| # taz.de -- Grüne in Bayern: Die Stadt-Land-Kluft | |
| > In Städten sind die Grünen erfolgreich, auf dem Land immer weniger. Das | |
| > zeigt sich besonders in Bayern. Die dortige neue Grünenchefin will das | |
| > ändern. | |
| Lenggries, Miesbach, München, Sondermoning und Türkenfeld taz | Katharina | |
| Schulze hört zu. Man kann das durchaus mal erwähnen, denn immer wieder wird | |
| der Fraktionschefin der Grünen im bayerischen Landtag ja vorgehalten, dass | |
| sie dies so gar nicht könne. Zuletzt beim Starkbieranstich am Nockherberg. | |
| Da hat ihr [1][Maxi Schafroth in seiner Fastenpredigt] noch erklärt: „Am | |
| Land punktet man mit Zuhören, Katha, schreib mit!“ Und zur Sicherheit noch | |
| hinzugefügt: „Zuhören ist das Gegenteil von Reden.“ Das Gelächter im Saal | |
| war groß. Wer mit dem bayerischen Politpersonal nicht ganz so vertraut ist, | |
| muss dazu vielleicht wissen, dass, wenn Schulze ansetzt zu reden, schon so | |
| mancher Wasserfall neidisch werden kann. | |
| Jetzt sitzt Schulze also hier in Miesbach beim Bräuwirt und – hört zu. Sie | |
| hat ihren eigenen Steinkrug dabei. Darauf: ihr Konterfei und der Schriftzug | |
| „Schulzes Stammtisch“. Darin natürlich ihr Erkennungsgetränk: Spezi. | |
| „Schulzes Stammtisch“ ist ein neues Format der Grünen, das in Miesbach an | |
| diesem Donnerstagabend Premiere feiert. Das Ziel ist es, die Grünen wieder | |
| verstärkt mit dem Land ins Gespräch zu bringen. Zwei Welten, die sich | |
| zunehmend voneinander entfernt haben – wie zuletzt bei den heftigen | |
| Konfrontationen zwischen Landwirten und grünen Bundesministern deutlich | |
| wurde. | |
| Bei der Landtagswahl im Oktober hat man es gesehen: In München-Mitte haben | |
| die Grünen 44,1 Prozent geholt, keine Verluste gegenüber 2018. Weit hinten | |
| im Bayerischen Wald, im Stimmkreis Regen, Freyung-Grafenau, waren es gerade | |
| noch 4,3 Prozent – kaum mehr als die Hälfte des Ergebnisses von 2018. | |
| Rund 70 Gäste sind zum Bräuwirt gekommen und gut gelaunt. Schulze, rotes | |
| Kleid, offenes Lachen und immer mal wieder die Hand auf dem Herz, stellt | |
| sich noch kurz in die Mitte der Stube. „Bei eich is einfach schee“, sagt | |
| sie. Und erklärt: Sie wolle nicht drei Stunden lang die Welt erklären, | |
| sondern werde jetzt von Tisch zu Tisch gehen. „Und dann reden wir einfach | |
| miteinander.“ Eine Frau, die sich gerade das Ragout vom Schweineherz | |
| bestellt hat, seufzt: „Und ich dachte, ich komm hierher und lass mich | |
| berieseln.“ | |
| Dann geht es von Tisch zu Tisch und um Tiktok, die Anbindehaltung von | |
| Tieren, Rechtsextremismus und den ganzen Rest. „Habt ihr keine Psychologen, | |
| die euch beraten, wie man Inhalte vermittelt“, fragt einer. „Unsere | |
| Kommunikation ist nicht immer glücklich“, gesteht Schulze ein. Die | |
| 38-Jährige hat sich einen großen Teller Pommes bestellt. Sie bietet allen | |
| Umsitzenden an, sich zu bedienen, was sich freilich keiner traut. | |
| Ein junger Besitzer eines kleinen Sägewerks erzählt ihr von seinen | |
| Problemen mit der überbordenden Bürokratie. Eine Mitarbeiterin Schulzes | |
