# taz.de -- Kneipen-Transplantation: Neue Mitte mit Bratkartoffeln | |
> Die Hamburger Kneipe Blaue Blume ist vom Rand mitten hinein in die | |
> schicke Neue Mitte Altona gezogen. Macht das was? Ein Besuch. | |
Bild: Schicker wohnen: die Neue Mitte Altona. Ganz rechts das alte Bahngebäude… | |
Da an der Ecke ist sie mal gewesen, die Blaue Blume. Eine ehrliche Kneipe, | |
drinnen Holzstühle und Holztische, über die Jahre blankgescheuert, im | |
kleinen Vorgarten stand draußen im Sommer eine Biergartengarnitur. Man | |
konnte da gut sitzen und, einige hundert Meter vom [1][hippen Ottensen] auf | |
der anderen Seite der Bahngleise entfernt, eine selten gewordene Normalität | |
genießen. | |
Es war immer recht viel los in der Blauen Blume, die sehr nahe an dem alten | |
weißen Zollgebäude des Altonaer Güterbahnhofs lag, in dem die | |
Hamburg-Redaktion der taz ihre Räume hatte. Manchmal ging es dorthin zum | |
Mittagessen, und ganz vorne auf der Speisekarte standen die Bratkartoffeln. | |
Es gab sie dort in allen Variationen, hinten aus der dampfenden Küche | |
wurden sie gebracht, mit Ei und Gurke, mit Matjes, mit Schnitzel? Irgendwas | |
mit Fleisch jedenfalls. Sie waren sehr gut. | |
Hindurch durch den Tunnel der Zeit, Jahre später, ist nicht mehr viel, wie | |
es war in dieser Gegend. Der alte Güterbahnhof mit seinen Lagerhallen ist | |
verschwunden, ein komplett neues Viertel wurde aus dem Boden gestampft: die | |
„[2][Neue Mitte Altona]“. Sehr schick und sehr teuer, große SUVs | |
verschwinden hinter den automatischen Rollgittern der Tiefgaragen. In dem | |
Zollgebäude, wo die taz war, sind jetzt Architekturbüros. Da, wo die Blaue | |
Blume war, ist Leerstand: blinde Fenster, alles still, der Garten verwaist. | |
Doch die Kneipe ist nicht tot, sie hat sich nur neu erfunden. Hundert Meter | |
weiter sitzt sie jetzt in einem der wenigen alten Backsteingebäude der | |
Bahn, die übrig geblieben sind. In der Mitte eines Platzes, sehr prominent, | |
leuchtet das „Blaue Blume“-Schild, umgeben von erleuchteten Wohnblöcken der | |
Neuen Mitte Altona. | |
Drinnen an den Wänden hängen alte Intercity-Zugschilder, es ist ein | |
bisschen schicker als in der alten Location, aber nur ein bisschen. Die | |
Speisekarte hat sich gar nicht so groß verändert, es gibt jetzt mehr | |
Veganes, aber immer noch bodenständige Küche, Grünkohl mit Kassler, | |
Schnitzel und: Bratkartoffeln! | |
Doch geht das überhaupt? Kann etwas gleich bleiben, wenn sich alles andere | |
ändert? | |
## Wait to be seated | |
Eigentlich sind wir ja gar nicht zum Essen hier, sondern zum Biertrinken. | |
Wait to be seated, aber wieso eigentlich? Sind doch genug Tische frei, es | |
ist ein Wochentag, da geht der Hamburger nicht so gern aus. Zumindest der | |
Hamburger, der in der Neuen Mitte Altona wohnt, denn dieser Hamburger muss | |
arbeiten, um die Miete zu bezahlen, oder die Raten, falls er die Wohnung | |
gekauft hat und sie nicht einfach so bezahlen konnte. Aber auch dann muss | |
er arbeiten, gerade dann. | |
Der Kellner kommt und mein Gegenüber bestellt nun doch einen Camembert, der | |
später auf einem sehr kleinen Teller kommt, und was wollen Sie zu trinken | |
bestellen? Ja, sagt mein Gegenüber, der aus Bayern zugezogen ist, was ist | |
denn das, was da auf der Karte steht, „Aktionshahn?“ Das klingt ja | |
interessant! | |
Das ist ein … sagt der Kellner, ein sehr netter junger Mann, der etwas | |
schüchtern ist und nicht ganz deutlich spricht. | |
Ein …? | |
Ein „Ale“, das haben wir da hinten auf der Tafel angeschrieben. | |
Ale, sagt mein Gegenüber, heiße in Bayern Blermerl-Bier, also | |
„Blümchen-Bier“ wegen seines fruchtigen Geschmacks. Er zögert, soll er, | |
soll er nicht? Das Bier steht auch auf der Karte, weiter unten, es soll | |
„isotonisch“ sein, das überzeugt ihn. | |
Das Ale kommt dann in einem 0,4-Glas für sechs Euro plus, es ist sehr trüb | |
und es schmeckt? Ja, nach was eigentlich … sehr süß jedenfalls. Ananas? | |
Maracuja? „Interessant“, sagt mein Gegenüber. | |
## Stühle auf dem Tisch | |
Wir reden, die Blaue Blume leert sich, irgendwann wird es neben uns laut. | |
Das sind die Stühle, die auf die Tische gestellt werden, der Kellner steht | |
etwas unschlüssig in der Nähe. Er ist wirklich sehr nett, aber wir sind nun | |
mal die Letzten. | |
Es ist noch nicht mal 23 Uhr. | |
Angeblich zeichnet sich die [3][Neue Mitte] ja durch ihr kulturelles | |
Kapital und ihren Lifestyle aus. Aber sie muss auch Geld verdienen und kann | |
es sich nicht leisten, in irgendwelchen Kneipen zu versumpfen. | |
5 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Wiese | |
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