# taz.de -- Coming-of Age-Film „Zeiten des Umbruchs“: Zwischen Holocaust un… | |
> Im sehr persönlichen Film „Zeiten des Umbruchs“ erzählt US-Regisseur | |
> James Gray zwei Jugendlichen, die in New York Anfang der 1980er | |
> aufwachsen. | |
Bild: Unzertrennlich: Johnny und Paul (Jaylin Webb und Michael Banks Repeta) | |
Rumpelnde Klänge, ein Glockenspiel, ein Bass, alles ein wenig verschwommen | |
herüberwehend, das sind die ersten Geräusche, bevor der Film richtig | |
begonnen hat. Sie stammen von der Single [1][„Armagideon Time]“ der | |
britischen Punkband The Clash (1979), sind aber gegenüber dem Original | |
stärker in einzelne Spuren zerlegt, aus denen sich der Reggae-Song | |
allmählich formt. | |
Im Bild taucht auf der schwarzen Leinwand dazu der Titel im Stil eines | |
Graffito auf: „Armageddon Time“[2][. So hat der US-amerikanische Regisseur | |
James Gray seinen jüngsten Spielfilm genannt, mit dem er im Mai in Cannes | |
im Wettbewerb] vertreten war. | |
Jetzt kommt sein Film in Deutschland ins Kino. Wobei zu erwähnen wäre, dass | |
man mit deutschen Verleihtiteln einen Film mehr oder minder elegant | |
erledigen kann. Und das ohne Not, gibt es doch seit einigen Jahren vermehrt | |
die Praxis, englische Originaltitel hierzulande einfach zu belassen: „The | |
Menu“, [3][„Licorice Pizza“] oder [4][„Bones and All“], um ein paar | |
jüngere Beispiele zu nennen. | |
## Zeit für Katastrophen | |
James Grays „Armageddon Time“ widerfuhr dieses Glück leider nicht, er hei�… | |
hier „Zeiten des Umbruchs“, obwohl es kaum an der Angst an mangelnder | |
Verständlichkeit gelegen haben dürfte. Das biblische „Armageddon“, das Gr… | |
im Titel verwendet, ist zudem viel treffender als das blasse Wort | |
„Umbruch“, denn es geht im Film durchaus um Katastrophen, solche, die | |
hinter einem liegen, und solche, die einem noch bevorstehen. | |
Der Titelheld Paul Graff (zart, frech, unberechenbar: Michael Banks Repeta) | |
kommt im Sommer 1980 in Queens in eine öffentliche Schule. Er eckt sofort | |
an. Statt aufzupassen, tut er lieber, was er gut kann, sehr gut sogar: | |
zeichnen. Oder Quatsch machen. Nicht unbedingt zur Freude des pädagogischen | |
Personals. | |
Am ersten Schultag in der 6. Klasse werden er und sein afroamerikanischer | |
Mitschüler Johnny Davis (stoisch wach: Jaylin Webb) wegen ihrer Späße vom | |
schlechtgelaunten Lehrer an die Klassentafel zitiert. Als Paul hinter | |
dessen Rücken weiter albert und die Klasse lacht, ermahnt der Lehrer, der | |
meint, Augen im Rücken zu haben, stattdessen Johnny. Die beiden Jungen | |
freunden sich an. | |
## Gravierende Unterschiede | |
Der soziale Unterschied zwischen ihnen ist deutlich. Während Johnny bei | |
seiner gebrechlichen Großmutter lebt und kein Geld für Klassenausflüge | |
aufbringen kann, ist Pauls Familie bürgerlich solide. Pauls großer Bruder | |
Ted geht auf eine Privatschule, der Vater macht irgendetwas Technisches, | |
man ist nicht reich, doch es reicht allemal. Auch in der Familie hat Paul | |
seine Schwierigkeiten: Den Erwartungen, die an ihn gestellt werden als | |
Schüler, wird er nicht gerecht, zu Hause ist er aufsässig. | |
Gray schildert das alles mit einer scheinbar gelassen beobachtenden | |