| geht dazwischen: „Ich muss die Frau Schulze jetzt leider entführen, wir | |
| müssen an den nächsten Tisch.“ Die Politikerin schreibt noch schnell ihre | |
| E-Mail-Adresse auf ein Bierfilzl, bittet den Mann: „Schick mir dein | |
| Problem!“ Sie könne nichts versprechen, werde es aber weitertragen. | |
| Acht Minuten pro Tisch sind nicht viel. Das Feedback nach dem | |
| anderthalbstündigen Besuch in Miesbach ist dennoch überwiegend positiv. | |
| „Wir wurden gehört“, sagt der Sägewerksbesitzer. | |
| Dass Schulze, die nach der Wahl den alleinigen Fraktionsvorsitz übernommen | |
| hat, nun ein solches Format startet, kommt nicht von ungefähr. Wie haltet | |
| ihr’s mit dem Land, lautet derzeit die grüne Gretchenfrage, und sie scheint | |
| einen wunden Punkt zu treffen: In internen Chats würden bereits Warnungen | |
| verbreitet, dass die taz zu dem Thema recherchiere, erzählen Mitglieder | |
| dieser Chats. Wohlgemerkt: Es geht hier um keine schwarzen Kassen, keine | |
| Sexorgien, keine Jugendsünden des Spitzenpersonals. Gut, ans Eingemachte | |
| geht es schon. Letztlich nämlich um die Frage, ob die Grünen noch das Zeug | |
| zur Volkspartei haben, als die sie sich in den letzten Jahren bereits | |
| wähnten. | |
| Dabei ist das Problem nicht unbedingt ein bayerisches, erklärt Martin | |
| Gross, Politikwissenschaftler an der Münchner | |
| Ludwig-Maximilians-Universität. Diese sich vergrößernde Kluft zwischen | |
| Stadt und Land könne man in allen deutschen Flächenländern feststellen. Die | |
| Situation in Bayern steht also Pars pro Toto für die Bundesrepublik. | |
| Woran liegt es, dass die Grünen auf dem Land keinen Fuß mehr auf den Boden | |
| bekommen? Fragt man Thomas Gehring, bis zum Herbst selbst noch für die | |
| Grünen im Landtag, sagt er: „Die Berliner Politik trifft die Lebensrealität | |
| auf dem ländlichen Raum oft nicht mehr.“ Das ursprünglich im Heizungsgesetz | |
| seines Parteifreundes Robert Habeck geplante Verbot von Holzheizungen hat | |
| Gehring beispielsweise sehr geärgert. „Das hätte man im Allgäu niemals | |
| vermitteln können. Hier sind ein Drittel der Leute selbst Waldbesitzer.“ | |
| Gehring kommt aus dem Oberallgäu. Bei der Wahl waren es die Verluste auf | |
| dem Land, die letztlich dafür sorgten, dass er den Wiedereinzug ins | |
| Parlament knapp verpasst hat. „Wir hätten uns früher von der Bundespolitik | |
| absetzen müssen“, sagt Gehring jetzt. | |
| Andere Grünen-Politiker auf dem Lande, die lieber nicht namentlich genannt | |
| werden wollen, sind weniger höflich. „Wir haben einfach eine | |
| Scheißregierung“, heißt es da etwa mit Blick auf die Ampel. Aber auch die | |
| eigenen Leute auf Landesebene werden nicht immer aus der Verantwortung für | |
| das Wahlergebnis entlassen: Das bayerische Spitzenpersonal funktioniere im | |
| ländlichen Raum einfach nicht, sagt eine grüne Kommunalpolitikerin. „Die | |
| haben nicht das Format.“ | |
| Das könnte auch mit einer thematischen Kluft zu tun haben, die sich | |
| ebenfalls durch die grüne Welt zieht. So sind die Grünen wie auch ihre | |
