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# taz.de -- EU-Migrationsprojekt 2024: Die EU-Migrationspolitik überdenken
> Pushbacks und Gewalt finden auch an der EU-Grenze statt. Was braucht
> solidarische Migrationspolitik, die Menschen statt Grenzen schützt?
Seit 2018 regiert der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez
in Spanien. Gelingt es ihm beim Thema Migration, einen anderen Kurs als den
konservativen der Europäischen Union (EU) zu fahren? Die Fluchtrouten
zwischen nordafrikanischen Ländern wie Marokko und Algerien und Spanien
bleiben aus Sicht vieler europäischer Medien mehr bilaterale Angelegenheit.
In die internationalen Schlagzeilen schaffen sie es nur, wenn es
dramatische und tödliche Zwischenfälle gibt, wie etwa in der spanischen
[1][Exklave Melilla am 24. Juni 2022].
Wie können Journalisten über Migration in Europa berichten – mit Fokus auf
Menschlichkeit? Auch mit Blick auf die EU-Wahlen in der ersten Juniwoche
stellt sich die Frage: Inwiefern tragen die strenge EU-Visapolitik und der
bürokratische Aufwand von Familienzusammenführungen in Ländern wie Spanien
dazu bei, dass sich mehr Menschen auf dem Weg nach Europa machen – mit
einem Schlauchboot oder über den Zaun rund um Ceuta und Melilla?
Darüber diskutieren Agus Morales, Chefredakteur der spanischen Zeitschrift
Revista 5W, die vor allem in langen Reportagen über Menschenrechte
berichtet, und Ebbaba Hameida, saharauische Journalistin geboren im
Flüchtlingslager in Tindouf (Algerien) und spezialisiert auf Migration in
Marokko, Algerien und Tunesien. Gemma Terés Arilla, Leiterin der [2][taz
Panter Stiftung] und ehemalige stellvertrende Leiterin des
taz-Auslandsressorts, moderiert das Gespräch.
Dieser Podcast ist die zweite Folge einer Serie: Jede zweite Woche bis zur
EU-Wahl veröffentlicht die taz Panter Stiftung an dieser Stelle eine neue
Podcastfolge – und geht dabei verschiedenen [3][Fragen zu den EU-Wahlen und
Migration nach].
Hier finden Sie ein auf Deutsch übersetztes und gekürztes Transkript des
Podcasts zum Nachlesen:
Gemma Terés Arilla (Moderation): Ich möchte [4][mit einem taz-Artikel von
Juni 2022] anfangen. Da ging es um den Tod von zahlreichen Männern,
hauptsächlich aus dem Sudan, die am 24. Juni 2022 zu Tausenden versucht
haben, den Zaun rund um die spanische Exklave Melilla zu überqueren, um
nach Spanien zu gelangen. Die Gewaltanwendung durch die marokkanischen und
spanischen Polizeikräfte und die sofortige Abschiebung von 500 Menschen
brachten den Fall in die Schlagzeilen. Spaniens Regierungschef Pedro
Sánchez lobte in diesem Kontext die Arbeit der Grenzpolizei. Agus, ist
dieses Bild von Pushbacks und Gewalt an den EU-Grenzen nicht das, was wir
in der Regel mit rechten Regierungen verbinden?
Agus Morales: Wenn man es aus historischer Perspektive betrachtet, gibt es
keinen großen Unterschied zwischen einer Regierung der sozialdemokratischen
PSOE und der rechten Volkspartei PP in Spanien – vor allem im Bereich
Migration. Die Unterschiede sind in anderen Bereichen stark, etwa der
Sozialpolitik.
Auch die Sprache, die Sánchez, im Bezug auf Migration verwendet, ähnelt der
der rechten Parteien: „gewalttätiger Angriff“, „die Souveränität Spani…
ist bedroht“. Seitdem Sánchez regiert, sind die bilateralen Beziehungen mit
Marokko sogar besser geworden. In Bezug auf die europäische Perspektive
stehen wir vor einem Dilemma: Es ist nicht so, dass die Staaten im Bereich
Migration Druck aus Brüssel bekommen und das tun, was ihnen in Brüssel
gesagt wird. Das nationale Interesse steht in Migrationsfragen immer im
Vordergrund. Doch beide Perspektiven sind am Ende die gleichen: Sie
versuchen, eine europäische Festung zu errichten.
