| # taz.de -- Bildungschancen von Roma in Spanien: Gitanos kämpfen gegen Segrega… | |
| > Nur ein Bruchteil der Roma in Spanien haben einen Hochschulabschluss. Wer | |
| > als Gitano aufsteigen will, muss gegen Armut und Diskriminierung | |
| > ankämpfen. | |
| Bild: Die beiden jungen Gitanos José Santos und Sara Jiménez García sagen: �… | |
| Madrid taz | Eine jede, noch so klare Statistik hat diejenigen, die ihr | |
| widersprechen. José Santos (24) und Sara Jiménez García (21) gehören dazu. | |
| Sechs von zehn Gitanos, wie sich Roma in Spanien nennen, schließen die | |
| Mittelstufe – vergleichbar mit der Hauptschule in Deutschland – nicht ab. | |
| Sie werden 16 und erreichen damit das Limit der Pflichtschuljahre, ohne die | |
| letzte Klasse erreicht zu haben. Andere schmeißen gar jünger schon hin. In | |
| der spanischen Gesamtbevölkerung sind es gerade einmal vier Prozent. | |
| Noch weniger gelangen bis zum Abitur oder gar an die Uni. „Zwei Prozent der | |
| Gitanos haben einen Hochschulabschluss. In der Gesamtbevölkerung sind es 27 | |
| Prozent“, weiß Santos. Er und Jiménez García gehören zu diesen wenigen. D… | |
| junge Mann aus dem südspanischen Córdoba hat an einer Madrider Hochschule | |
| „Journalismus und audiovisuelle Medien“ studiert, die junge Frau aus einem | |
| Madrider Arbeiterviertel ist Grundschullehrerin. | |
| Der Weg dorthin war vor allem für Santos mehr als steinig. „Wenn wir | |
| Gitanos überhaupt eine Chance haben wollen, müssen wir ständig beweisen, | |
| dass wir die Besten sind“, so seine Erfahrungen an Schule und Hochschule. | |
| „Dort wo ich eingeschult wurde, wurden die Gitanos völlig segregiert“, sagt | |
| er. Santos stammt aus einem der ärmsten Viertel seiner Heimatstadt. | |
| „Payos“, wie die Gitanos die Mehrheitsbevölkerung nennen, gab es nur wenige | |
| an seiner Schule. | |
| Viele blieben bereits in den ersten Jahren sitzen. So ging Santos mit einer | |
| mehrere Jahre älteren Tante in die gleiche Klasse. Aber er selbst war | |
| Einser-Schüler. „Doch schnell wurde mir klar, dass das in einer Schule mit | |
| so niedrigem Niveau nichts bedeutet. Während sie an anderen Schulen im | |
| Unterricht auf Englisch sprachen, nahmen wir ein um das andere mal das Verb | |
| ‚to be‘ durch. Das konnte es nicht wirklich sein“, erinnert sich Santos. | |
| ## Geldsorgen und Vorurteile | |
| Mit zwölf setzte er sich zu Hause durch und schaute sich nach einer Schule | |
| in der Innenstadt um. Wie durch ein Wunder rutschte er auf den letzten | |
| Drücker auf die Liste derer, die akzeptiert wurden. „Am Anfang fiel ich | |
| überall durch“, erinnert er sich. Er kämpfte, lernte, was das Zeug hielt, | |
| ging in das Gemeindezentrum, um seine Hausarbeiten am Computer machen zu | |
| können, den es zu Hause nicht gab. „Meine Familie sind fast alle Verkäufer | |
| auf den Dorfmärkten, mein Vater schaffte es zum Kellner“, sagt Santos. | |
| Immer wieder war er arbeitslos. | |
| Nach zwei Jahren war Santos erneut einer der Klassenbesten. Das brachte ihm | |
| staatliche Stipendien ein, und damit einen Computer zu Hause. An der Uni | |
| schließlich lebte er von knapp 4.000 Euro Stipendium im Jahr, 600 Kilometer | |
| von daheim. „Meine Eltern und Großeltern gaben, was sie konnten. Viel war | |
| das nicht“, ist er dankbar über die familiäre Unterstützung. | |
| Nach kurzem Schweigen erzählt er einen Vorfall aus dem | |
| Soziologie-Unterricht an der Uni: „Der Dozent erzählte allen ernstes, die | |
| Gitanos würden nicht studieren, weil die Eltern ihre Kinder nicht | |
| unterstützen.“ Santos meldete sich zu Wort, gab sich als Gitano zu erkennen | |