| Wähler auf dem Land in der Regel deutlich wertkonservativer als in der | |
| Stadt. Zum Beispiel Claudius Rafflenbeul-Schaub: „Ich bin bei den Grünen in | |
| erster Linie wegen Umweltpolitik beigetreten“, sagt der 47-Jährige aus dem | |
| Ortsverband Tegernseer Tal. „Aber wenn man sich jetzt die Entwicklung in | |
| den Städten anschaut, da geht es in unserer Partei oft mehr um | |
| Identitätspolitik und Kulturkämpfe als ums Klima oder bezahlbare Wohnungen. | |
| Das sehe ich kritisch. Und ich glaube, dadurch verprellen wir auch Wähler.“ | |
| Ähnlich empfindet das auch Wolfgang Rzehak aus demselben Ortsverband. | |
| [2][Von 2014 bis 2020 war er Landrat in Miesbach], der erste grüne Landrat | |
| in Deutschland überhaupt. „Man gewinnt die Wahlen in der Stadt, aber | |
| verlieren tut man’s auf dem Land“, warnt er. In den letzten zehn bis | |
| zwanzig Jahren hätten die Grünen in Bayern sehr viel erreicht, auch auf dem | |
| Land. „Einiges davon ist jetzt kaputtgegangen.“ | |
| In der Tat hat die Partei in den letzten fünf Jahren eine erstaunliche | |
| Entwicklung gemacht: Die Mitgliederzahl hat sich fast verdoppelt, auf | |
| aktuell knapp 22.000. Von den 551 Ortsverbänden gab es 229 bei der | |
| Landtagswahl 2018 noch gar nicht. Auch derzeit kommen allen Anfeindungen | |
| zum Trotz ständig neue Mitglieder dazu – auch auf dem Land. Die | |
| Ausgangslage, um dort Gesicht zu zeigen, wäre also gar nicht so übel. | |
| Die neue Hoffnung der bayerischen Grünen liegt nun auf Sondermoning. Oder | |
| sitzt vielmehr dort in der Stube an dem großen Esstisch. [3][Gisela Sengl] | |
| heißt sie, ist Biobäurin, bewirtschaftet in dem kleinen Dorf im Chiemgau | |
| mit ihrem Mann einen Hof. Nicht besonders groß. Zehn Hektar, weitere zehn | |
| haben sie dazu gepachtet. | |
| Unten im ehemaligen Stall ist der Bioladen untergebracht. Hier gibt es | |
| nicht nur das hofeigene Obst und Gemüse, sondern Vollsortiment. Seit 27. | |
| Januar ist Sengl Chefin der bayerischen Grünen. Nachdem sie in einer | |
| Kampfabstimmung auf dem Parteitag in Lindau zunächst gegen die bisherige | |
| Landesvorsitzende Eva Lettenbauer knapp unterlegen war, [4][hatte sie sich | |
| in einer zweiten gegen Lettenbauers bisherigen Co-Vorsitzenden Thomas von | |
| Sarnowski durchgesetzt]. Die 63-Jährige hatte sich klar als eine | |
| Alternative vom und fürs Land präsentiert. | |
| „Ich glaub’, dass Gisela Sengl der Partei total gut tut“, sagt [5][Mia | |
| Goller], Landtagsabgeordnete aus Niederbayern. Und ihr Kollege [6][Johannes | |
| Becher], inzwischen Katharina Schulzes Stellvertreter, spricht von einer | |
| „ganz starken Kandidatin, die die Menschen mitnimmt“. Äußerungen, die | |
| interessant sind, schließlich war man in der Fraktion gegen Sengl. Vor | |
| allem Schulze hatte sich öffentlich für das bisherige Duo | |
| Lettenbauer-Sarnowski ausgesprochen. Einzig Schulzes früherer | |
| Co-Vorsitzender Ludwig Hartmann plädierte für Sengl. | |
| Man habe in Lindau schon eine gewisse Spaltung zwischen Stadt und Land | |
| feststellen können, erzählt Thomas Gehring. Während die einen, die aus der | |
