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# taz.de -- Grüne in Bayern: Die Stadt-Land-Kluft
> In Städten sind die Grünen erfolgreich, auf dem Land immer weniger. Das
> zeigt sich besonders in Bayern. Die dortige neue Grünenchefin will das
> ändern.
Lenggries, Miesbach, München, Sondermoning und Türkenfeld taz | Katharina
Schulze hört zu. Man kann das durchaus mal erwähnen, denn immer wieder wird
der Fraktionschefin der Grünen im bayerischen Landtag ja vorgehalten, dass
sie dies so gar nicht könne. Zuletzt beim Starkbieranstich am Nockherberg.
Da hat ihr [1][Maxi Schafroth in seiner Fastenpredigt] noch erklärt: „Am
Land punktet man mit Zuhören, Katha, schreib mit!“ Und zur Sicherheit noch
hinzugefügt: „Zuhören ist das Gegenteil von Reden.“ Das Gelächter im Saal
war groß. Wer mit dem bayerischen Politpersonal nicht ganz so vertraut ist,
muss dazu vielleicht wissen, dass, wenn Schulze ansetzt zu reden, schon so
mancher Wasserfall neidisch werden kann.
Jetzt sitzt Schulze also hier in Miesbach beim Bräuwirt und – hört zu. Sie
hat ihren eigenen Steinkrug dabei. Darauf: ihr Konterfei und der Schriftzug
„Schulzes Stammtisch“. Darin natürlich ihr Erkennungsgetränk: Spezi.
„Schulzes Stammtisch“ ist ein neues Format der Grünen, das in Miesbach an
diesem Donnerstagabend Premiere feiert. Das Ziel ist es, die Grünen wieder
verstärkt mit dem Land ins Gespräch zu bringen. Zwei Welten, die sich
zunehmend voneinander entfernt haben – wie zuletzt bei den heftigen
Konfrontationen zwischen Landwirten und grünen Bundesministern deutlich
wurde.
Bei der Landtagswahl im Oktober hat man es gesehen: In München-Mitte haben
die Grünen 44,1 Prozent geholt, keine Verluste gegenüber 2018. Weit hinten
im Bayerischen Wald, im Stimmkreis Regen, Freyung-Grafenau, waren es gerade
noch 4,3 Prozent – kaum mehr als die Hälfte des Ergebnisses von 2018.
Rund 70 Gäste sind zum Bräuwirt gekommen und gut gelaunt. Schulze, rotes
Kleid, offenes Lachen und immer mal wieder die Hand auf dem Herz, stellt
sich noch kurz in die Mitte der Stube. „Bei eich is einfach schee“, sagt
sie. Und erklärt: Sie wolle nicht drei Stunden lang die Welt erklären,
sondern werde jetzt von Tisch zu Tisch gehen. „Und dann reden wir einfach
miteinander.“ Eine Frau, die sich gerade das Ragout vom Schweineherz
bestellt hat, seufzt: „Und ich dachte, ich komm hierher und lass mich
berieseln.“
Dann geht es von Tisch zu Tisch und um Tiktok, die Anbindehaltung von
Tieren, Rechtsextremismus und den ganzen Rest. „Habt ihr keine Psychologen,
die euch beraten, wie man Inhalte vermittelt“, fragt einer. „Unsere
Kommunikation ist nicht immer glücklich“, gesteht Schulze ein. Die
38-Jährige hat sich einen großen Teller Pommes bestellt. Sie bietet allen
Umsitzenden an, sich zu bedienen, was sich freilich keiner traut.
Ein junger Besitzer eines kleinen Sägewerks erzählt ihr von seinen
Problemen mit der überbordenden Bürokratie. Eine Mitarbeiterin Schulzes
geht dazwischen: „Ich muss die Frau Schulze jetzt leider entführen, wir
müssen an den nächsten Tisch.“ Die Politikerin schreibt noch schnell ihre
E-Mail-Adresse auf ein Bierfilzl, bittet den Mann: „Schick mir dein
Problem!“ Sie könne nichts versprechen, werde es aber weitertragen.
Acht Minuten pro Tisch sind nicht viel. Das Feedback nach dem
anderthalbstündigen Besuch in Miesbach ist dennoch überwiegend positiv.
