# taz.de -- Fahrradkuriere gründen Kollektiv: Ihre eigenen Chefs | |
> In Halle haben Fahrradkuriere einen eigenen Kurierdienst aufgemacht – | |
> basisdemokratisch und ohne Hierarchien. Inzwischen läuft das Geschäft. | |
Bild: Esther Widmann (links), Mitgründerin des Fahrradkollektivs, mit einem Ko… | |
HALLE taz | Wenn der Transporter am Morgen die Ware bringt, beginnt für | |
Esther Widmann die Arbeit. Pünktlich um 7 Uhr rollt das schwere Fahrzeug in | |
den Innenhof und liefert Briefe, Päckchen und Pakete. Mit ihrem | |
Arbeitskollegen Jon Tannig entlädt sie den Wagen, stapelt die Lieferung in | |
gelbe Kisten und trägt sie ins Lager. Von hier aus wird alles nach | |
Postleitzahl sortiert und in zwei großen Boxen verstaut. Während sich diese | |
füllen, geben sie die Adressen in eine App ein. Sind alle Orte gespeichert, | |
erstellt die App automatisch die schnellste Route. Jetzt ist die Ware | |
bereit für die letzte Ausfahrt. | |
Esther Widmann und Jon Tannig sind Fahrradkuriere in Halle. In der größten | |
Stadt Sachsen-Anhalts, am Ufer der Saale, liefern sie Post auf der | |
sogenannten letzten Meile: vom Lager zum Endkunden. Mit ihren | |
E-Lastenrädern brechen sie jeden Wochentag frühmorgens auf, um Post an die | |
Kunden zu liefern, die es besonders eilig haben. Manche Sendungen müssen je | |
nach Auftrag am selben Tag, bis 12 Uhr oder besonders schnell schon bis 9 | |
Uhr zugestellt werden. | |
Fahrrad-Kurierdienste sind keine neue Erfindung. In vielen Städten sieht | |
man sie auf zwei Rädern durch die Straßen flitzen. Häufiges | |
Erkennungsmerkmal: lange Unterwäsche, kombiniert mit kurzer Hose – der | |
inoffizielle Dresscode der Branche. Sie liefern Briefe und Pakete, | |
Medikamente und Mahlzeiten – eigentlich alles, was die Kund:innen sich | |
wünschen, vorausgesetzt, es lässt sich auf zwei Rädern transportieren. | |
Fahrrad fahren und dabei Geld verdienen? Für die 28-jährige | |
Ethnologie-Absolventin Esther Widmann klang das reizvoll. Eine Freundin | |
schwärmte davon. „Es ist mehr als nur ein Job, hat sie zu mir gesagt“, | |
erzählt Widmann. Die Liebe am Fahrradfahren, auf zwei Rädern die Stadt | |
kennenzulernen, sich nachhaltig und gesund zu bewegen, all das waren | |
Gründe, warum sich die gebürtige Freiburgerin im Februar 2018 beim damals | |
einzigen Fahrradkurier-Dienst in Halle bewarb. | |
Doch die Realität war ernüchternd. Schlechte Einarbeitung, zu wenige | |
Aufträge, lange Pausenzeiten. Dazu ein unregelmäßiges Einkommen und ein | |
unfreundlicher Chef. „Es war super prekär“, erinnert sich Widmann. Selbst | |
Arbeitsmaterialien wie Rucksack und Handy seien vom Lohn abgezogen worden, | |
und auch der Bereitschaftsdienst wurde nicht bezahlt. Dementsprechend | |
niedrig war der Lohn. | |
## Selbstbestimmt statt fremdbestimmt | |
Ein halbes Jahr lang hat sich die Studentin das angetan. Dann hörte sie | |
auf. Der Freude an der Arbeit auf zwei Rädern tat diese Erfahrung keinen | |
Abbruch. Doch mit der Abhängigkeit und Willkür in der Branche wollte sie | |
nichts mehr zu tun haben. „Eigentlich hätten wir gerne alles selbst in die | |
Hand genommen“, sagt sie. „Ohne den Chef, dem unsere Arbeitsbedingungen | |
egal waren.“ So entstand zusammen mit einem ehemaligen Arbeitskollegen und | |
anderen begeisterten Fahrradfahrer:innen die Idee, einen eigenen | |
Kurierdienst zu gründen, und das als Kollektiv. Selbstbestimmt statt | |
