähnt hast, ist in Kraft, aber auch zuvor gab es schon Fälle, in denen | |
| Menschen kriminalisiert wurden, die Flüchtlingen bei der Ankunft im Land | |
| geholfen haben. Etwa im Jahr 2015, als eine große Zahl von Menschen ins | |
| Land kam. Im Jahr 2015 kamen über eine Million Menschen an und passierten | |
| Griechenland, meist um nach Mittel- und Nordeuropa weiterzureisen. | |
| Seit drei Jahren gibt es keine Such- und Rettungsaktionen mehr, keine NGOs, | |
| die zum Beispiel auf den Inseln in der Nähe der Türkei bei Booten helfen. | |
| Früher gab es verschiedene NGOs und Basisorganisationen, die geholfen | |
| haben, aber das ist heute nicht mehr der Fall. Die Unterstützung von | |
| Flüchtlingen bei ihrer Ankunft im Land wird kriminalisiert. Wir hatten | |
| Fälle von NGOs, die wegen Schmuggels angeklagt wurden. Am Ende wurden die | |
| Leute in allen Fällen für unschuldig befunden. Aber sie wurden vier oder | |
| fünf Jahre lang verfolgt, und mussten sich all diesen rechtlichen | |
| Bedrohungen stellen. Das hat dazu geführt, dass auch Kollektive, Menschen, | |
| die sich mit den Menschen auf der Flucht solidarisch zeigen, zögerlicher | |
| sind, was das Ausmaß der Hilfe angeht, die sie leisten. | |
| Lisa Schneider: Ich möchte auf etwas zurückkommen, das du ganz am Anfang | |
| gesagt hast: Die Regierung wurde von den Versprechen, die sie während der | |
| Wahlkampagne gemacht hatte, angetrieben. Ich glaube, aus unserer Sicht ist | |
| es oft so, dass die Leute kaum direkte Kontakte zu Migranten haben. Und | |
| auch deshalb entscheiden sie sich, für die Nea Dimokratia oder die Fratelli | |
| d'Italia zu stimmen. Sie haben nicht genug Kontakt zu den Menschen, um ihre | |
| Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen und zu begreifen, warum sie nach | |
| Europa kommen. Ändert sich das bei den Menschen auf den griechischen | |
| Inseln, die täglich mit Migranten in Kontakt kommen? | |
| Stavros Malichoudis: Ich stimme vollkommen zu. Es gibt ein sehr, sehr | |
| großes Maß an Desinformation. Das hat sich über die Jahre überhaupt nicht | |
| geändert. Ich erinnere mich daran, dass es vor zehn Jahren genauso war, und | |
| heute ist es immer noch so. | |
| Es gibt zum Beispiel die weit verbreitete Vorstellung, dass Menschen, die | |
| nach Griechenland kommen, etwa Asylbewerber, sehr große finanzielle | |
| Vorteile im Land erhalten. In der Praxis bekommen Asylbewerber etwa 75 € | |
| pro Monat, was wir in einem europäischen Land niemals als substanziellen | |
| finanziellen Anreiz bezeichnen würden. Es gibt eine sehr, sehr große | |
| Desinformation, wenn es darum geht, worauf Drittstaatsangehörige Anspruch | |
| haben und warum sie hierherkommen, und auch, was die Ankunftszahlen | |
| betrifft. | |
| Es wird immer so getan, als kämen so viele Menschen, dass Griechenland das | |
| nicht schaffen kann. Die Zahlen sind zwar recht klein, etwa 11.000 Leute, | |
| aber dafür kommen im Sommer etwa 30 Millionen Touristen nach Griechenland. | |
| Und das ist gar kein Problem. | |
| Es fehlt an objektiven Informationen. Eine Sache, die die Dinge in den | |
| letzten Jahren wirklich nicht einfacher gemacht hat, ist, dass die | |
| Regierung geschlossene Zentren geschaffen hat, in denen Menschen auf der | |
