# taz.de -- Spielfilm „Die stillen Trabanten“: Der Versuch, Nähe zuzulassen | |
> Der Spielfilm „Die stillen Trabanten“ von Thomas Stuber nach einem Buch | |
> von Clemens Meyer ist sehr gut besetzt. Er erzählt leise von | |
> Verletzlichkeit. | |
Bild: Nähe, nur kurz, zwischen Birgitt (Nastassja Kinski, links) und Christa (… | |
Eines Abends quietscht eine Schaukel, als Wachmann Erik (Charly Hübner) | |
seine Runden um eine Hochhaussiedlung am Stadtrand von Leipzig dreht. Auf | |
einem Spielplatz schaukelt eine junge Frau. Den Hund neben sich, steht Erik | |
für einen Moment am Zaun und schaut der Frau zu. Sie guckt kurz über die | |
Schulter und schaukelt weiter. Wie in [1][„In den Gängen“ setzt Regisseur | |
Thomas Stuber] auch in seinem neuen Film „Die stillen Trabanten“ auf | |
intensive Szenen, in denen der emotionale Gehalt beiläufig daherkommt. | |
Jens (Albrecht Schuch), ein Imbissbesitzer, der sich abends auf dem Gang | |
vor seiner Wohnung beim Rauchen allmählich in die Frau seines arabischen | |
Nachbarn verliebt. Aischa (Lilith Stangenberg), eine junge Frau, die auf | |
der Suche nach einem Ausweg aus ihrem Selbsthass zum Islam konvertiert ist | |
und feststellt, dass sie mit ihrem Nachbarn glücklicher ist als mit ihrem | |
Mann. | |
## Gewohnt, Distanz zu halten | |
Birgitt (Nastassja Kinski), eine Frisörin, deren Hand beim Griff nach den | |
Zigaretten in der Bahnhofskneipe plötzlich die Hand der Frau auf dem | |
Barhocker neben ihr streichelt. Christa (Martina Gedeck), eine Putzfrau, | |
der die Zufallsbekanntschaft mit Birgitt mitten durch ihre harte Schale | |
purzelt. | |
Marika (Irina Starshenbaum), eine junge Frau aus der Ukraine, die im Krieg | |
ihre ganze Familie verloren hat und nun in einer Hochhaussiedlung am | |
Leipziger Stadtrand nachts auf der Schaukel sitzt. Erik, der Wachmann, wird | |
sich in Marika verlieben. Sechs Menschen, die es gewohnt sind, Distanz zu | |
halten, und denen sich in „Die stillen Trabanten“ unverhofft die | |
Möglichkeit von Nähe bietet. | |
## Er liest im Koran | |
Als Aischas Mann Hamet (Adel Bencherif) in einer Arbeitspause im Imbiss | |
steht, sucht Jens hilfsbereit die Karte nach Essensoptionen ohne | |
Schweinefleisch ab. Sein Schulfreund Mario (Andreas Döhler), der in den | |
Imbiss primär die fragwürdige Idee eingebracht hat, rote Auslegeware zu | |
verlegen, ventiliert von der Seite Alltagsrassismus. Wenig später liest | |
Jens während der ausgedehnten Wartezeiten im Imbiss, den Kopf an die | |
Abzugshaube gelehnt, im Koran, um zu verstehen, was Aischa in ihrer | |
religiösen Wende gefunden haben mag. | |
Die drei Figurenpaare bilden die Grundstruktur von „Die stillen Trabanten“. | |
Drei Erzählstränge, die sich durch den Film ziehen. Die Bilder von Peter | |
Matjasko bleiben nüchtern, ohne kalt zu wirken, umgeben die Figuren mit | |
Räumen, die sie gesellschaftlich verorten. Die Kamera macht den | |
peripersonalen Raum der Figuren als Pufferzone zwischen den Figuren und der | |
Welt sichtbar, gibt den Protagonist_innen Raum. | |
Als Wachmann Erik beim zweiten Zusammentreffen mit Marika plötzlich nach | |
dem Scanner greift, mit dem er seine Runde dokumentieren muss, zuckt sie | |
zusammen. Als er sie nach ihrem Namen fragt, bringt sie trotz des Zauns, | |
der sie ohnehin trennt, erst einmal Raum zwischen sie beide. | |
## Sehnsucht nach Berührungen | |
Die Protagonist_innen in „Die stillen Trabanten“ haben gelernt, ihr Leben | |
in Routinen abzusichern und Abstand zu halten zur Welt. Stubers Film zeigt | |
sie bei dem Versuch, Nähe zuzulassen. „Die stillen Trabanten“ beruht wie | |
„In den Gängen“ auf einer literarischen Vorlage von [2][Clemens Meyer], der | |
bei beiden Filmen auch am Drehbuch mitgearbeitet hat. Anders als „In den | |
Gängen“, der auf einer einzelnen Kurzgeschichte basierte, nimmt „Die | |
stillen Trabanten“ sich den ganzen gleichnamigen Band mit Erzählungen zur | |
Vorlage. Die größte Schwäche des Films ist denn auch, dass die | |
Erzählstränge sich trotz einzelner Versuche nie verbinden. | |
So teilen die Geschichten um Marika und Erik und die um Aischa und Jens | |
immerhin eine Figur. Hans ([3][Peter Kurth]) tritt zuerst in einer | |
Rückblende als Hamets Vorarbeiter bei einer Gartenbaufirma auf und dann | |
später als Kollege Eriks beim Wachschutz. Doch die jeweiligen Geschichten | |
fügen sich nie wirklich zu einer emotionalen Metaerzählung. So geht es in | |
„Die stillen Trabanten“ um Einsamkeit und die Sehnsucht nach Berührungen, | |
Alltagsrassismus und Leben in Ostdeutschland. | |
## Kein Arthouse-Kitsch | |
Dem stehen eine ganze Menge Stärken gegenüber, die Stubers Kinofilme | |
prägen. Stuber hat eine Form gefunden, die Verletzlichkeit seiner | |
Protagonist_innen mit großer Zärtlichkeit und Behutsamkeit zu inszenieren, | |
ohne in Arthouse-Kitsch abzudriften. Dass das immer wieder mit scheinbar | |
spielerischer Leichtigkeit gelingt, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass | |
Stubers Filme Ensemblefilme sind. Kameramann Matjasko ist seit „Teenage | |
Angst“ von 2008 festes Mitglied der Crew. | |
Eine ganze Reihe weiterer Crewmitglieder waren auch schon an „In den | |
Gängen“ beteiligt. Vor allem aber sind Stubers Filme immer aufs Neue bis in | |
die Nebenrollen hervorragend besetzt, mit Peter Kurth als Festpunkt. | |
Stubers Filme ließen sich als Rehabilitierung theatralen Filmemachens | |
beschreiben, denen aber die ungelenke Textfixierung und Steifheit abgeht, | |
mit denen ein solcher Zugang sich sonst allzu oft verbindet. | |
So beeindruckt „Die stillen Trabanten“ mit vielen Qualitäten, die rar sind | |
im deutschen Kino: mit einer Balance aus Zurückgenommenheit und Empathie, | |
aus Nüchternheit und Emotionalität. | |
1 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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