Innerhalb der EU gibt es natürlich Nuancen: Länder wie Spanien,
Griechenland oder Italien beschweren sich darüber, weil sie an vorderster
Stelle stehen, wenn Menschen von Süden dort ankommen. In Ländern
Osteuropas, wie Polen oder Ungarn, spielt eher eine ideologische Motivation
gegen Migration eine Rolle. Aber im Endeffekt bleibt die Logik überall in
Europa ähnlich.
Gemma Terés Arilla: Die Türkei oder Tunesien haben Kooperationsabkommen mit
der EU, die Migranten aufhalten sollen. Die Türkei etwa seit 2016. Zwischen
Marokko und Spanien gibt es ebenfalls eine bilaterale Kooperation. Wer sind
die Migranten oder Flüchtlinge, die über Marokko oder Algerien nach Spanien
kommen, und wie werden sie von den Einheimischen in Nordafrika behandelt?
Ebbaba Hameida: Als Europäer sollten wir uns fragen, was der Preis dafür
ist, dass wir diese Abkommen zwischen Europa und den Ländern Nordafrikas
zulassen. Die Rechte der Migranten in Marokko wurden vollständig
ausgehebelt. Es gibt Familien, die nach dem Massaker von Melilla im Juni
2022 die Leiche ihres Kindes immer noch nicht gefunden haben, es gibt immer
noch Vermisste. Diejenigen, die überlebt haben, wurden in Bussen
zurückgebracht. Die Verletzten wurden nicht in Krankenhäuser gebracht.
Außerdem haben uns viele erzählt, dass sie beim Versuch, den Zaun in
Melilla zu überqueren, von der marokkanischen Polizei an die algerische
Gendarmerie übergeben wurden, die sie in die Wüste von Niger absetzte, wo
sie versuchen mussten zu überleben. Das ist der Preis, den wir und diese
Menschen zahlen, wenn die EU an Drittländer delegiert – an Länder, die die
Rechte der Migranten nicht respektieren.
Das Profil der Migranten, die auf den Kanarischen Inseln über Marokko
ankommen, ist unterschiedlich. Es gibt zwei Gruppen. Es gibt Menschen, die
innerhalb Afrikas ausgewandert sind, die Jahre und Jahre gebraucht haben,
bis sie Nordafrika erreichen – in der Hoffnung, die Grenze überqueren und
an die Türen Europas klopfen zu können. Aber im letzten Jahr haben wir
gesehen, dass die Liste der Nationalitäten, die diese Profile anführen,
auch Menschen aus Marokko, Algerien sind – und dann erst aus Mali, Guinea
und der Elfenbeinküste.
Dann gibt es noch eine andere Gruppe, die Nordafrikaner selbst, die nach
der Coronapandemie in einer Wirtschaftskrise leben, mit einer sehr, sehr
hohen Inflation. Die bringt sie dazu, ihr Leben auf See zu riskieren und
eine Zukunft in Europa zu suchen. Unter denen, die am 24. Juni 2022
versuchten, den Zaun von Melilla zu überqueren, waren auch Sudanesen, die
seit sechs, sieben oder acht Jahren versuchten, nach Europa zu gelangen.
Diese Menschen haben ihre Länder schon vor vielen Jahren verlassen.
Es sind Menschen, die vor dem Krieg im Sudan geflohen waren, die durch den
Tschad und durch Libyen gegangen waren. Sie sind bis nach Niger,
Mauretanien und dann durch die Sahara bis nach Marokko gezogen. Oder durch
Mali und dann nach Algerien, um nach Marokko zu gelangen und den Zaun zu
überqueren. Diese Menschen flohen vor den Gefahren, denen sie in Libyen
ausgesetzt waren – einem Land, in dem es Mafias gibt, in dem die Rechte der
Migranten verletzt werden, in dem man ihnen ihr Geld wegnimmt, in dem sie
ausgebeutet werden, in dem sie alle Arten von Übergriffen und physischen
und psychischen Demütigungen erleiden.
