Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Antiziganismus im Bildungssystem: An Schulen eine große Leerstelle
> Bis heute trägt das Bildungssystem zur Stigmatisierung von Sinti* und
> Roma* bei, kritisieren Angehörige der Minderheit. Es brauche neue
> Narrative.
Bild: Malen gegen Abschiebung: 2015 besetzten Roma-Familien mit Kindern den Ham…
Berlin taz | Die Chancen stehen gut, dass sich die ein oder andere Berliner
Grundschulklasse diese Woche mit folgenden Fragen beschäftigt: Woher kommen
Sinti* und Roma*? Haben Sinti* und Roma* eine eigene Sprache? Wie heißt
diese Sprache und was sind ihre Merkmale? Diese und weitere Fragen stehen
auf einem Arbeitsblatt, mit dem Sara Paßquali eine große Hoffnung
verbindet. Die Trainerin und Beraterin hat das Arbeitsblatt mit entwickelt,
zusammen mit einer Handreichung für Lehrkräfte.
Pünktlich zum Internationalen Tag der Roma am Montag stehen die
Materialien, die sich für die fünfte und sechste Klasse eignen, zum
Download bereit. Für Paßquali ist es der Startschuss einer Wissenskampagne
zu Sinti* und Roma*, bei der mehrere Unterrichtsmaterialien für Grundschule
und Sekundarstufe I entstehen sollen. „Es ist erschreckend, wie wenig die
deutsche Gesellschaft über eine Minderheit weiß, die teils schon 600 Jahre
hier lebt“, sagt Paßquali. „Je früher wir mit der Aufklärung beginnen,
desto besser.“
Das Arbeitsblatt ist Teil eines Modellprojekts der Hildegard Lagrenne
Stiftung, die sich für bessere Bildungschancen von Sinti* und Roma*
einsetzt. Ein Schlüssel dazu: mehr Wissen über die beiden Gruppen an die
Schulen bringen. Das fordert mittlerweile auch die Kultusministerkonferenz
(KMK). Ende 2022 hat sie beschlossen, dass Sinti* und Roma* an Schulen „als
Angehörige der deutschen und europäischen Gesellschaften, insbesondere als
Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und anderer europäischer Staaten,
thematisiert werden“ sollen.
Doch davon, beobachtet Paßquali, sind viele Schulen weit entfernt. Aus
Beratungsgesprächen mit Betroffenen wisse sie, dass viele Lehrkräfte bis
heute nicht ausreichend sensibilisiert sind, wenn etwa das „Z-Wort“ fällt.
Auch würden in Schulbüchern Klischees und Stereotype verbreitet, die Sinti*
und Roma* entweder als Heimatlose, Kriminelle oder als Opfer der
NS-Diktatur darstellen. „Andere Bilder und Narrative fehlen komplett.“
Zu einem ähnlichen Schluss kommt das Georg-Eckert-Institut (GEI), das
regelmäßig Schulbücher und Lehrpläne auf stereotype Darstellungen prüft. Zu
Sinti* und Roma* steht [1][in einem aktuellen Positionspapier], dass die
meisten Schulbücher in den Gesellschaftswissenschaften den beiden
Minderheiten „nicht gerecht“ würden, weil sie dort – [2][wenn überhaupt…
oft nur mit ihrer „Verfolgungsgeschichte in der NS-Zeit“ vorkommen]. In den
Lehrplänen sieht es nicht besser aus: In nur 13 Prozent der gesichteten gut
200 Lehrpläne fand das GEI überhaupt einen Hinweis auf Sinti* und Roma* –
und das, obwohl die beiden Gruppen offiziell vom Bundestag als nationale
Minderheit anerkannt sind. Wie eine Umfrage der taz zeigt, fehlt in manchen
Bundesländern bis heute ein expliziter Verweis auf Sinti* und Roma* in den
Lehrplänen, etwa in Sachsen.
Diese Leerstelle kritisiert auch Veronika Patočková. Die Soziologin leitet
beim Verein RomaTrial ein länderübergreifendes Bildungsprogramm gegen
Antiziganismus, das vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert
wird, mit. In Sachsen, Brandenburg und Berlin finden darüber Workshops an
Schulen statt. Es gehe nicht nur darum, mit den weit verbreiteten Klischees
aufzuräumen, sondern auch um Empowerment und positive Narrative, erklärt
Patočková. Als Beispiel nennt sie erfolgreiche Bildungsbiografien.