| und verlangte nach Statistiken, die das belegen. „Der Prof hatte keine. Es | |
| waren seine Vorurteile und sonst nichts. Ich weiß, dass ich ohne meine | |
| Familie nicht da wäre, wo ich bin. Der Staat tut nicht für uns“, schimpft | |
| er dann. | |
| ## Fehlende Vorbilder | |
| Sara Jiménez García hatte es in mancher Hinsicht leichter – sie musste aber | |
| gegen andere Widerstände kämpfen. „Meine Schule war nicht segregiert“, sa… | |
| sie. Der Gitano-Anteil war nicht übermäßig hoch. Und ihre Eltern leben in | |
| stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen. Ihr Vater ist Chauffeur in einem | |
| Altersheim. „Ich war dennoch so etwas wie die Ausnahme. Alle Gitano-Mädchen | |
| träumten von der Unabhängigkeit, doch nur ich lernte wirklich. Ich sagte | |
| ihnen immer: ‚Ohne Bildung wird das nicht‘“, erinnert sich Jiménez Garc�… | |
| Obwohl ihr Vater nicht wirklich einsah, warum sie die „Selectividad“ – die | |
| Aufnahmeprüfung für die Universitäten – ablegen wollte, statt eine | |
| Berufsausbildung anzufangen, tat sie das. | |
| „Ich meldete mich einfach an“, erzählt sie. Sie bestand mit Bravour. Sie | |
| wollte auf Lehramt studieren. „Es gab lange Debatten, denn mein Vater und | |
| mein Bruder hatten Angst um mich, so weit weg – 30 Minuten im Zug – so jung | |
| und ganz alleine“, erinnert sie sich. Jiménez García setzte sich | |
| schließlich durch. Seit Sommer hat sie den Abschluss. „Auf dem gesamten | |
| Bildungsweg fühlte ich mich oft alleine. Es gab in meinem Umfeld einfach | |
| niemand, zu dem ich hätte aufschauen können, oder der mir hätte helfen | |
| können“, sagt die junge Frau. In ihrem Gitano-Umfeld war ein ordentlicher | |
| Abschluss der Mittelschule das höchste der Gefühle. | |
| „Das mit den Vorbildern ist eines der großen Probleme. Nur 6,3 Prozent der | |
| Gitano-Eltern haben eine abgeschlossene Berufsausbildung und nur 0,8 | |
| Prozent einen Universitätsabschluss“, sagt die Vorsitzende der größten | |
| Organisation der 725.000 spanischen Roma, der Stiftung Sekretariat Gitanos | |
| (FSG), Sara Giménez Giménez aus dem nordspanischen Huesca. Die Stiftung hat | |
| zum Schuljahresbeginn [1][eine Studie über die Lage der Gitanos im | |
| Bildungssystem vorgelegt]. Es ist eine Folgearbeit zu einer Untersuchung | |
| aus dem Jahr 2012. „Es ist traurig, aber was die Bildung unter den Gitanos | |
| angeht hat sich im letzten Jahrzehnt nur sehr wenig geändert“, sagt die | |
| 46-jährige Anwältin. Marginalisierung und Segregation sind nach wie vor die | |
| Hauptprobleme. | |
| ## Trotz allem hat sich seit Franco viel verbessert | |
| Giménez Giménez selbst hatte in ihren Schuljahren nur dank einer | |
| Nachbarsfamilie Zugang zu Büchern. „Heute sind es die fehlenden Computer | |
| und damit der mangelnde Internetzugang. Es ist unmöglich auf einem Handy | |
| alles zu machen, was im Internet zu tun ist“, sagt die Tochter eines | |
| Markthändlers, die bis zu den letzten Wahlen im spanischen Parlament saß, | |
| und damit eine der wenigen Gitanos ist, die es in die Volksvertretung | |
| geschafft haben. | |
| Die Zahlen der Studie sind mehr als besorgniserregend: Im dritten | |
| Grundschuljahr ist bereits jedes fünfte Gitano-Kind einmal sitzen | |
| geblieben. In der Restbevölkerung geht dieser Anteil gegen Null. Je höher | |
| die Klassenstufe, um so mehr Kinder, die älter sind als vorgesehen. | |
| Die FSG betreibt in Spanien das Programm „Promociona“. Neben | |
| Förderunterricht werden hier Gitano-Kinder beraten, wenn es darum geht den | |
| Bildungsweg zu gestalten. Santos und Jiménez García haben dieses Programm | |