Nach solchen Erfahrungen geben sie den Versuch auf, das Mittelmeer von
Libyen aus zu überqueren, und versuchen, ihre Migrationsroute neu zu
organisieren, Marokko zu erreichen und dann nach Spanien zu gelangen.
Das Profil der Menschen, die sich in kleinen Schlauchbooten auf den Weg
machen, besteht in der Regel aus denen, die über eine größere
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügen und sich die Kosten für ein
Boot leisten können. Aber Menschen, die wirklich kein Geld haben, riskieren
ihr Leben, indem sie versuchen, den Zaun in Melilla und Ceuta zu
überwinden, die meisten von ihnen Sudanesen. Als ich einige von ihnen
befragte, gab es Leute, die es mehr als 20 Mal versucht hatten.
Die Migranten, die über Marokko kommen, sind meist jung, meist männlich,
obwohl wir gesehen haben, dass immer mehr Boote mit Frauen besetzt sind,
insbesondere mit Frauen aus dem Senegal. Sie fliehen aus wirtschaftlicher
Not in der Hoffnung, ihr Leben und ihre Zukunft in Europa neu aufbauen zu
können.
Als ich in Casablanca war, konnte ich sehen, unter welchen Bedingungen die
Menschen leben, die versucht haben, den Zaun von Melilla zu überqueren. Wir
haben Menschen getroffen, die in den Vororten der großen Städte leben,
unter unmenschlichen Bedingungen.
Das sind hauptsächlich Menschen, die aus dem Afrika südlich der Sahara
kommen. Das habe ich auch in Tunesien und Algerien gesehen. Es handelt sich
um verarmte Menschen mit prekären Arbeitsbedingungen, deren Situation kaum
zu legalisieren ist. Denn diese Menschen, die vor dem Krieg im Sudan
geflohen sind, hatten sogar bei den UNHCR-Büros in Marokko internationalen
Schutz beantragt. Doch dieses Recht wird nicht anerkannt.
Es handelt sich also um Menschen, die unter überfüllten Bedingungen in den
großen Vororten der Großstädte leben, völlig ausgegrenzt. Darüber hinaus
haben wir in den nordafrikanischen Gesellschaften die Erfahrung gemacht,
dass es einen unausgesprochenen Rassismus gegenüber Menschen aus
Subsahara-Afrika gibt. Diese Menschen werden nicht als Menschen behandelt,
in Marokko oder in Algerien. Natürlich koexistieren sie irgendwie mit der
marokkanischen, algerischen oder tunesischen Gesellschaft, die sogar eine
gewisse Solidarität an den Tag legt, aber es ist eher ein Akt der
Wohltätigkeit. Die Institutionen in diesen Ländern kümmern sich nicht um
die Rechte der Menschen, die auswandern, sondern lassen sie unter
schlechten Bedinungen leben. Es ist wie eine Strategie der Zermürbung.
Gemma Terés Arilla: Agus, in einigen Artikeln von dir kritisierst du auch
die Berichterstattung und das „Wording“ einiger Medien, die dazu beitragen,
dass Migranten erst als solche empfunden werden. Wie könnte ein
konstruktiver Journalismus im Bereich Migration aussehen?
Agus Morales: In den letzten 20 Jahren gab es viele Journalisten in
Spanien, in Europa und in Nordafrika, die Erfahrung in der
Berichterstattung über Migration gesammelt haben. Sie haben sich darüber
Gedanken gemacht. Das Problem ist, wie diese Informationen das große
Publikum erreichen. Die Mainstream-Medien sind normalerweise auf andere
Themen konzentriert, und sie behandeln das Thema Migration nur, als sei es
eine Frage der Sicherheit für den Staat. Das Problem liegt eher bei der
Industrie als bei den Journalisten. Und darüber hinaus reproduzieren Medien
die Sprache der Macht – „Invasion“, „Souveränität“ oder „Migratio…
Als Folge entsteht eine Entmenschlichung der Migranten. Aber ich habe
Hoffnung auf Veränderung, weil es viele Journalisten gibt, die eine
großartige Arbeit leisten.