| Stadt, eher dafür plädiert hätten, weiter wie bisher zu machen, hätten sich | |
| die anderen stärkere Konsequenzen aus dem Wahlergebnis gewünscht. | |
| ## „Raus aus unserer grünen Blase“ | |
| Das Lettenbauer-Sarnowski-Lager hatte sich noch massiv ins Zeug gelegt, | |
| Delegierte abtelefoniert und zur Wahl der bisherigen Parteichefs, zwei | |
| engen Schulze-Vertrauten, bewegen wollen. Eine Bundestagsabgeordnete soll | |
| besonders häufig zum Telefon gegriffen haben. Am Ende wurde es dennoch | |
| Sengl. „Da hat die Partei die Bremse reingehauen“, sagt Rzehak. | |
| Sengl ist nicht irgendwer in der Partei. Zehn Jahre lang saß sie im | |
| Landtag, sie kennt den Politikbetrieb. Dass sie nicht mehr im Parlament | |
| sitzt, hat auch sie den Verlusten auf dem Land zu verdanken – und dem | |
| Umstand, dass sie es versäumt hat, auf den Wahlzettel die bei Wählern | |
| beliebte Berufsbezeichnung „Biobäurin“ schreiben zu lassen. | |
| Dabei kennt sie nicht nur das Landleben. Aufgewachsen ist Sengl in München, | |
| der Vater war Siemensianer. Aber schon als junge Erwachsene hat es sie dann | |
| aufs Land verschlagen. „Wir müssen raus aus dem Landtag, raus aus unserer | |
| grünen Blase“, sagt die Parteichefin jetzt. Heißt natürlich auch: raus aufs | |
| Land. Sie selbst möchte vor allem in die Partei hineinwirken. Lettenbauer | |
| und sie wollen nun alle 91 Kreisverbände besuchen, Präsenz und | |
| Wertschätzung zeigen. | |
| Insgesamt aber gehe es den bayerischen Grünen sehr gut, sagt Sengl. Das ist | |
| überhaupt der Tenor, wenn man sich in Parteizentrale und Fraktion umhört. | |
| Alles in Butter. An der Wahlniederlage seien Berlin und die Populisten von | |
| CSU und Freien Wählern schuld. Und überhaupt: Im Vergleich zu SPD und FDP | |
| habe man ja noch immer ganz gut abgeschnitten: 14,4 Prozent. 3,2 | |
| Prozentpunkte weniger zwar als 2018, aber immer noch das zweitbeste | |
| Ergebnis in der Parteigeschichte. Klingt ja nicht schlecht. | |
| Doch unter der Zuckerglasur gibt es derzeit viel Unmut in der Partei, | |
| zumindest auf dem Land. Vieles davon hat direkt mit dem Stadt-Land-Gefälle | |
| zu tun, manches indirekt. So bemängeln viele die mangelnde Präsenz der | |
| ländlichen Grünen im Parlament. „Wie sollen die Ideen vom Land in den | |
| Landtag kommen, wenn dort keine Leute vom Land sitzen“, fragt ein | |
| oberbayerischer Kommunalpolitiker. Tatsächlich standen auf der wichtigsten | |
| Liste bei der Landtagswahl, der des Wahlkreises Oberbayern, unter den | |
| ersten 14 nur drei Kandidaten aus einem Stimmkreis, der nicht mit der | |
| Münchner S-Bahn zu erreichen ist. Und von denen hat es nur einer in den | |
| Landtag geschafft. | |
| Bei den Aufstellungsversammlungen laufe das auch nicht mehr wie früher, | |
| schimpft einer, der schon öfter dabei war. Die Kandidatenkür sei ein | |
| einziges Gemauschel. Alles werde schon vorab in Whatsapp-Gruppen | |
| ausgehandelt – zugunsten der Städter. | |
| Immer wieder enden die Klagen dann bei der Grünen Jugend. Personen, die | |
| Macht hätten in der Partei, seien überwiegend typische städtisch geprägte | |