„Wir wurden gehört“, sagt der Sägewerksbesitzer.
Dass Schulze, die nach der Wahl den alleinigen Fraktionsvorsitz übernommen
hat, nun ein solches Format startet, kommt nicht von ungefähr. Wie haltet
ihr’s mit dem Land, lautet derzeit die grüne Gretchenfrage, und sie scheint
einen wunden Punkt zu treffen: In internen Chats würden bereits Warnungen
verbreitet, dass die taz zu dem Thema recherchiere, erzählen Mitglieder
dieser Chats. Wohlgemerkt: Es geht hier um keine schwarzen Kassen, keine
Sexorgien, keine Jugendsünden des Spitzenpersonals. Gut, ans Eingemachte
geht es schon. Letztlich nämlich um die Frage, ob die Grünen noch das Zeug
zur Volkspartei haben, als die sie sich in den letzten Jahren bereits
wähnten.
Dabei ist das Problem nicht unbedingt ein bayerisches, erklärt Martin
Gross, Politikwissenschaftler an der Münchner
Ludwig-Maximilians-Universität. Diese sich vergrößernde Kluft zwischen
Stadt und Land könne man in allen deutschen Flächenländern feststellen. Die
Situation in Bayern steht also Pars pro Toto für die Bundesrepublik.
Woran liegt es, dass die Grünen auf dem Land keinen Fuß mehr auf den Boden
bekommen? Fragt man Thomas Gehring, bis zum Herbst selbst noch für die
Grünen im Landtag, sagt er: „Die Berliner Politik trifft die Lebensrealität
auf dem ländlichen Raum oft nicht mehr.“ Das ursprünglich im Heizungsgesetz
seines Parteifreundes Robert Habeck geplante Verbot von Holzheizungen hat
Gehring beispielsweise sehr geärgert. „Das hätte man im Allgäu niemals
vermitteln können. Hier sind ein Drittel der Leute selbst Waldbesitzer.“
Gehring kommt aus dem Oberallgäu. Bei der Wahl waren es die Verluste auf
dem Land, die letztlich dafür sorgten, dass er den Wiedereinzug ins
Parlament knapp verpasst hat. „Wir hätten uns früher von der Bundespolitik
absetzen müssen“, sagt Gehring jetzt.
Andere Grünen-Politiker auf dem Lande, die lieber nicht namentlich genannt
werden wollen, sind weniger höflich. „Wir haben einfach eine
Scheißregierung“, heißt es da etwa mit Blick auf die Ampel. Aber auch die
eigenen Leute auf Landesebene werden nicht immer aus der Verantwortung für
das Wahlergebnis entlassen: Das bayerische Spitzenpersonal funktioniere im
ländlichen Raum einfach nicht, sagt eine grüne Kommunalpolitikerin. „Die
haben nicht das Format.“
Das könnte auch mit einer thematischen Kluft zu tun haben, die sich
ebenfalls durch die grüne Welt zieht. So sind die Grünen wie auch ihre
Wähler auf dem Land in der Regel deutlich wertkonservativer als in der
Stadt. Zum Beispiel Claudius Rafflenbeul-Schaub: „Ich bin bei den Grünen in
erster Linie wegen Umweltpolitik beigetreten“, sagt der 47-Jährige aus dem
Ortsverband Tegernseer Tal. „Aber wenn man sich jetzt die Entwicklung in
den Städten anschaut, da geht es in unserer Partei oft mehr um
Identitätspolitik und Kulturkämpfe als ums Klima oder bezahlbare Wohnungen.
Das sehe ich kritisch. Und ich glaube, dadurch verprellen wir auch Wähler.“
Ähnlich empfindet das auch Wolfgang Rzehak aus demselben Ortsverband.