| durchlaufen. „Immer wenn ich ins Zweifeln kam, halfen sie mir“, erinnert | |
| sich die heutige Grundschullehrerin, die bei Promociona auch ihren Ehemann | |
| kennenlernte, ein Gitano aus Madrid, der mittlerweile Anwalt ist. | |
| Trotz dieser tiefen Ungleichheit gilt Spanien in Europa als Beispiel, wenn | |
| es um die Integration von Sinti und Roma geht. „Bis zur demokratischen | |
| Verfassung von 1978, die das endgültige Ende der Franco-Diktatur bedeutete, | |
| hatten die Gitanos nicht einmal die vollen Bürgerrechte“, weiß Giménez | |
| Giménez. 71 Prozent waren Analphabeten – ein Problem, das es heute nicht | |
| mehr gibt. | |
| Und viele Familien lebten damals in Slums. Das ist heute dank ehrgeiziger | |
| Sozialwohnungsprogramme Geschichte. „Doch das Problem ist nach wie vor die | |
| soziale und wirtschaftliche Lage. Etwa 87 Prozent der Gitano-Kinder leben | |
| in Armut, in der restlichen Bevölkerung sind es rund 29 Prozent“, zitiert | |
| Giménez Giménez aus der Studie. „Der Weg heraus ist die Bildung“, sagt si… | |
| ## „Die Gitano-Lehrerin“ aus Málaga | |
| „An meiner Schule ist die Quote derer, die nicht abschließen, wesentlich | |
| höher als die sechs von zehn aus der Studie“, sagt Lola Cabrillana, | |
| Vorschullehrerin an einer Gesamtschule in einem Stadtteil im südspanischen | |
| Málaga, der als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Dennoch macht die 51-Jährige | |
| „kleine Fortschritte“ aus: „In mehr als 20 Jahren als Vorschullehrerin ha… | |
| ich in diesem Jahrgang erstmals keine Kinder, die einfach nicht zur Schule | |
| kommen. Die Eltern sind sich immer mehr darüber im Klaren, dass ihr | |
| Nachwuchs ohne Bildung keine Zukunft hat.“ | |
| Cabrillana ist Autorin eines Romans mit dem Titel „Die Gitano-Lehrerin“, in | |
| dem sie ihre Erfahrungen verarbeitet und damit eines dieser Vorbilder, die | |
| die jungen Gitanos so dringend brauchen. „Viele folgen mir in den sozialen | |
| Netzwerken“, berichtet die Frau, die einst als erste ihrer Familie an der | |
| Hochschule war. Ihr folgten sechs Cousins und Cousinen. Ihr Großvater | |
| arbeitete als Stauer im Hafen, der Vater als Gipser. | |
| Cabrillana glaubt, dass sich viele Gitanos an der Schule fremd fühlen und | |
| sie eher als Einrichtung der Payos, der Nicht-Gitanos, erleben. Sie beklagt | |
| den „Rassismus in der spanischen Gesellschaft und damit auch an den | |
| Schulen“. „Viele Lehrer und Lehrerinnen unterrichten nicht über unsere | |
| Geschichte und Kultur, wie das seit 2020 im Bildungsgesetz steht“, sagt | |
| Cabrillana. „Ich habe auf einem Lehrerkongress vor 150 KollegInnen gefragt, | |
| wer über Kultur und Geschichte der Gitanos unterrichtet und es haben sich | |
| gerade einmal drei gemeldet“, berichtet Cabrillana. | |
| Letztendlich stellte sich heraus, dass deren „Unterricht“ darin bestand, | |
| den internationalen Tag der Sinti und Roma zu feiern. „Das heißt, niemand | |
| hält den Lehrplan wirklich ein. Dabei gibt hervorragendes Material zum | |
| Thema, aber sie benutzen es einfach nicht“, fügt Cabrillana hinzu. Nicht | |
| einmal die Flamenco-Musik, ebenfalls im Lehrplan verankert, würde | |
| durchgenommen. Die Folge: „Die Kinder identifizieren sich nicht mit dem | |
| Schulsystem, werden nicht wirklich integriert“, sagt Cabrillana. „Der | |
| Großteil von ihnen scheitert und hat keinerlei berufliche Zukunft. Der | |
| Staat, die Schulverwaltung lässt sie alleine“, resümiert Cabrillana. | |
| 6 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.gitanos.org/actualidad/archivo/155833.html | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
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