| „Parteikader“. Auch Schulze und ihre Entourage seien größtenteils in der | |
| Grünen Jugend sozialisiert worden. Diese, so die Kritikerinnen und | |
| Kritiker, sei ein gut organisiertes Karrierenetzwerk – sehr weit weg von | |
| der Praxis, aber unglaublich engagiert. „Früher ging’s um Themen, jetzt | |
| geht’s um Netzwerke“, ist ein Satz, den man in unterschiedlichen | |
| Formulierungen immer wieder zu hören bekommt. | |
| Auch Nikolaus Hanus aus Lenggries ist nicht glücklich über die Dominanz der | |
| Grünen Jugend und will den Wählern ein breiteres personelles Angebot | |
| machen. Aber dann müssten sich eben auch die Grünen auf dem Land und die | |
| älteren Parteimitglieder besser vernetzen, fordert der 50-jährige | |
| Schreinermeister, der bei der Landtagswahl ebenfalls angetreten ist – wenn | |
| auch ohne reelle Chance. Dann müsse man halt auch mal sein Wochenende | |
| opfern und als Delegierter zum Parteitag fahren und nicht immer nur die | |
| Jungen vorschicken. | |
| ## Über den Supermarkt zur Partei | |
| Und damit zu Sabeeka Gangjee-Well und Hans Well nach Türkenfeld, in den | |
| Westen Münchens. Ein anderer Holztisch in einem anderen Bauernhaus. Nur: | |
| Dieses ist ein bisschen älter. Rund 400 Jahre alt. Entsprechend tief die | |
| Decken, klein die Fenster. Aber vorne raus kann man auf den Ammersee | |
| blicken. Das Haus hat Hans Well seinerzeit selbst hergerichtet, ein Hobby | |
| von ihm. Sabeeka Gangjee-Well ist Sprecherin des hiesigen | |
| Grünen-Ortsverbands, Gemeinderätin und Dritte Bürgermeisterin. Ihr Mann ist | |
| vor allem bekannt als einer der drei Brüder der Biermösl Blosn, der Musik- | |
| und Kabarettgruppe, die nicht nur in Bayern Kultstatus hatte und bis 2012 | |
| jahrzehntelang durch die Lande zog, oft gemeinsam mit [7][Gerhard Polt]. In | |
| ein paar Wochen ist er wieder auf Tour, [8][diesmal mit seiner Tochter]. | |
| Es gibt Tee, Kekse und deutliche Worte. Seit Jahrzehnten begleitet Well die | |
| bayerische Politik als schonungsloser Beobachter. Für die Biermösl Blosn | |
| schrieb er die Texte. Meist hat es damals die CSU abgekriegt, nicht selten | |
| auch wegen Umweltthemen: Rhein-Main-Donau-Kanal, Wackersdorf, | |
| Isentalautobahn: Eigentlich müsste man meinen, der Mann steht den Grünen | |
| besonders nah. Stand er auch mal. | |
| Sabeeka Gangjee-Well kam über einen Supermarkt in die Politik. Der sollte | |
| in Türkenfeld auf einer grünen Wiese gebaut werden, hätte sicher dann auch | |
| ein Gewerbegebiet nach sich gezogen. Als Gangjee-Well davon erfuhr, | |
| engagierte sie sich mit ein paar Mitstreitern gegen das Projekt. Am Ende | |
| wurde der Supermarkt nicht gebaut, aber Gangjee-Well saß im Gemeinderat. | |
| Bei den Grünen ist sie erst seit Oktober 2019. Und dennoch hat sich bei der | |
| 55-Jährigen schon so etwas wie Resignation breitgemacht – zumindest was die | |
| Parteipolitik angeht. Sie erzählt ein Beispiel: Im Frühjahr 2022, als der | |
| Referentenentwurf zur EEG-Novelle bekannt geworden war, haben sich einige | |
| Grüne aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck, die mit der Materie Erneuerbare | |