[2][Von 2014 bis 2020 war er Landrat in Miesbach], der erste grüne Landrat
in Deutschland überhaupt. „Man gewinnt die Wahlen in der Stadt, aber
verlieren tut man’s auf dem Land“, warnt er. In den letzten zehn bis
zwanzig Jahren hätten die Grünen in Bayern sehr viel erreicht, auch auf dem
Land. „Einiges davon ist jetzt kaputtgegangen.“
In der Tat hat die Partei in den letzten fünf Jahren eine erstaunliche
Entwicklung gemacht: Die Mitgliederzahl hat sich fast verdoppelt, auf
aktuell knapp 22.000. Von den 551 Ortsverbänden gab es 229 bei der
Landtagswahl 2018 noch gar nicht. Auch derzeit kommen allen Anfeindungen
zum Trotz ständig neue Mitglieder dazu – auch auf dem Land. Die
Ausgangslage, um dort Gesicht zu zeigen, wäre also gar nicht so übel.
Die neue Hoffnung der bayerischen Grünen liegt nun auf Sondermoning. Oder
sitzt vielmehr dort in der Stube an dem großen Esstisch. [3][Gisela Sengl]
heißt sie, ist Biobäurin, bewirtschaftet in dem kleinen Dorf im Chiemgau
mit ihrem Mann einen Hof. Nicht besonders groß. Zehn Hektar, weitere zehn
haben sie dazu gepachtet.
Unten im ehemaligen Stall ist der Bioladen untergebracht. Hier gibt es
nicht nur das hofeigene Obst und Gemüse, sondern Vollsortiment. Seit 27.
Januar ist Sengl Chefin der bayerischen Grünen. Nachdem sie in einer
Kampfabstimmung auf dem Parteitag in Lindau zunächst gegen die bisherige
Landesvorsitzende Eva Lettenbauer knapp unterlegen war, [4][hatte sie sich
in einer zweiten gegen Lettenbauers bisherigen Co-Vorsitzenden Thomas von
Sarnowski durchgesetzt]. Die 63-Jährige hatte sich klar als eine
Alternative vom und fürs Land präsentiert.
„Ich glaub’, dass Gisela Sengl der Partei total gut tut“, sagt [5][Mia
Goller], Landtagsabgeordnete aus Niederbayern. Und ihr Kollege [6][Johannes
Becher], inzwischen Katharina Schulzes Stellvertreter, spricht von einer
„ganz starken Kandidatin, die die Menschen mitnimmt“. Äußerungen, die
interessant sind, schließlich war man in der Fraktion gegen Sengl. Vor
allem Schulze hatte sich öffentlich für das bisherige Duo
Lettenbauer-Sarnowski ausgesprochen. Einzig Schulzes früherer
Co-Vorsitzender Ludwig Hartmann plädierte für Sengl.
Man habe in Lindau schon eine gewisse Spaltung zwischen Stadt und Land
feststellen können, erzählt Thomas Gehring. Während die einen, die aus der
Stadt, eher dafür plädiert hätten, weiter wie bisher zu machen, hätten sich
die anderen stärkere Konsequenzen aus dem Wahlergebnis gewünscht.
## „Raus aus unserer grünen Blase“
Das Lettenbauer-Sarnowski-Lager hatte sich noch massiv ins Zeug gelegt,
Delegierte abtelefoniert und zur Wahl der bisherigen Parteichefs, zwei
engen Schulze-Vertrauten, bewegen wollen. Eine Bundestagsabgeordnete soll
besonders häufig zum Telefon gegriffen haben. Am Ende wurde es dennoch
Sengl. „Da hat die Partei die Bremse reingehauen“, sagt Rzehak.
Sengl ist nicht irgendwer in der Partei. Zehn Jahre lang saß sie im
Landtag, sie kennt den Politikbetrieb. Dass sie nicht mehr im Parlament
sitzt, hat auch sie den Verlusten auf dem Land zu verdanken – und dem
Umstand, dass sie es versäumt hat, auf den Wahlzettel die bei Wählern
beliebte Berufsbezeichnung „Biobäurin“ schreiben zu lassen.
Dabei kennt sie nicht nur das Landleben. Aufgewachsen ist Sengl in München,
der Vater war Siemensianer. Aber schon als junge Erwachsene hat es sie dann
aufs Land verschlagen. „Wir müssen raus aus dem Landtag, raus aus unserer
grünen Blase“, sagt die Parteichefin jetzt. Heißt natürlich auch: raus aufs
Land. Sie selbst möchte vor allem in die Partei hineinwirken. Lettenbauer
und sie wollen nun alle 91 Kreisverbände besuchen, Präsenz und
Wertschätzung zeigen.