Und selbst beim oft einseitigen Thema NS-Verfolgung seien andere
Perspektiven möglich. So wisse kaum jemand, dass es 1944 im KZ
Auschwitz-Birkenau einen Aufstand von Sinti* und Roma* gegeben habe, der
mehrere hundert Menschen das Leben rettete. „Wenn Lehrkräfte zeigen würden,
dass auch Sinti* und Roma* im Widerstand waren, würde das das Narrativ auf
den Kopf stellen“, sagt Patočková. Dies sei auch wichtig für die
Angehörigen der Minderheit: „Wir wissen, dass sich viele Jugendliche, die
Sinti* oder Roma* sind, in der Schule nicht outen wollen.“
## Diskriminierung im Bildungsbereich
In der sogenannten [3][RomnoKher-Studie] aus dem Jahr 2021 berichtet die
Mehrheit der rund 700 befragten Sinti* und Roma* von
Diskriminierungserfahrungen im Bildungsbereich, teils auch durch
Lehrkräfte. Das deckt sich mit den jährlichen Berichten der Berliner
Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA). Sie zeigen, wie häufig
Familien wegen ihrer Zugehörigkeit zu der Minderheit ein Kita- oder
Schulplatz erschwert wird oder wie oft Grundschulkinder aus diesen Familien
trotz guter Leistungen keine Gymnasialempfehlung erhalten.
Trainerin Sara Paßquali, die selbst Sintezza ist, kennt das aus eigener
Erfahrung. Sie war die erste in ihrer Familie, die nicht automatisch auf
die Hauptschule geschickt werden sollte. Doch dann wurde sie am Gymnasium
abgelehnt, weil ihr das niemand zutraute. „Dabei ist auch das Z-Wort
gefallen“, sagt Paßquali. Von ähnlichen Fällen höre sie bis heute in der
Beratung.
Auch wegen dieser Benachteiligung verlässt aktuell jeder sechste Sinto* und
Rom* die Schule ohne Abschluss, doppelt so häufig wie im Schnitt. Aufs
Gymnasium schaffen es nur 16 Prozent. Zum Vergleich: Nach der Grundschule
gehen im Schnitt rund 40 Prozent aller Schüler:innen aufs Gymnasium.
Trotz dieser Zahlen sehen sich die Ministerien gut aufgestellt. Auf eine
taz-Umfrage teilen die meisten Länder mit, Workshops und Fortbildungen zu
Antiziganismus anzubieten, auch wenn die Teilnehmerzahlen recht gering
ausfielen. Teils arbeiten die Ministerien wie in Hessen und im Saarland eng
mit Sinti*- und Roma*-Verbänden zusammen, um den KMK-Beschluss umzusetzen
oder neue Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Doch Daten über
antiziganistische Vorfälle werden nicht erhoben. Bis heute gibt es für
Schulen keine Meldepflicht.
8 Apr 2024
## LINKS
[1] https://www.gei.de/gei-aktuell/mitteilungen
[2] /Soziologin-ueber-Antiziganismus/!5903790
[3] /Bildung-von-Romnja--und-Sintize/!5753813
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma
Diskriminierung
Bildungspolitik
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rassismus
Schule
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma
Antiziganismus
DVD
Bildung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Antiziganismus in Berlin: Tief sitzende Vorurteile
Antiziganistische Vorfälle haben in Berlin einen neuen Höchststand
erreicht, wie ein neuer Bericht belegt. Frauen sind besonders stark
betroffen.
Diskriminierung in der Schule: Die kleinen Biester
Meine kleine Tochter Hatice ist mitsamt ihrem ausländischen Namen und ihren
schwarzen Haaren eingeschult worden. Ich befürchtete das Schlimmste.
Programm für mehr Bildungsgerechtigkeit: Ampel beendet Gießkanne
Im Bundestag wird über das Startchancen-Programm diskutiert. Die einen
sehen darin einen riesigen Erfolg, den anderen geht es nicht weit genug.
Romanì in Italien: „Man sieht es ihnen ja nicht an“
Aus Angst vor Diskriminierung verleugnen viele Romanì in Italien ihre
Herkunft. Denn in der Bevölkerung halten sich hartnäckig gefährliche
Vorurteile.
Kampf gegen Antiziganismus: Für 2024 zwei Kommissionen geplant
Im Dezember beschloss der Bundestag 27 Forderungen im Kampf gegen
Antiziganismus. In diesem Jahr sollen nun zwei Kommissionen berufen werden.
Roma in der EU und europäischen Politik: Viele Stimmen, wenig Gehör
Die Betroffenheit durch Diskriminierung eint alle Roma in Europa. Sie haben
kaum eine politische Lobby. Wie könnte sich die Situation verbessern?
Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt: Mieter werden ausgetrocknet
Rund 20 Familien, darunter viele Rom*nja, leben unter unzumutbaren
Bedingungen. Der Eigentümer lässt das Haus verwahrlosen.
Dokumentarfilm „Acasă“ über Roma-Familie: Für sie ist kein Platz
Das Dokumentarfilmdebüt „Acasă“ des rumänichen Regisseurs Radu Ciorniciuc
begleitet eine Roma-Famlie. Sie müssen einem Naturpark weichen.
Bildungschancen von Roma in Spanien: Gitanos kämpfen gegen Segregation
Nur ein Bruchteil der Roma in Spanien haben einen Hochschulabschluss. Wer
als Gitano aufsteigen will, muss gegen Armut und Diskriminierung ankämpfen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.