| Energien besonders vertraut waren, zusammengetan und ein Papier mit ein | |
| paar wenigen Punkten verfasst, die aus ihrer Sicht Priorität haben sollten: | |
| eine Din-A4-Seite. Einfach so, als unverbindlichen Gruß von Experten von | |
| der Basis. | |
| Über den Kreisverband wollten sie es dann an die zuständigen grünen | |
| Vertreter in der Bundesregierung weiterreichen. Doch der Widerstand war | |
| groß: Der Kreisverband bremste das Anliegen sofort aus, erzählt | |
| Gangjee-Well. Das Argument: Die da oben wüssten doch, was sie machten. Das | |
| seien schließlich Minister, weil sie eine so große Expertise hätten, und | |
| bräuchten bestimmt keine Ratschläge von der Parteibasis. Es kam sogar zu | |
| einer Abstimmung: Die Mitglieder des Kreisverbands waren dafür, das Papier | |
| weiterzureichen. Der Vorstand ließ es dennoch versickern. Und so wartet die | |
| Bundesregierung noch heute auf die bayerischen Eingebungen. Nach mehreren | |
| solchen Erfahrungen beschränkt sich Gangjee-Well als aktive Politikerin | |
| mittlerweile auf die Arbeit in der Gemeinde. | |
| Während seine Frau resigniert, singt Hans Well bisweilen noch gegen den | |
| Frust an. So wie letztes Jahr im September. Da hatte ihn das | |
| Grünen-Urgestein Martin Runge gebeten, auf einer Abschiedsfeier für ihn und | |
| andere scheidende Landtagsabgeordnete aufzutreten. Was Well sang, war | |
| schmeichelhaft – für Runge. Für den Rest der Fraktion war es eher eine | |
| Watschn: „Heit hot mi’s Schicksal in eine Fraktion verschlogn, wo s’vui | |
| Abgeordnete, aber koane Charakterköpf wia an Daxenberger hom, wo ma si | |
| zfriedn gibt mit Wähler in da Stod und den Kampf ums Land längst aufgebn | |
| hod.“ („Heute hat mich das Schicksal in eine Fraktion verschlagen, wo sie | |
| viele Abgeordnete, aber keine Charakterköpfe wie den Daxenberger haben, wo | |
| man sich zufrieden gibt mit Wählern in der Stadt und den Kampf ums Land | |
| längst aufgegeben hat.“) | |
| Ob die Grünen noch eine Partei seien oder längst eine Werbeagentur, fragte | |
| er sich in dem Lied dann noch und hielt dem grünen Spitzenpersonal vor, | |
| sich ungeniert an den Grünenhasser Söder hinzuwanzen. Die „dauervergnügte | |
| Katharina Schulze“ soll den Auftritt dem Münchner Merkur zufolge gar nicht | |
| mal so witzig gefunden haben. | |
| Mei, enttäuschte Liebe, entschuldigt Hans Well seine Härte mit den heutigen | |
| Grünen. Im dunkelgrünen Pullover sitzt er da und schimpft gleich weiter: | |
| „Das Grundproblem bei den Grünen ist, dass sie die Graswurzelbewegung | |
| verloren haben.“ Die Menschen, die sich wirklich für ein Thema engagieren, | |
| sei es bei Fridays for Future, dem Bund Naturschutz oder in einer | |
| Bürgerinitiative, fühlten sich nicht mehr von den Grünen vertreten und | |
| hätten sich abgewandt. „Das Versagen der grünen Partei ist, dass man heute | |
| fast nur noch auf stromlinienförmige Typen setzt, die wunderbar die | |
| Sprechblasen beherrschen.“ | |
| ## Selbstkritik verlernt? | |
| Dass den Grünen die Fläche wegbreche, habe auch mit konkreten Themen zu | |