| Flucht untergebracht werden. Diese befinden sich auf den Inseln. Sie werden | |
| von der EU mit Millionen von Euro finanziert. Das führt zur Isolation der | |
| Menschen. | |
| Lisa Schneider: Das ist eine Parallele, die auch in Tunesien sowie in | |
| Italien und wahrscheinlich auch in Deutschland gilt, dass es viele | |
| Fehlinformationen und Meinungen gibt, die auf sehr selektiven Informationen | |
| basieren. Bei den bevorstehenden Wahlen ist das vielleicht sogar noch | |
| gravierender. Denn Migration wird eine große Rolle bei den EU-Wahlen | |
| spielen – aber es gibt ein großes Maß an Desinformation, an | |
| Fehlinformation. | |
| Und man kann sogar sagen, dass die Menschen sehr nachrichtenmüde sind, mit | |
| den beiden großen Kriegen in Nahost und der Ukraine. Das wäre eine Frage an | |
| alle: Wie könnte man bessere Berichterstattung über Migration erreichen? | |
| Mirco Keilberth: Nun, vielleicht kann ich mit der Sichtweise aus Tunis | |
| beginnen, wo es zwei Gemeinschaften gibt, die nach Europa wollen: die der | |
| Gastgeber, die dort ein besseres Leben will, und die Gemeinschaft der | |
| Migranten und Flüchtlinge, wie die Sudanesen, die aus einem Krieg mit 7 | |
| Millionen Flüchtlingen fliehen. Beide wollen einfach Geld verdienen und ein | |
| normales Leben führen. | |
| Europa will dieses Thema aus den Nachrichten vor der EU-Wahl heraushalten. | |
| Sie wollen das Thema bis Juni, bis zum Sommer, aus den Medien fernhalten, | |
| eben wegen der Wahlen. Ich habe es übrigens sogar von vielen Migranten | |
| gehört: Sie verfolgen die Politik in Europa. Sie hören sich diese Dinge an. | |
| Es ist ihnen nicht entgangen, dass sie nicht willkommen sind. | |
| Es scheint für Politiker recht einfach zu sein, diese Sache aus der | |
| Öffentlichkeit herauszuhalten. Und das ist buchstäblich das, was in | |
| Tunesien passiert ist und auch auf den griechischen Inseln mit den | |
| geschlossenen Lagern. Hier in Tunesien sind es die Olivenfelder in der Nähe | |
| der Stadt Sfax, wo die Menschen aus der Öffentlichkeit, aus der | |
| öffentlichen Meinung herausgehalten werden, lokale Journalisten dürfen da | |
| nicht hin. Selbst Mitglieder des Europäischen Parlaments dürfen nicht | |
| kommen. | |
| Was hilft, wäre, eine offene Diskussion zu beginnen. Ich denke, es gab | |
| bereits einen Weg, wie man damit umgehen kann. Es gab eine Art saisonale | |
| Arbeitsmigration aus all diesen Ländern. Tunesier zum Beispiel gingen zur | |
| Erntezeit oder zur Bausaison nach Sizilien, nach Italien, verdienten etwas | |
| Geld, kehrten zurück und brauchten kein Visum. Und Menschen aus Afrika | |
| südlich der Sahara kamen bis zum Arabischen Frühling nach Libyen und | |
| Tunesien und arbeiteten in tunesischen Hotels, um etwas Geld zu verdienen. | |
| Dann kehrten sie zurück und investierten dieses Geld in ihrem Heimatland. | |
| Was nicht hilft, ist, dass es für Menschen aus Nordafrika so schwierig ist, | |
| in Europa zu arbeiten. Und sie selbst sind von der Welt, die sie auf ihren | |
| Smartphones, auf Youtube und in den sozialen Medien sehen, so abgeschnitten | |
| wie nie zuvor. | |
| Jeder in Nordafrika kann bezeugen, dass selbst nach den brutalen Maßnahmen, | |