Insgesamt aber gehe es den bayerischen Grünen sehr gut, sagt Sengl. Das ist
überhaupt der Tenor, wenn man sich in Parteizentrale und Fraktion umhört.
Alles in Butter. An der Wahlniederlage seien Berlin und die Populisten von
CSU und Freien Wählern schuld. Und überhaupt: Im Vergleich zu SPD und FDP
habe man ja noch immer ganz gut abgeschnitten: 14,4 Prozent. 3,2
Prozentpunkte weniger zwar als 2018, aber immer noch das zweitbeste
Ergebnis in der Parteigeschichte. Klingt ja nicht schlecht.
Doch unter der Zuckerglasur gibt es derzeit viel Unmut in der Partei,
zumindest auf dem Land. Vieles davon hat direkt mit dem Stadt-Land-Gefälle
zu tun, manches indirekt. So bemängeln viele die mangelnde Präsenz der
ländlichen Grünen im Parlament. „Wie sollen die Ideen vom Land in den
Landtag kommen, wenn dort keine Leute vom Land sitzen“, fragt ein
oberbayerischer Kommunalpolitiker. Tatsächlich standen auf der wichtigsten
Liste bei der Landtagswahl, der des Wahlkreises Oberbayern, unter den
ersten 14 nur drei Kandidaten aus einem Stimmkreis, der nicht mit der
Münchner S-Bahn zu erreichen ist. Und von denen hat es nur einer in den
Landtag geschafft.
Bei den Aufstellungsversammlungen laufe das auch nicht mehr wie früher,
schimpft einer, der schon öfter dabei war. Die Kandidatenkür sei ein
einziges Gemauschel. Alles werde schon vorab in Whatsapp-Gruppen
ausgehandelt – zugunsten der Städter.
Immer wieder enden die Klagen dann bei der Grünen Jugend. Personen, die
Macht hätten in der Partei, seien überwiegend typische städtisch geprägte
„Parteikader“. Auch Schulze und ihre Entourage seien größtenteils in der
Grünen Jugend sozialisiert worden. Diese, so die Kritikerinnen und
Kritiker, sei ein gut organisiertes Karrierenetzwerk – sehr weit weg von
der Praxis, aber unglaublich engagiert. „Früher ging’s um Themen, jetzt
geht’s um Netzwerke“, ist ein Satz, den man in unterschiedlichen
Formulierungen immer wieder zu hören bekommt.
Auch Nikolaus Hanus aus Lenggries ist nicht glücklich über die Dominanz der
Grünen Jugend und will den Wählern ein breiteres personelles Angebot
machen. Aber dann müssten sich eben auch die Grünen auf dem Land und die
älteren Parteimitglieder besser vernetzen, fordert der 50-jährige
Schreinermeister, der bei der Landtagswahl ebenfalls angetreten ist – wenn
auch ohne reelle Chance. Dann müsse man halt auch mal sein Wochenende
opfern und als Delegierter zum Parteitag fahren und nicht immer nur die
Jungen vorschicken.
## Über den Supermarkt zur Partei
Und damit zu Sabeeka Gangjee-Well und Hans Well nach Türkenfeld, in den
Westen Münchens. Ein anderer Holztisch in einem anderen Bauernhaus. Nur:
Dieses ist ein bisschen älter. Rund 400 Jahre alt. Entsprechend tief die
Decken, klein die Fenster. Aber vorne raus kann man auf den Ammersee
blicken. Das Haus hat Hans Well seinerzeit selbst hergerichtet, ein Hobby
von ihm. Sabeeka Gangjee-Well ist Sprecherin des hiesigen
Grünen-Ortsverbands, Gemeinderätin und Dritte Bürgermeisterin. Ihr Mann ist
vor allem bekannt als einer der drei Brüder der Biermösl Blosn, der Musik-
und Kabarettgruppe, die nicht nur in Bayern Kultstatus hatte und bis 2012
jahrzehntelang durch die Lande zog, oft gemeinsam mit [7][Gerhard Polt]. In
ein paar Wochen ist er wieder auf Tour, [8][diesmal mit seiner Tochter].