Gemma Terés Arilla: Zum Beispiel ihr mit der Zeitschrift [5][Revista 5W].
Agus Morales: Es gibt viele unabhängige Medien, die eine gute Arbeit tun.
Und selbst in den Mainstream-Medien, die ich gerade eben kritisiert habe,
gibt es gute Journalisten, die dort arbeiten. Das Problem ist, dass das
Thema immer klein bleibt, es gibt wenig Zeit für Migration in den
Mainstream-Medien. Die Idee der Festung Europa und all diese Mythen über
Migration sind stark in den europäischen Gesellschaften verwurzelt, in der
Psyche. Und diese Ideen haben dann Auswirkungen auf die Wirtschaft, sogar
in kulturellen, tiefgreifende Fragen, die man mit ein paar guten
Geschichten zur Migration nicht so schnell ändern kann.
Gemma Terés Arilla: Wie sieht die Öffentlichkeit in Nordafrika die
Migrationspolitik in Europa? Und wird sie dort auch als eine Festung
wahrgenommen? [6][In der vorherigen Folge] sprachen wir mit einem
griechischen Journalisten über eingeschränkte Zugänge zu Flüchtlingslagern,
zum Beispiel aus Lesbos. Wie ist es in Marokko oder in Algerien? Du selbst,
Ebbaba, bist in einem Flüchtlingslager in Tindouf, in Algerien, geboren und
aufgewachsen.
Ebbaba Hameida: In Ländern wie Algerien und Marokko gibt es keine freie
Presse und die lokalen Journalisten haben große Probleme, über Korruption,
politische Probleme im Land und die Wirtschaftskrise zu berichten – das hat
ebenfalls Auswirkungen auf die Berichterstattung über Migration. Wenn ich
dort unterwegs als Journalistin bin, muss ich sehr diskret und mit viel
Angst arbeiten. Vor allem müssen wir unsere Quellen und die Menschen, die
mit uns reden, schützen. Jedes Mal, wenn ich als Journalistin vor Ort bin,
habe ich das Gefühl, verfolgt zu werden.
Und auch in Tunesien haben wir leider gesehen, welche Rückschläge die
Pressefreiheit im Land seit der Machtübernahme durch die Regierung Kais
Saied erleidet. Die Kollegen vor Ort beklagen die Kontrollen und Drohungen,
denen die Presse jedes Mal ausgesetzt ist, wenn sie sich mit
Menschenrechtsfragen befassen will. Das Ergebnis für die lokalen Medien ist
letztlich ein Schweigen, gerade zum Beispiel über Migrationsthemen. Es gibt
keine Informationen – die maghrebinische Gesellschaft ist sich selbst nicht
der Situation dieser Migranten bewusst. In der Folge kommt es zu einer
Entmenschlichung: Wenn man überhaupt mal über Migration spricht, geht es
lediglich um Zahlen. Man erfährt nichts über die Geschichte dieser
Menschen, die auswandern, oder über die Gründe, die sie zur Auswanderung
bewegen, oder über die Umstände in ihren Herkunftsländern.
Hinzu kommt das Problem des Zugangs für die Medien. Der Zugang zu
Migrationsthemen ist für Journalisten, die aus dem Ausland kommen, oft
einfacher als für einheimische Journalisten. Aber natürlich wollen die
örtlichen Behörden nicht, dass wir das sehen. Ausländische Journalisten
finden daher oft Zugang über die Migranten selbst, die wollen, dass ihre
Geschichte erzählt wird. Sie arbeiten mit der Presse zusammen, um ihnen die
Bedingungen zu zeigen, unter denen sie leben. Aber selbst diese zu finden,
ist sehr schwierig.
Gemma Terés Arilla: Die bilateralen Beziehungen zwischen Spanien und
Marokko seien, betonte Sánchez in den letzten Monaten, so gut wie seit
Jahrzehnten. Damit verbunden ist auch die sehr schwierige Frage nach dem
Status der Westsahara. Die Vereinten Nationen (UN) definieren sie als das
letzte verbliebene Kolonialgebiet auf dem Kontinent. Der Status befindet
sich seit 1975 in der Schwebe. Ebbaba, inwieweit wird die Westsahara als
Druckmittel für Migration eingesetzt?