| die die Behörden in Libyen und Tunesien gegen Migration fahren, die Zahlen | |
| nicht geringer werden. Es kommen mehr Migranten über die algerische und | |
| libysche Grenze nach Sfax und mehr nach Tunesien als im letzten Jahr. | |
| Obwohl Menschen berichten, dass sie in die Wüste abgeschoben wurden. Europa | |
| und Tunesien müssen in diesem Fall also neue Wege finden, um Migration zu | |
| legalisieren. | |
| Alessia Manzi: Wir haben ein großes Problem mit den Informationen in | |
| Italien, weil die Regierung die Flüchtlinge als „Invasion“ bezeichnet. Die | |
| Regierung hat die Migranten zu einem Teil der Wirtschaftskrise gemacht. Das | |
| ist aber nicht der Fall. Es gibt viele Fehlinformationen, und diese | |
| Invasion wird konstruiert – sie existiert nicht. | |
| Wenn man sich die Zahlen ansieht, sagt Meloni, dass einige Länder, wie | |
| Tunesien, sicher sind. Man muss sich nur die Geschichten von den Fliehenden | |
| anhören, um zu verstehen, dass das nicht der Fall ist. Oft ist zu lesen, | |
| dass die jungen Leute mit teuren Smartphones ankommen. Doch das ist nicht | |
| der Fall. Es ist eine Propaganda der Regierung von Meloni. | |
| Lisa Schneider: Glaubst du, Stavros, dass dies auch auf die Situation in | |
| Griechenland zutrifft? Denn wenn man in die Herkunftsländer der Migranten | |
| schaut, die nach Griechenland kommen – etwa Syrien oder Afghanistan –, gibt | |
| es vielleicht keinen aktiven Krieg mehr, aber einen schwelenden Konflikt. | |
| Stavros Malichoudis: Ja, dies ist ein Fall in Griechenland. Wenn man die | |
| letzten Jahre betrachtet: Die Menschen, die in Griechenland ankommen, | |
| werden in sehr, sehr großer Zahl als Flüchtlinge anerkannt, weil sie | |
| internationalen Schutz benötigen. Ein großer Teil kommt, wie bereits | |
| erwähnt, aus Syrien und Afghanistan. Es kommen auch eine Reihe von Menschen | |
| aus den Palästinensischen Gebieten an oder aus Eritrea oder Somalia. Doch | |
| nach einem Asylantrag und einer langen Wartezeit werden sie meistens als | |
| Flüchtlinge anerkannt. | |
| Lisa Schneider: Es gibt im Grunde zwei Faktoren, einer in journalistischer | |
| Hinsicht und einer in politischer Hinsicht, die dazu beitragen könnten, | |
| dieses schwierige Thema der Migration ein wenig zu entwirren. Der erste | |
| ist: Journalisten müssen Zugang zu Orten bekommen, der ihnen derzeit | |
| verwehrt wird – etwa in bestimmten Ecken in Sfax oder in geschlossenen | |
| Haftzentren in Griechenland. Darüber zu berichten, vor allem vor der | |
| EU-Wahl, wäre wichtig, um andere Perspektiven zu geben. So könnte man der | |
| Taktik, das Thema Migration aus der Vorwahlberichterstattung | |
| herauszuhalten, etwas entgegensetzen. | |
| Und das Zweite wäre – und das ist eine Aufgabe für Politiker –, legale We… | |
| zu finden, wie Menschen ihren Lebensunterhalt in Europa verdienen können, | |
| ohne das Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Vielen Dank an meine Kollegen | |
| Stavros, Alessia und Mirco. | |
| Freie Rede – Hören Sie den neuen Podcast der taz Panter Stiftung und seien | |
| Sie am 29. Mai dabei, wenn wir den Podcast in der taz Kantine live | |
| aufnehmen: [4][taz.de/stiftung/podcasts] | |
| 8 May 2024 | |
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