| # taz.de -- Horror-Romanze „Bones and All“ im Kino: Ein unstillbares Verlan… | |
| > „Bones and All“ ist ein blutiges Roadmovie über junge Kannibalen. Trotz | |
| > verstörender Szenen ist es auch ein Film über eine alles verzehrende | |
| > Liebe. | |
| Bild: Verliebte Kannibalen: Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) | |
| Wir „verzehren“ uns nach einander. Etwas weniger elegant ausgedrückt, haben | |
| wir uns „zum Fressen gern“, wollen einander „vernaschen“ oder finden uns | |
| „zum Anbeißen“. Begehren und Hunger sind in der Sprache der Liebe – ein | |
| Phänomen, das bekanntlich „durch den Magen geht“ – erstaunlich eng | |
| miteinander verknüpft. Der [1][Autor Senthuran Varatharajah] geht in seinem | |
| Roman „Rot (Hunger)“ sogar so weit, sie als eine „kannibalische Sprache�… | |
| bezeichnen. | |
| Ist man sich dieser Verknüpfung einmal bewusst, scheint es gar nicht mehr | |
| so abstrus, dass der italienische Regisseur Luca Guadagnino in „Bones and | |
| All“ ausgerechnet von einer Romanze zwischen zwei Kannibalen erzählt. | |
| Die Liebenden im Zentrum haben wenig mit den auf fürchterliche Weise | |
| nüchternen Beispielen des echten Lebens, wie dem „Kannibalen von | |
| Rotenburg“, oder bekannten fiktiven Figuren wie „Hannibal Lecter“, gemein. | |
| Wenn überhaupt, erinnern Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) | |
| an eine lässig-verlotterte Millennial-Version von „Bonnie und Clyde“. Eine, | |
| die allerdings irgendwann in den Achtzigern ihr Unwesen treibt. | |
| ## Allein zurückgelassen | |
| Bevor sie zueinander finden, konzentriert sich das auf einem Jugendroman | |
| von Camille DeAngelis basierende Drehbuch von [2][David Kajganich, der | |
| zuletzt für „Suspiria“ mit Luca Guadagnino zusammenarbeitete], allein auf | |
| Maren. Ihr Vater (André Holland) lässt sie nach einer weiteren ihrer | |
| Hungerattacken, während der sie den Finger einer Mitschülerin verschlang, | |
| mit etwas Geld, ihrer Geburtsurkunde und einer Kassette zurück. Darauf | |
| beschreibt er ihr die Entwicklung ihrer „Ausrutscher“, auf dass sie selbst | |
| daraus schlau werde. | |
| Von da an setzt „Bones and All“ zu einem schaurig-schönen Roadmovie an. Nun | |
| vollkommen auf sich allein gestellt, will Maren ihre Mutter ausfindig | |
| machen, um mehr über ihre Lust auf Menschenfleisch herauszufinden. Dass sie | |
| mit der nicht alleine ist, erfährt sie durch eine Begegnung mit einem | |
| gealterten Gleichgesinnten, Sully (Mark Rylance). Menschen wie sie werden | |
| als „Eater“ bezeichnet und können verwandte Seelen über einige Entfernung | |
| „erriechen“. | |
| Was den kannibalischen Drang auslöst, erklärt der Film nicht. Ebenso wenig | |
| ist er als eindeutige Metapher zu erkennen, wobei er sich durchaus als | |
| Verweis auf Sucht im Allgemeinen lesen lässt. Dass sich der Kannibale | |
| anders als der Vampir nicht recht zum Symbolbild eignet, liegt | |
| wahrscheinlich allein schon am Fehlen jeder überwirklichen Komponente. Der | |
| Horror, der von ihm ausgeht, ist schlicht zu real. Noch dazu lässt er die | |
| anziehende Eleganz vermissen, die den Blutsauger-Mythos am Leben hält. | |
| ## Familienfotos des Opfers | |
| Wie Anthropophagie aussehen kann, führt „Bones and All“ erstmals vor Augen, | |
| wenn Sully seine gerade verstorbene „Beute“ mit Maren teilt und sie | |