Ebbaba Hameida: Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Westsahara von
Marokko als Druckmittel benutzt wird. Migranten, die nach Spanien wollen,
soll so der Weg in den Norden versperrt werden. Wenn wir das
Migrationsphänomen in den letzten Jahren analysieren, sehen wir das
bestätigt.
Ein deutliches Beispiel dafür ist die spanische Exklave Ceuta. Die
spanische Regierung erlaubte beispielsweise dem Generalsekretär und dem
Präsidenten der Saharauischen Republik die Einreise nach Spanien, um sich
dort medizinisch behandeln zu lassen. Wochen später sahen wir, wie Marokko
Tausenden von Menschen den Grenzübertritt über Ceuta, die spanische Exklave
in Nordafrika, erlaubte. Unter ihnen waren viele Minderjährige, unter
anderem viele marokkanische Minderjährige. So wird der ungelöste Konflikt
und die Situation in der Westsahara ausgenutzt. Die Politik in der Sahara
bestimmt, wie Migranten behandelt werden oder nicht.
Die Westsahara-Frage ist in den UN bereits geklärt, und Spanien hat trotz
seiner sehr guten Beziehungen zu Marokko immer noch dieses ungelöste
Problem. Insbesondere jetzt, da Spanien viel über die Anerkennung des
palästinensischen Staates spricht, muss dafür eine Lösung gefunden werden.
Spanien hat noch ein Gebiet zu entkolonialisieren, es muss noch die
verschiedenen UN-Resolutionen einhalten.
Medien sollten eine grundlegende Rolle bei der Untersuchung von Migration,
und Sensibilisierung für diese spielen. Wenn ein Grundrecht wie das Recht
auf Auswanderung durch geopolitische und geostrategische Interessen
beeinträchtigt wird, müssen wir etwas tun, um dies zu ändern.
Gemma Terés Arilla: Wir haben am Anfang gesagt, dass die Migrationsrouten
über Spanien und Marokko eher weniger im Vordergrund landen, wenn wir es
aus einer deutschen Medienperspektive betrachten. Ich beziehe mich nun auf
eine [7][Schlagzeile der taz im Januar 2024], da ging es wieder um
Sicherheitskräfte in Marokko, die Hunderte von Migranten daran hinderten,
sowohl die spanische nordafrikanische Exklave Melilla als auch die
Kanarischen Inseln zu erreichen. Etwa 1.000 Menschen wurden verhaftet. Wenn
wir also an die Kanarischen Inseln denken, fällt uns aus deutscher Sicht
vor allem der Tourismus ein. Warum entsteht dieser Blinder Fleck, Agus?
Agus Morales: Ein sehr interessantes Jahr war 2020, als während der
Pandemie Tausende von Menschen auf die Kanarischen Inseln kamen. Es ist
eine alte Route, besonders tödlich und gefährlich, die erst nach vielen
Jahren wieder reaktiviert wurde, während ganz Europa eher auf das zentrale
und östliche Mittelmeer schaute. Wenn man sich das westliche Mittelmeer
anschaut, denkt man fast immer an die bilateralen Beziehungen zwischen
Spanien und Marokko – und weniger an Europa.
Auch die spanische Küstenwache arbeitet anders als im zentralen und
östlichen Mittelmeer. Das Jahr 2015 hat auch eine Rolle gespielt, das Jahr
der sogenannten Flüchtlingskrise, eher eine Krise Europas für mich. Viele
der mehr als eine Million Menschen, die nach Europa kamen, kamen aus Syrien
und Afghanistan – über die östliche Flanke. Darüber hinaus ist auch Italien
mit seiner rechtsextremen Regierung und der Blockade von Rettungsbooten
eine größere Geschichte für die europäischen Medien als die
sozialdemokratische von Sánchez. Obwohl, wie bereits erwähnt, beim Massaker
in Melilla, sowohl Marokko als Spanien eine Verantwortung an den
Todesopfern und Pushbacks tragen. Aber das passt aus europäischer Sicht
nicht so gut zum Narrativ.