Es gibt Tee, Kekse und deutliche Worte. Seit Jahrzehnten begleitet Well die
bayerische Politik als schonungsloser Beobachter. Für die Biermösl Blosn
schrieb er die Texte. Meist hat es damals die CSU abgekriegt, nicht selten
auch wegen Umweltthemen: Rhein-Main-Donau-Kanal, Wackersdorf,
Isentalautobahn: Eigentlich müsste man meinen, der Mann steht den Grünen
besonders nah. Stand er auch mal.
Sabeeka Gangjee-Well kam über einen Supermarkt in die Politik. Der sollte
in Türkenfeld auf einer grünen Wiese gebaut werden, hätte sicher dann auch
ein Gewerbegebiet nach sich gezogen. Als Gangjee-Well davon erfuhr,
engagierte sie sich mit ein paar Mitstreitern gegen das Projekt. Am Ende
wurde der Supermarkt nicht gebaut, aber Gangjee-Well saß im Gemeinderat.
Bei den Grünen ist sie erst seit Oktober 2019. Und dennoch hat sich bei der
55-Jährigen schon so etwas wie Resignation breitgemacht – zumindest was die
Parteipolitik angeht. Sie erzählt ein Beispiel: Im Frühjahr 2022, als der
Referentenentwurf zur EEG-Novelle bekannt geworden war, haben sich einige
Grüne aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck, die mit der Materie Erneuerbare
Energien besonders vertraut waren, zusammengetan und ein Papier mit ein
paar wenigen Punkten verfasst, die aus ihrer Sicht Priorität haben sollten:
eine Din-A4-Seite. Einfach so, als unverbindlichen Gruß von Experten von
der Basis.
Über den Kreisverband wollten sie es dann an die zuständigen grünen
Vertreter in der Bundesregierung weiterreichen. Doch der Widerstand war
groß: Der Kreisverband bremste das Anliegen sofort aus, erzählt
Gangjee-Well. Das Argument: Die da oben wüssten doch, was sie machten. Das
seien schließlich Minister, weil sie eine so große Expertise hätten, und
bräuchten bestimmt keine Ratschläge von der Parteibasis. Es kam sogar zu
einer Abstimmung: Die Mitglieder des Kreisverbands waren dafür, das Papier
weiterzureichen. Der Vorstand ließ es dennoch versickern. Und so wartet die
Bundesregierung noch heute auf die bayerischen Eingebungen. Nach mehreren
solchen Erfahrungen beschränkt sich Gangjee-Well als aktive Politikerin
mittlerweile auf die Arbeit in der Gemeinde.
Während seine Frau resigniert, singt Hans Well bisweilen noch gegen den
Frust an. So wie letztes Jahr im September. Da hatte ihn das
Grünen-Urgestein Martin Runge gebeten, auf einer Abschiedsfeier für ihn und
andere scheidende Landtagsabgeordnete aufzutreten. Was Well sang, war
schmeichelhaft – für Runge. Für den Rest der Fraktion war es eher eine
Watschn: „Heit hot mi’s Schicksal in eine Fraktion verschlogn, wo s’vui
Abgeordnete, aber koane Charakterköpf wia an Daxenberger hom, wo ma si
zfriedn gibt mit Wähler in da Stod und den Kampf ums Land längst aufgebn
hod.“ („Heute hat mich das Schicksal in eine Fraktion verschlagen, wo sie
viele Abgeordnete, aber keine Charakterköpfe wie den Daxenberger haben, wo
man sich zufrieden gibt mit Wählern in der Stadt und den Kampf ums Land
längst aufgegeben hat.“)
Ob die Grünen noch eine Partei seien oder längst eine Werbeagentur, fragte
er sich in dem Lied dann noch und hielt dem grünen Spitzenpersonal vor,
sich ungeniert an den Grünenhasser Söder hinzuwanzen. Die „dauervergnügte
Katharina Schulze“ soll den Auftritt dem Münchner Merkur zufolge gar nicht
mal so witzig gefunden haben.