fremdbestimmt. Mit Eigenkapital statt Investoren. „Wir wollten unser | |
eigener Chef sein“, betont Esther Widmann. | |
Die Vision: ein Kurierdienst, der genau nach den Prinzipien organisiert | |
war, die den sieben Gründer:innen wichtig waren. Basisdemokratisch, | |
hierarchiefrei, autonom. Aus diesem Gedanken entstand im März 2021 „Cat“, | |
Halles erstes Kurierkollektiv. | |
Das Grundprinzip: Der Kurierdienst ist in der Hand derer, die dort | |
arbeiten. Das Kollektiv wurde von den Mitgliedern geschaffen, wird von | |
ihnen verwaltet und wird eines Tages von den Mitgliedern aufgelöst – so | |
zumindest steht es im eigenen Betriebsstatus. Es gibt keinen Arbeitgeber, | |
keinen Chef und keine Angestellten. Stattdessen sind alle Kuriere | |
automatisch Mitglieder des Kollektivs mit gleichem Stimm- und Vetorecht und | |
gleichem Lohn. | |
Entscheidungen werden nicht von oben herab, sondern möglichst im | |
wöchentlichen Plenum im Konsens getroffen. „Bislang klappte das auch ganz | |
gut“, meint Esther Widmann. Und wenn sich mal nicht alle einig sind, werde | |
halt etwas länger diskutiert. Gibt es tatsächlich keinen Konsens, sind in | |
Ausnahmefällen Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit möglich, auch | |
wenn das bislang noch nicht vorgekommen sei. | |
## Kontakt zur Straße | |
Neben Konsens strebt das Kollektiv eine „vertikale Arbeitsteilung an“. | |
Jeder und jede soll alle Tätigkeiten im Betrieb übernehmen können – vom | |
täglichen Ausfahren bis zur Administration. So soll vermieden werden, dass | |
sich Hierarchien herausbilden, administrative Entscheidungen nicht von | |
allen nachvollzogen werden können und kein Mitglied den buchstäblichen | |
Kontakt zur Straße verliert. | |
Gegen 8 Uhr beginnt die Ausfahrt. Zielsicher steuert Esther Widmann das | |
schwere Lastenrad durch die kleine Innenstadt. Am Zielort angekommen, lässt | |
sich das Rad meist direkt bei der Adresse des Kunden abstellen. Diese | |
Flexibilität spart Fahrrad-Lieferdiensten im Vergleich zu den großen | |
Paket-Transportern viel Zeit und macht sie überhaupt erst konkurrenzfähig. | |
An diesem Morgen gestaltet sich die Suche nach einem Parkplatz jedenfalls | |
einfacher als die Suche nach den Kunden. Manchmal steht der Name nicht an | |
der Tür, der Kunde ist nicht vor Ort, telefonisch nicht erreichbar oder | |
noch gar nicht eingezogen. Für Paketbotin Widmann ist das ärgerlich. Ohne | |
Empfänger muss die Ware zurück ins Lager, wo sie am nächsten Tag erneut | |
ausgeliefert wird. | |
Klappt alles wie gewünscht, schafft sie sechs Pakete pro Stunde. Damit | |
liegen die Fahrradkuriere nach Aussage ihres Auftraggebers im Schnitt etwa | |
gleichauf mit den motorisierten Paketboten, die es oftmals schwer haben, in | |
der engen Innenstadt einen Parkplatz zu finden. Mit dieser Quote ist das | |
kleine Kollektiv rentabel, inzwischen steht es finanziell auf stabilem | |
Boden. | |
Zu Beginn war es nicht leicht. „Wir wollten zweigleisig fahren“, sagt | |
Widmann. Das Kollektiv wollte sowohl einen Paket-, als auch einen | |
Lieferdienst für Essen anbieten und damit auf einem boomenden Markt | |
aufspringen, der zunehmend von milliardenschweren Unternehmen wie | |
[1][Lieferando, Getir oder Uber] dominiert wird. „Wir gingen von Restaurant | |
zu Restaurant und stellten uns und unsere alternative Bestellplattform | |
vor“, erinnert sich Widmann. | |
Doch es lief schleppend. Eine zusätzliche Plattform, die kaum jemand | |