Unsere Verantwortung als Journalisten ist, zu zeigen, was an den Grenzen
vor sich geht. Für mich sind die Grenzen im Moment in ganz Südeuropa nicht
die Grenzen Europas, sondern Fabriken des Schmerzes. Und das liegt daran,
dass Europa in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem negativen Projekt
geworden ist. In der Vergangenheit hatte die EU mit anderen Ideen und
Möglichkeiten gearbeitet. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in Europa
noch eine Mehrheit von Menschen gibt, die nicht an die Rhetorik der
Invasion glaubt.
Gemma Terés Arilla: Ich möchte dieses Gespräch mit einem Blick auf die
kommende EU-Wahl abschließen. Agus, du meintest gerade, das EU sei zu einem
negativen Projekt geworden. Hast du Hoffnungen für die Wahl im Juni?
Agus Morales: Ich werde versuchen, fair zu bleiben. Wenn wir die
europäische Migrations- und Asylpolitik kritisieren, gibt es viel zu sagen.
Manchmal neigen wir dazu, die Sachen viel zu viel zu vereinfachen. Der neue
EU-Pakt für Migration und Asyl ermöglicht es, die europäische Festung
weiter auszubauen. Aber wenn man sich den Pakt genau anschaut, merkt man,
dass am Ende alles von den Staaten abhängt. Darüber hinaus gibt es ein
Paradoxon in der EU: Die Vielfalt der EU führt zu einem weniger
vielfältigen Europa, wenn es darum geht, Migranten aufzunehmen. Das hat man
bei den Verhandlungen über diesen Pakt gesehen. Ich weiß, dass einige
Staaten einen anderen Ansatz hatten, aber am Ende gewann ein
rechtskonservativer, restriktiver Kompromiss, teilweise mit Blick auf die
Wahl, wo ein Rechtsruck ansteht.
Natürlich bleibt bis Juni die Hauptfrage, ob die rechtsextremen Parteien an
die Macht kommen oder nicht und welche Auswirkungen das dann auf die
Migration haben wird. In den letzten Jahren hat die Logik des Grenzschutzes
in der EU gewonnen. Es bleibt offen, zu sehen, ob es einen
Paradigmenwechsel zum Schutz der Menschen in den kommenden Jahren innerhalb
der EU geben wird. Wie bereits gesagt, es gab in der Vergangenheit in
Brüssel andere Möglichkeiten und Ideen – ich habe Hoffnung, dass sie
wiederkommen werden.
Gemma Terés Arilla: In der taz Panter Stiftung veranstalten wir seit Jahren
Workshops mit Journalisten aus Subsahara-Afrika. Im letzten Projekt im
Januar beschwerten sich viele von ihnen über die Schwierigkeiten, ein Visum
für die EU zu bekommen. Ein Tourismus-, Studium- oder Arbeitsvisum ist für
Menschen aus Ländern wie China oder Russland viel leichter zu bekommen.
Ebbaba, denkst du, dass eine bessere Visapolitik der EU eine positive
Wirkung auf die Migration haben könnte?
Ebbaba Hameida: Alle jungen Afrikaner, mit denen ich spreche, beschweren
sich über das Gleiche. Die Anforderungen sind sehr kompliziert. Es gibt
nicht einmal Termine in den Konsulaten, und manchmal werden die
Dienstleistungen der spanischen Konsulate an private Unternehmen
ausgelagert, bei denen man Geld bezahlen muss, um einen Termin zu bekommen.
Mit anderen Worten, es ist ein System, das in diesen afrikanischen Ländern
versagt hat. Damit scheitert auch die Hoffnung auf eine legale Einreise
nach Europa.
Wenn der Prozess so lange dauert, wenn es keine Termine gibt oder wenn die
geforderten Voraussetzungen für viele Menschen unerreichbar sind, ist es
unmöglich, einen legalen Weg zu wählen, um nach Spanien zu kommen. Im Falle
des Senegal beispielsweise wurde den Beantragenden vor kurzem auch ein
Transit verweigert. Das bedeutet: Wenn sie in ein anderes Land reisen und
einen spanischen Flughafen passieren wollen, brauchen sie ein Transitvisum.