| gemeinsam ihre Zähne in das Fleisch einer alten Frau bohren, es ihr | |
| geradezu von den Knochen reißen. Die Kamera ist besonders effektvoll, wenn | |
| sie im nächsten Augenblick wegschwenkt, über die persönlichen Besitztümer | |
| des Opfers gleitet, Familienfotos einfängt und so schonungslos die | |
| Tragweite des qua seiner Absurdität zunächst fast komisch wirkenden | |
| Geschehens ins Gedächtnis ruft. | |
| Grauen und Liebreiz wechseln sich in dieser erstaunlichen Genremischung, zu | |
| der sicherlich auch eine Portion „Coming-of-Age“-Flair gehört, | |
| kontinuierlich ab. Das gilt insbesondere für die Liebe zwischen Maren und | |
| Lee, deren Wege sich kurz darauf kreuzen. Während sie ihrer Veranlagung | |
| noch mit großen Skrupeln begegnet, legt er in zerschlissenen Jeans und mit | |
| der Andeutung eines pink gelockten Vokuhilas eine abgebrühte Coolness an | |
| den Tag. Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit ist die Chemie zwischen den | |
| beiden Hauptdarstellern nicht unmittelbar spürbar. | |
| Erst ganz allmählich entsteht während ihrer Odyssee durch US-amerikanische | |
| Kleinstädte eine Verbindung. Etwa, wenn sie sich gegenseitig die Geschichte | |
| ihres „ersten Mals“ anvertrauen und darüber lachen, dass es sich in beiden | |
| Fällen um den Babysitter handelte – wobei es eben nicht um das erste | |
| sexuelle Erlebnis, sondern das erste „menschliche Mahl“ geht. | |
| ## Interesse an Grenzüberschreitungen | |
| Dass Begehren und Hunger später durchaus zu einem einzigen Verlangen | |
| verschmelzen, passt zu den wiederkehrenden Motiven in Guadagninos | |
| Filmografie, die seit jeher ein Interesse am Erzählen von Sexualität als | |
| bittersüße Grenzüberschreitung erkennen lassen. Man erinnere sich an den | |
| bedeutenden Altersunterschied zwischen Elio (ebenfalls Chalamant) und | |
| Oliver (Armie Hammer) in [3][„Call Me by Your Name“]. In „Bones and All“ | |
| zeigt sie sich in einer besonders gewaltsamen Szene, in der Lee ein | |
| männliches Opfer mit der Hand befriedigt, um ihm just im Moment der Klimax | |
| die Kehle aufzuschneiden – und so den kleinen zum ultimativen Tod werden | |
| lässt. | |
| Der knapp über zweistündige Film setzt sich aus vielen derartigen | |
| Begegnungen zusammen, wobei sich „Bones and All“ – auch das ist man vom | |
| Regisseur gewohnt – mitunter ein wenig zu lange an wunderschönen | |
| Einstellungen ergötzt, anstatt die Handlung voranzubringen. Diese, trotz | |
| allem, ästhetisch bestechenden Bilder sind es, zusammen mit der konträr zu | |
| den Ereignissen melancholisch-zarten Musik von Trent Reznor und Atticus | |
| Ross, die den Film niemals gänzlich in Horror abgleiten lassen. | |
| So stellt sich selbst das kraftvolle, wenn auch etwas forciert wirkende | |
| Finale mehr als kompromissloser Akt der Leidenschaft denn als | |
| Schreckensszenario dar. Für Guadagnino bestünde ein solches wahrscheinlich | |
| ohnehin viel mehr im allzu Angemessenen und Anständigen. Ob man in „Bones | |
| and All“ am Ende mehr sehen kann, als ein auf charmante Weise provokantes | |
| Gedankenspiel über die wortwörtlich alles verzehrende Liebe, sei | |
| dahingestellt. Aber das ist für sich genommen ja schon ganz schön viel. | |
| 22 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
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