Mei, enttäuschte Liebe, entschuldigt Hans Well seine Härte mit den heutigen
Grünen. Im dunkelgrünen Pullover sitzt er da und schimpft gleich weiter:
„Das Grundproblem bei den Grünen ist, dass sie die Graswurzelbewegung
verloren haben.“ Die Menschen, die sich wirklich für ein Thema engagieren,
sei es bei Fridays for Future, dem Bund Naturschutz oder in einer
Bürgerinitiative, fühlten sich nicht mehr von den Grünen vertreten und
hätten sich abgewandt. „Das Versagen der grünen Partei ist, dass man heute
fast nur noch auf stromlinienförmige Typen setzt, die wunderbar die
Sprechblasen beherrschen.“
## Selbstkritik verlernt?
Dass den Grünen die Fläche wegbreche, habe auch mit konkreten Themen zu
tun. Beispiel Flächenfraß: Die Grünen – federführend der damalige
Fraktionschef Ludwig Hartmann – hatten 2018 ein Volksbegehren gegen die
Betonflut initiiert. Ein Thema, mit dem ihnen sogar der Schulterschluss mit
der Bauernschaft gelungen ist. „Damit erreichst du die Leute auf dem Land“,
sagt Well.
Wegen eines Verfahrensfehlers [9][wurde das Volksbegehren gestoppt]. Aber
statt den Fehler zu beheben und einen neuen Anlauf zu wagen, hätten die
Grünen das Thema fallen lassen. Aus der Fraktion habe er gehört, dass
Hartmann von Schulze, Lettenbauer und Sarnowski überstimmt worden sei,
erzählt Well. Zu unwichtig hätten sie das Thema gefunden.
Außerdem vermisst Well bei den Grünen die Streitkultur: „Schau dir die
Parteiveranstaltungen an. Das sind doch Jubelveranstaltungen.“ Gleichen die
Grünen das zum Teil unerträgliche Übermaß an Kritik, ja, an Hass, das sie
seit einiger Zeit von außen zu ertragen haben, durch ein Übermaß an
interner Kritiklosigkeit aus? Hat ausgerechnet die basisdemokratischste
unter den großen Parteien, der früher so mancher Parteitag gern mal zum
Hochamt der Selbstzerfleischung entglitten ist, die Selbstkritik verlernt?
Einen wie den Sepp Daxenberger bräuchte man jetzt, sagen viele, auch Well,
der gut mit ihm befreundet war. Der habe die Wertkonservativen abgeholt.
Bauer, Goaßlschnalzer, Bürgermeister, Parteichef, Fraktionschef – [10][der
2010 gestorbene Politiker] aus Waging hat die Kluft zwischen Stadt und Land
überbrücken können wie wohl kein zweiter. „Hättest du einen solchen Kopf,
so was würde auf dem Land schon ziehen“, meint Nikolaus Hanus. Andere sind
skeptisch: „Jemanden wie Daxenberger würde man heute gar nicht mehr mit den
Grünen, wie ich sie wahrnehme, verbinden“, sagt etwa Politologe Gross.
Stattdessen haben die Grünen nun Katharina Schulze. Eine, die immerhin
schon Wahlergebnisse eingefahren hat, von denen Daxenberger nicht einmal zu
träumen gewagt hätte. Fragt man auf dem Land nach ihr, sind die Antworten
durchwachsen. Ein absolutes politisches Ausnahmetalent, sagen die einen,
eine superschlaue, vorlaute Städterin, sagen die anderen. Und das sind auch
die, die dann ganz schnell noch das Smartphone zücken und den
Instagram-Kanal der bayerischen Grünen öffnen: Zwölf Bilder sind zu sehen,
auf elf von ihnen „die Katha“. Die Grünen, die Partei der Vielfalt? Dieser
Zuschnitt auf eine Person erinnere sie schon sehr an Söder und Aiwanger,
sagt eine.
Klar, Katharina Schulze sei für viele auf dem Land schon ein Reizwort, gibt
Hanus zu. Sie polarisiere halt. „Aber das tut Söder auch.“ Ob es jetzt gut
sei, alles auf eine Person zu setzen? Das könne er nicht einschätzen, sagt
der Grüne aus Lenggries. Aber die nächste Landtagswahl werde es ja zeigen.
„Wenn wir über 20 Prozent haben, dann hat sie recht gehabt. Wenn’s
schiefgeht, ist sie weg.“
4 Apr 2024
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Dominik Baur
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