Hindernisse, Hindernisse, Hindernisse.
Viele Quellen haben uns gesagt, dass Menschen, die zum Beispiel politisch
verfolgt werden, an einem spanischen Flughafen ankommen und sagen konnten:
Ich werde verfolgt. Menschen, die beispielsweise wegen ihrer sexuellen
Orientierung diskriminiert werden, sagten, dass sie ihre sexuelle
Orientierung in ihrem Herkunftsland nicht zum Ausdruck bringen konnten.
Wenn sie dann aber an einem sicheren Flughafen ankamen, stellten sie ihren
Fall der Polizei vor. Jetzt ist das wegen dieses Transitvisums nicht mehr
möglich.
Aber Spanien hat die Pflicht, sich um sie zu kümmern und ihren Fall zu
untersuchen. Es ist also eine Situation, die diese jungen Afrikaner
wirklich an ihre Grenzen bringt. Mit unserem europäischen Pass können wir
die Welt bereisen, wohin wir wollen, und wir können in diesen Ländern tun,
was wir wollen. Aber die Menschen aus Subsahara-Afrika haben nicht einmal
das Recht, eine Reise zu unternehmen oder im Ausland zu studieren. Ich
erinnere mich an einen jungen Senegalesen, der vor kurzem ein Stipendium
für ein Studium in Frankreich erhalten hatte. Die Universität akzeptierte
ihn, aber es war unmöglich, ein Visum zu bekommen. Schließlich entschied er
sich, ein Schlauchboot zu besteigen und ohne Visum überzusetzen.
In Spanien stellt sich außerdem die ungelöste Frage, wie Familien, die
migriert sind, wieder zusammengeführt werden können. Die Verfahren und die
Bürokratie sind sehr langwierig, und es gibt eine Reihe von Anforderungen,
die selbst Familien mit spanischen Pässen nicht erfüllen können, um ihre
Kinder dorthin zu holen.
Das hat zum Beispiel in den letzten Jahren dazu geführt, dass viele
unbegleitete Minderjährige allein mit dem Boot nach Spanien fahren, weil
ihr Vater oder ihre Mutter schon seit Jahren in Spanien leben, sie aber die
bürokratischen Hürden nicht überwinden konnten, um die Familie wieder
zusammenzuführen. Also wählten die Minderjährigen die Bootsroute, um
Spanien zu erreichen und ihre Familie wiederzusehen.
Auf der einen Seite haben wir die Probleme in den afrikanischen Ländern –
mit den Unzulänglichkeiten in den Konsulaten bei der Beantragung von Asyl,
oder sogar von Touristenvisa. Andererseits stellen wir fest, dass die
administrativen Hürden in europäischen Ländern, um die Migrantenfamilien
wieder zusammenzuführen, es auch für die Nachkommen von Migranten schwierig
macht, nach Europa zu kommen. Dies führt dazu, dass auch die Nachkommen
dieser Menschen sich auf den Weg machen und ihr Leben im Atlantik oder im
Mittelmeer riskieren.
Gemma Terés Arilla: Vielen Dank Agus Morales der spanischen Zeitschrift 5W
und Ebbaba Hameida, Journalistin spezialisiert auf Migration und Flucht in
Algerien und Marokko, und Vorstandsmitglied bei Reporter ohne Grenzen in
Spanien.
Freie Rede – Hören Sie den neuen Podcast der taz Panter Stiftung und seien
Sie am 29. Mai dabei, wenn wir den Podcast in der taz Kantine live
aufnehmen: [8][taz.de/stiftung/podcasts]
21 May 2024
## LINKS
[1] /Gewalt-gegen-Migranten-in-Marokko/!5882408
[2] /stiftung
[3] /!vn6002923/
[4] /Spaniens-Grenze-zu-Marokko/!5885690
[5] https://www.revista5w.com/
[6] /EU-Migrationsprojekt-2024/!6008673
[7] /!5983355/
[8] /stiftung/podcasts
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Gemma Teres Arilla
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