kannte, klang für die meisten wenig attraktiv. Zu viel Aufwand, zu wenig | |
Ertrag. Da war das Komplettpaket von Lieferando & Co. viel bequemer. Auch | |
fehlten Zeit, Geld und Wissen für echtes Marketing. „Kundenakquise haben | |
wir uns am Anfang viel einfacher vorgestellt“, gesteht Widmann. Als | |
Lieferando und Uber sich immer mehr in Halle etablierten, war die | |
Konkurrenz zu groß und die Strategie, mit dem Ausfahren von Essen Geld zu | |
verdienen, erst mal gescheitert. | |
## Durchbruch mit DHL | |
So bleibt das Kollektiv beim Kerngeschäft. Es liefert regelmäßig | |
Medikamente für eine Apotheke und übernimmt unregelmäßig kleinere Aufträge | |
von Geschäfts- und Privatkunden. Der Durchbruch gelang vor einem Jahr: Im | |
März 2023 glückte die Kooperation mit einem gewichtigen Geschäftspartner. | |
Ein befreundetes Kollektiv stellte über einen anderen Sub-Unternehmer den | |
Kontakt zu DHL her, [2][Deutschlands größtem Paketdienst]. | |
Seitdem übernimmt Cat offiziell als Sub-Sub-Unternehmer einen Teil der | |
täglichen Expresslieferungen des Paketriesen und fährt sie stadtverträglich | |
und klimaschonend mit dem E-Lastenrad aus. Das spart unnötige Autofahrten | |
und CO2 und sichert dem Kollektiv eine sichere Einnahmequelle. Davon | |
konnten sich die Kuriere eine Lokalität in der Innenstadt mieten, die | |
Lagerraum und Kollektivzentrale in einem ist. Gleichzeitig erlaubt die | |
Kooperation mit DHL, dass sich die sieben Mitglieder und Eigentümer von Cat | |
mehr als den Mindestlohn auszahlen können. Eine Entscheidung, die | |
selbstverständlich im Konsens getroffen wurde. | |
Die Zukunftsaussichten des Kollektivs sind gut. Die Basisfinanzierung | |
steht, die Regionalpresse berichtete bereits und sogar über einen Preis | |
darf sich der junge Betrieb freuen. Im Mai 2023 nahmen sie an dem | |
bundesweiten Wettbewerb [3][„Projekt Nachhaltigkeit“] teil und wurden | |
prompt mit einem Preis ausgezeichnet. Die Jury begründete dies mit dem | |
Einsatz für Ökologie und einem solidarischen Miteinander. | |
Auch geschäftlich blicken die Fahrradbegeisterten nach vorne. Gerne wolle | |
man weiter wachsen, neue Kooperationspartner gewinnen, neue Mitglieder | |
finden, die Fahrradflotte erweitern und das Liefergebiet vergrößern. Dass | |
man weiterhin ein Nischengeschäft betreibt, ist den Mitgliedern bewusst. | |
Ganz Halle beliefern? Davon ist das Kollektiv angesichts der ungeheuren | |
Menge an Paketen, die tagtäglich bestellt werden, weit entfernt. Dies | |
strebe man auch gar nicht an, meint Widmann. Der Fokus liegt auf der | |
Innenstadt. Hier spielt das Fahrrad angesichts der kurzen Wege seine | |
Vorteile voll aus. | |
Zusätzlich wollen die Mitglieder in naher Zukunft eine GmbH oder | |
Genossenschaft gründen, damit die Mitglieder nicht mehr mit ihrem | |
Privatvermögen haften müssen. Viel ist in Bewegung. Doch eines wird sich | |
mit Sicherheit nicht verändern. „Wir bleiben weiter unabhängig“, versiche… | |
Esther Widmann. „Wir gehören niemandem.“ Oder wie es in der Präambel des | |
hauseigenen Betriebsstatuts heißt: „Das Kollektiv gehört sich selbst.“ | |
1 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kongress-Arbeit-und-Gesundheit/!5990933 | |
[2] /Logistikkrise-nach-Pandemie/!5996766 | |
[3] https://www.wettbewerb-projektn.de/index.html | |
## AUTOREN | |
Ingwar Perowanowitsch | |
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