# taz.de -- Unproduktiv sein: Chill mal! | |
> Sogar Ameisen, die eigentlich immer mit zu viel Gepäck umhereilen, können | |
> nichts tun. Nur ich nicht. Wie chillt man also richtig? | |
Bild: „Je besser man prokrastinieren kann, desto chilliger wird’s“ | |
Es geht gleich mal unsympathisch los: Ich bin schlecht im Chillen. Selbst | |
wenn ich es mir vornehme, fallen mir zig Dinge ein, die ich stattdessen | |
machen könnte. Im Regen joggen oder das Eisfach abtauen zum Beispiel. Ich | |
kann nicht gut ausschlafen und wenn ich zu Hause ein Yogavideo nachturne, | |
schalte ich vorm Shavasana, der Endentspannung, ab. Bei McKinsey wären sie | |
stolz auf mich. | |
Meine 24 Stunden wollen effizient vollgestopft werden, sonst fühle ich mich | |
nutzlos. Etwas machen, das gar keinen Sinn hat, das weder kreativ noch | |
sportlich ist oder mit sozialen Verpflichtungen verbunden, diese pure | |
Unproduktivität bringt einem keiner bei. | |
„Chill mal!“, das habe ich oft gehört, aber bisher verpuffte dieser | |
Ratschlag. So muss das mit vielen Dingen sein, die ich spontan ablehne, | |
weil ich sie nie gelernt, ausprobiert oder darüber nachgedacht habe: | |
bewusst schreien, die [1][Eizellen einfrieren], Erbsenmilch trinken. Also | |
bekomme ich fortan jeden Monat einen Rat. Und teste: Ist das Fortschritt, | |
ist das Bullshit oder sogar Rebellion? | |
Forscher:innen haben beobachtet, dass [2][sogar Ameisen], die eigentlich | |
immer mit zu viel Gepäck umhereilen, nichts tun können. Vierzig Prozent von | |
ihnen sitzen einfach so rum. Sie empfinden weniger Dringlichkeit, Aufgaben | |
zu erledigen. Der Schwellenwert, ab dem sie anfangen zu arbeiten, liegt | |
höher als bei den Ameisen, die sich den ganzen Tag abrackern. Erst im | |
Notfall legen sie los und sorgen so dafür, dass ihre Kolonie resilient | |
bleibt. | |
Das ist fast wie mit dem Eisfach bei uns. Entsteht darin eine daumendicke | |
Schicht Eis, klopfe ich diese samt der festgefrorenen Dillreste raus, gerne | |
auch um 22 Uhr. Meine Mitbewohnerin würde sich erst ums Abtauen kümmern, | |
wenn eine ganze Eisscholle samt Eisbären unser Tiefkühlfach belegt. Sie ist | |
unsere stille Reserve, für den Fall, dass ich zusammenklappe. Ich, die | |
dumme Arbeitsameise, die sich selbst ausbeutet. | |
Ich gehe in eine Bibliothek, hier hängen Teenies nach der Schule rum, | |
spielen Computer und tun so, als würden sie lernen. Sie müssen am besten | |
wissen, wie man chillt. Mit 15 sind die Sorgen klein und die Freizeit ist | |
groß. Ich setze mich dazwischen. Zwei Mädchen versinken so tief in den | |
Sesseln wie in ihren Handys. In ihrer Mitte stehen Erdbeeren und | |
Energydrinks. Sie wollen gleich lernen, aber erst mal kurz erholen. Und | |
wie? „[3][Mit Tiktok]“. | |
Ich frage weiter: „Musik hören“, „Ins Bett legen“, „Die Augen schlie… | |
„Eine Serie schauen“, „Musik hören“, „Kiffen“, „Musik hören“. | |
„Mit dem Bus extra zu weit fahren“, sagt ein Mädchen dann. Einfach sitzen | |
bleiben, obwohl man danach wieder zurück muss. Völlig sinnlos und | |
unproduktiv – ideal. | |
„Je besser man [4][prokrastinieren kann], desto chilliger wird’s“, sagt e… | |
17-Jähriger. Er hat heute angefangen, für die Klausur morgen zu lernen. | |
„Verdrängen, das ist wie Wellness fürs Gehirn.“ Die Freundin neben ihm, | |
ordentlicher Pferdeschwanz, wahrscheinlich baldiges Einser-Abitur, hat | |
einen Profitipp: „Schon mal von einem Third Place gehört?“ Ne. Ich soll mir | |
einen Ort zum Chillen suchen, der nichts mit der Arbeit zu tun hat und | |
nicht mein Zuhause ist, weil da Eisfächer und andere Verpflichtungen | |
lauern. Ein Café, eine Wiese, eine Parkbank. Vielleicht zählt auch die | |
Couch von Freunden? In Gesellschaft entspanne ich gerne mal. | |
Aber eine 14-Jährige erklärt mir: „Es gibt einen Unterschied zwischen | |
Abhängen und Chillen.“ Abhängen, das macht man mit Freunden. So richtig | |
chillen, das geht besser allein. Dann bleibe ich heute wohl im Bus sitzen. | |
Oder morgen. | |
4 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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