# taz.de -- Filmbiografie „One Life“ im Kino: Held im Stillen | |
> Die Filmbiografie „One Life“ erzählt von Nicholas Winton, der kurz vor | |
> dem Zweiten Weltkrieg Kinder aus der Tschechoslowakei retten ließ. | |
Bild: Nicky Winton (Anthony Hopkins) als Ehrengast bei der Sendung „That’s … | |
Immer wieder macht er seine Runde in den sozialen Medien: Ein kleiner | |
Ausschnitt aus einer britischen Talkshow, aufgezeichnet in den späten | |
Achtzigern. Ein alter Herr mit großer Brille sitzt in der ersten Reihe des | |
Publikums. Es scheint, als wüsste er nicht genau, was ihn in den nächsten | |
Augenblicken erwartet, als die Moderatorin ihn direkt adressiert. Sie | |
bittet schließlich all jene Zuschauer, die ihr Leben diesem Mann, Nicholas | |
Winton, zu verdanken haben, aufzustehen. Es erhebt sich der gesamte Saal. | |
Als sich Nicholas Winton umdreht, den Menschen um ihn herum sichtbar bewegt | |
zunickt und sich unter die Brille fasst, um sich die Tränen aus den Augen | |
zu wischen, fühlt man sich auch jetzt noch, als Zuschauer, dem der kurze | |
Clip gerade auf Twitter, Facebook oder Tiktok begegnet ist, ergriffen. | |
Wenngleich sich in diese Ergriffenheit unweigerlich das flaue Gefühl | |
mischt, dass die Geschichte hinter dem, was Nicholas Winton vollbrachte, | |
eine zu bedeutsame ist, als dass sie weder damals für einen | |
aufmerksamkeitsheischenden Medienstunt noch heute für das schnelle | |
Generieren von Klicks, „Likes“ und Kommentaren herhalten sollte. | |
Mit etwas Glück erfährt man aus der Beschreibung eines der viralen Videos | |
gerade noch, dass Nicholas Winton [1][zwischen 1938 und 1939 mehrere | |
Transporte organisierte, die 669 Kinder], meist aus jüdischen Familien, mit | |
dem Zug aus Prag nach Großbritannien brachten, ehe Hitlers Truppen in Polen | |
einmarschierten und der Zweite Weltkrieg begann. Wie ihm das gelang, wer er | |
überhaupt war und wer außer ihm an den Rettungsaktionen beteiligt gewesen | |
ist, hat sich zumindest außerhalb des Vereinigten Königreichs noch nicht | |
recht in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. | |
Dass „One Life“ an diesem Umstand ganz entschieden etwas ändern möchte, | |
darauf deutet bereits der Titel dieser Filmbiografie hin. Der Spruch aus | |
dem Talmud, „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, auf den hier | |
angespielt wird, wurde bereits durch [2][„Schindlers Liste“] über den | |
religiösen Kontext hinaus bekannt. Regisseur James Hawes will mit seinem | |
Kinodebüt nun Nicholas Winton, der in seiner Heimat bereits den Beinamen | |
„Der britische Schindler“ besitzt, so scheint es, ein ähnliches Andenken | |
bereiten, wie es Oskar Schindler seinerzeit durch das Kino zuteilwurde. | |
Dazu wählt der britische Filmemacher mitunter sogar ähnliche Motive wie | |
einst Steven Spielberg. | |
## Das ikonische Mädchen | |
So etwa im Erzählen von Nicholas Wintons (Johnny Flynn) Reisen ins noch | |
unbesetzte Prag, wohin Zehntausende nach dem Einmarsch der deutschen | |
Truppen in die Tschechoslowakei geflohen sind, an die er sich als beinahe | |
80-Jähriger erinnert (dann gespielt von Anthony Hopkins), kurz bevor seine | |
Taten der Öffentlichkeit bekannt werden. Wenn sich der junge Brite seinen | |
Weg durch die behelfsmäßigen Flüchtlingsunterkünfte, ihren Schmutz und das | |
Leid bahnt, folgt die Kamera immer wieder einem kleinen Mädchen, das mit | |
einem Baby auf dem Arm durch das Lager irrt. | |
Ähnlich wie das ikonische Mädchen im roten Mantel in „Schindlers Liste“, | |
suggeriert auch „One Life“, dass es ihr Anblick ist, der den Protagonisten | |
letztlich zum Entschluss bewegt, helfen zu wollen, helfen zu müssen. | |
Berichtet „One Life“ von den Hürden, denen sich Nicholas Winton nach diesem | |
Entschluss ausgesetzt sieht, vertraut der Film auf altbekannte Formeln | |
vergleichbarer Historiendramen, die sich den heroischen Taten von Einzelnen | |
widmen. Da die britische Regierung zwar durchaus staatliche | |
Kindertransporte aus Deutschland und Österreich organisiert, nicht aber aus | |
der Tschechoslowakei, möchte Winton zusammen mit den Freiwilligen vor Ort | |
selbst eine Rettungsaktion auf die Beine stellen. | |
In schnell geschnittenen Montagen ist er mal beim eifrigen Pläneschmieden | |
mit Vertretern eines britischen Hilfskomitees vor Ort (Alex Sharp und | |
Romola Garai) zu sehen, mal in gehetzten Telefonaten mit seiner | |
couragierten Mutter Babette (Helena Bonham Carter), die die Behörden in | |
London von der Notwendigkeit überzeugen soll, den Kindern ein britisches | |
Visum auszustellen. | |
## Die tödliche Ignoranz bürokratischer Strukturen | |
James Hawes gelingt es so zwar durchaus, sowohl das enorme Engagement der | |
Menschen um Nicholas Winton als auch die bisweilen tödliche Ignoranz | |
bürokratischer Strukturen eindrücklich darzustellen. Eine Einreiseerlaubnis | |
erhielten die Kinder schließlich nur dann, wenn sich zuvor britische Paten | |
fanden, die für alle entstehenden Kosten während des Asyls aufkommen und | |
darüber hinaus im Vorfeld eine Gebühr von 50 Pfund (was heute fast 10.000 | |
Euro entspricht) entrichten würden. | |
Und auch die TV-Sequenz, durch die die Taten Nicholas Wintons eine späte | |
Anerkennung fanden, ist selbst in der nachgespielten Fassung überaus | |
berührend. Nicht zuletzt wegen der Würde, die Anthony Hopkins’ bedächtiges | |
Spiel einem Mann verleiht, der sich bis ins hohe Alter mit dem Gedanken | |
quälte, nicht noch mehr Kindern das Leben gerettet zu haben. | |
Indem Nicholas Wintons Geschichte in altbekannte Erzählmuster gepresst | |
wird, entlässt „One Life“ einen allerdings mit einem ähnlichen Gefühl des | |
„Nicht-gerecht-Werdens“, wie es besagte virale Videos tun. Durch den | |
konventionellen Ansatz, den James Hawes wählt, geht es auch hier zuerst um | |
das mediale Moment. Erst dann um die individuelle Person, um Nicholas | |
Winton selbst. | |
26 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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