Nüchternheit, spart andererseits keine häusliche Eskalation aus. Besonders | |
die Szenen am Esstisch sind in einer Enge inszeniert, in der das | |
gegenseitige Beharken der Brüder und die scharfen Reaktionen der Eltern | |
einen fast schrillen Kontrast bilden zur Altersmilde der dabeisitzenden | |
Großeltern, die oft zu Besuch kommen. | |
In diesen nervös dynamischen Momenten verdichtet Gray, der das Drehbuch eng | |
an seiner eigenen Kindheit entlang geschrieben hat, die verschiedenen | |
Ängste, die sich in Pauls Familie überlagern. Da ist zunächst die | |
Erinnerung an den Holocaust der Großeltern. Pauls Großvater Aaron (sehr | |
abgeklärt: Anthony Hopkins), mit dem der Junge sich am besten versteht, | |
erzählt oft von seiner Zeit in der Ukraine und der Flucht aus dem teils von | |
den Nazis besetzten Europa in die USA. | |
Aaron ermuntert Paul zudem, sich als Künstler zu versuchen. Dem steht der | |
Anpassungsdruck gegenüber, den Pauls Eltern Irving (unsicher entschlossen: | |
Jeremy Strong) und Esther (zwischen sanft und streng: Anne Hathaway) spüren | |
und an die Kinder weitergeben, die „ja nicht auffallen“ sollen. Schließlich | |
sind da noch die Ängste, wohin die Weltpolitik im Kalten Krieg steuert, im | |
Fernsehen laufen Werbespots mit dem konservativen | |
Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan. | |
Paul sieht sich selbst zwischen der Aufforderung seines Großvaters, | |
gegenüber den rassistischen Mitschülern „a mensch“ zu sein, und der | |
Hoffnung seines Vaters, der Sohn möge es einmal (noch) besser haben als er | |
selbst, fast zerrieben. Die Lage verbessert sich nicht, als Paul von der | |
öffentlichen an die Privatschule seines Bruders wechseln muss, die unter | |
anderem ein Fred Trump finanziert. | |
Dort muss er seinen Freund Johnny vor den neuen Mitschülern verleugnen, | |
versucht diesem aber heimlich zu helfen. Wobei sich zeigt, dass die | |
Einfälle des eher weltfremden Paul nicht immer die besten sind. | |
Der klare, nie rührselige Blick Grays macht aus dieser | |
Coming-of-Age-Geschichte ein ergreifendes Drama, denn mit dramatischen | |
Szenen spart der Film nicht. Gray findet eine gute Balance zwischen Härte | |
und emotionaler Einfühlung in seine Figuren. Und die juvenilen Stars des | |
Films, Michael Banks Repeta und Jaylin Webb, tragen die Erzählung als ganz | |
selbstverständlich ungleiches Paar. Eine weitere Stütze ist Jeremy Strong | |
als zweifelndes Familienoberhaupt. | |
James Gray, der 1994 mit „Little Odessa“, einer klugen Variation des | |
Thriller-Genres, debütierte und danach von Abenteuer („Die versunkene Stadt | |
Z“, 2016) bis [5][Science-Fiction („Ad Astra“, 2019)] verschiedenste | |
Erfahrungen als Regisseur gesammelt hat, erliegt in „Zeiten des Umbruchs“ | |
nie der Versuchung, den Konventionen des Hollywood-Kinos zu genügen. Der | |
Anpassungsdruck hat am Ende nicht gesiegt. | |
23 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=GAM7dnEcptg | |
[2] /Filmfestspiele-von-Cannes/!5853898 | |
[3] /Spielfilm-von-Paul-Thomas-Anderson/!5827555 | |
[4] /Horror-Romanze-Bones-and-All-im-Kino/!5893644 | |
[5] /Science-Fiction-Film-Ad-Astra/!5624968 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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