# taz.de -- Leben als Rentnerin: Langeweile befreit | |
> Mit steigendem Alter ist Sex in Filmen nicht mehr so attraktiv. | |
> Interessanter scheint, doch noch zu lernen, wie man Spannbettlaken | |
> faltet. | |
Bild: Langweile als positive Lebensphilosophie? | |
An jenem Abend merkte ich, dass sich bei mir im Kopf was verändert hatte. | |
Im Fernsehen lief in Wiederaufführung die tragische Romanze „Verhängnis“ | |
mit Jeremy Irons und Juliette Binoche. Tiefsinnige Blicke, verbotener Sex | |
auf der Couch, auf dem Boden, im Hausflur. Leidenschaft! In meinen 30ern, | |
als ich den Film im Kino gesehen hatte, war ich tief bewegt nach Hause | |
gegangen, trug die folgenden Tage nur noch schwarzen Rollkragenpullover und | |
Mini zu grellroten Lippen und schaute im Edelrestaurant älteren Männern mit | |
grauen Schläfen hinterher. Und jetzt? | |
„Was rutscht der alte Mann auf dem Mädel rum?“, dachte ich, während sich … | |
Fernsehen Irons auf Binoche abmühte. Das alte Gefühl leidenschaftlichen | |
Mitfieberns stellte sich bei mir nicht mehr ein, obwohl wir erst kürzlich | |
den Fernseher mit Großbildschirm erworben hatten. Ich schaltete um. | |
Auf dem anderen Sender lief ein Ökofilm, Basstölpel und Trottellummen | |
verheddern sich in alten Plastiknetzen auf Helgoland und verenden grausam. | |
Die Vögel sehen traurig zu, wie sich ihre Langzeitpartner:innen | |
verfangen und sterben. Ich spürte tiefes Mitleid. | |
Ich bin heute ja viel in der Natur unterwegs und gucke kaum noch Fernsehen. | |
Ich kann fünf Laubbaumarten voneinander unterscheiden. Jeremy Irons und Co | |
sind irgendwie am Horizont verschwunden. | |
## Spaziergänge, Häkeln, Haustiere und Scheidungen | |
Facebook hat meine Veränderung mitgekriegt, mir werden ständig neue Gruppen | |
vorgeschlagen. Jetzt bin ich dem [1][globalen Dull Women’s Club] | |
beigetreten, wo man bei der Aufnahme die Schuhgröße angeben muss und | |
erklären soll, in welchem Reifezustand man Bananen liebt. | |
Binnen kürzester Zeit ist diese Gruppe auf eine Million Mitglieder | |
angewachsen, es scheint, als hätten Hunderttausende Frauen überall auf der | |
Welt nur darauf gewartet, sich ihre eigene dullness, ihre Langweiligkeit, | |
einzugestehen und diese zu feiern. Es riecht nach Kult. | |
Spaziergänge in der Natur, häkeln, Haustiere, Scheidungen, das Alter und | |
persönliche Macken spielen eine Rolle in den Posts. Schönheit, Konsum, | |
Sport und teure Reisen weniger. | |
## Regenwolken über dem Tempelhofer Feld | |
Irene aus den USA, 66, schreibt: „Ich bin in Rente nach langweiligen Jobs | |
als Bürokraft und Verkäuferin. Mein aufregendster Job bestand darin, die | |
Würmer in einem Geschäft für Angelbedarf zu zählen … Ich verbringe meine | |
Tage damit, die Jungs gegenüber zu beobachten, die ein Haus bauen. Was | |
mache ich nur, wenn sie fertig sind?“. Oder Jo aus England, 57: „Ich schaue | |
gerne Folgen von ‚Midsomer Murders‘, obwohl ich sie schon viele Male | |
gesehen habe. Ich mag es auch, verschiedene Marken von Zahnpasta | |
auszuprobieren.“ | |
Brittnay aus Wyoming, USA, 35: „Nach seinem Schlaganfall pflege ich meinen | |
Vater zu Hause. Meine Kleidung passt inzwischen farblich zur | |
Wohnungseinrichtung, ich sammle Pflanzen und alte Dinge, mein Bad mit den | |
Pflanzen ist mein ganzer Stolz. Langweilig zu werden rettet mich“. Debbie, | |
62, lebt allein bei Baltimore in den USA: „Ich bin extrem langweilig, mit | |
Multipler Sklerose. Ich will in diesem Leben noch lernen, wie man frisch | |
gewaschene Spannbettlaken faltet.“ – „Spannbettlaken!“, so Andrea. | |
„Erstaunlich, dass man die überhaupt falten kann. Halte durch!“ | |
Vielleicht poste ich in der Gruppe demnächst mal was über meinen Versuch, | |
Regenwolken über dem Flugfeld Tempelhof mit Bleistift zu zeichnen. | |
Langweilig zu sein macht irgendwie frei. | |
28 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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