| tun. Beispiel Flächenfraß: Die Grünen – federführend der damalige | |
| Fraktionschef Ludwig Hartmann – hatten 2018 ein Volksbegehren gegen die | |
| Betonflut initiiert. Ein Thema, mit dem ihnen sogar der Schulterschluss mit | |
| der Bauernschaft gelungen ist. „Damit erreichst du die Leute auf dem Land“, | |
| sagt Well. | |
| Wegen eines Verfahrensfehlers [9][wurde das Volksbegehren gestoppt]. Aber | |
| statt den Fehler zu beheben und einen neuen Anlauf zu wagen, hätten die | |
| Grünen das Thema fallen lassen. Aus der Fraktion habe er gehört, dass | |
| Hartmann von Schulze, Lettenbauer und Sarnowski überstimmt worden sei, | |
| erzählt Well. Zu unwichtig hätten sie das Thema gefunden. | |
| Außerdem vermisst Well bei den Grünen die Streitkultur: „Schau dir die | |
| Parteiveranstaltungen an. Das sind doch Jubelveranstaltungen.“ Gleichen die | |
| Grünen das zum Teil unerträgliche Übermaß an Kritik, ja, an Hass, das sie | |
| seit einiger Zeit von außen zu ertragen haben, durch ein Übermaß an | |
| interner Kritiklosigkeit aus? Hat ausgerechnet die basisdemokratischste | |
| unter den großen Parteien, der früher so mancher Parteitag gern mal zum | |
| Hochamt der Selbstzerfleischung entglitten ist, die Selbstkritik verlernt? | |
| Einen wie den Sepp Daxenberger bräuchte man jetzt, sagen viele, auch Well, | |
| der gut mit ihm befreundet war. Der habe die Wertkonservativen abgeholt. | |
| Bauer, Goaßlschnalzer, Bürgermeister, Parteichef, Fraktionschef – [10][der | |
| 2010 gestorbene Politiker] aus Waging hat die Kluft zwischen Stadt und Land | |
| überbrücken können wie wohl kein zweiter. „Hättest du einen solchen Kopf, | |
| so was würde auf dem Land schon ziehen“, meint Nikolaus Hanus. Andere sind | |
| skeptisch: „Jemanden wie Daxenberger würde man heute gar nicht mehr mit den | |
| Grünen, wie ich sie wahrnehme, verbinden“, sagt etwa Politologe Gross. | |
| Stattdessen haben die Grünen nun Katharina Schulze. Eine, die immerhin | |
| schon Wahlergebnisse eingefahren hat, von denen Daxenberger nicht einmal zu | |
| träumen gewagt hätte. Fragt man auf dem Land nach ihr, sind die Antworten | |
| durchwachsen. Ein absolutes politisches Ausnahmetalent, sagen die einen, | |
| eine superschlaue, vorlaute Städterin, sagen die anderen. Und das sind auch | |
| die, die dann ganz schnell noch das Smartphone zücken und den | |
| Instagram-Kanal der bayerischen Grünen öffnen: Zwölf Bilder sind zu sehen, | |
| auf elf von ihnen „die Katha“. Die Grünen, die Partei der Vielfalt? Dieser | |
| Zuschnitt auf eine Person erinnere sie schon sehr an Söder und Aiwanger, | |
| sagt eine. | |
| Klar, Katharina Schulze sei für viele auf dem Land schon ein Reizwort, gibt | |
| Hanus zu. Sie polarisiere halt. „Aber das tut Söder auch.“ Ob es jetzt gut | |
| sei, alles auf eine Person zu setzen? Das könne er nicht einschätzen, sagt | |
| der Grüne aus Lenggries. Aber die nächste Landtagswahl werde es ja zeigen. | |
| „Wenn wir über 20 Prozent haben, dann hat sie recht gehabt. Wenn’s | |
| schiefgeht, ist sie weg.“ | |
| 4 Apr 2024 | |
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