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# taz.de -- Improvisationsmusik in Berlin: Im Impro-Tempel
> Im Berliner Club Ausland pflegt man seit 22 Jahren experimentelle Musik,
> die auch ohne Melodien zurechtkommt. Und manchmal gönnt sie sich doch
> welche.
Bild: Macht keine Nullachtfünfzehn-Musik: das Trio DEL
Dass Berlin ein internationales (manche würden sogar sagen: das)
[1][Zentrum für die Improvisationsmusik] ist, hat sich auch hinter dieser
unscheinbar wirkenden Metalltür hier in Prenzlauer Berg entschieden. Sie
findet sich in einer Seitenstraße, bereits etwas abseits der Kneipen und
Fressstände in dem beliebten Ausgehviertel. Ein paar enge Treppenstufen
geht man hinunter ins Souterrain, passiert die Tür und einen klitzekleinen
Vorraum, und schon steht man in dem Kellerraum, der mit seiner hohen Decke
gar nicht nach Keller schmeckt. Hinten gibt es eine improvisierte Theke,
mit 50 Leuten ist der Raum eigentlich bereits voll.
Wenn alle wollen, passen aber auch eine Menge mehr hinein.
So ist das auch an diesem Abend im Ausland – so heißt der kleine
Kellerclub. Dort darf was gefeiert werden. [2][Die Konzertreihe
„Biegungen“], die es genauso lang gibt wie das Ausland selbst, hat
Jubiläum. 22 Jahre bestehen die Biegungen nun, aber natürlich hat man nicht
einen großen Festakt darum gebastelt, was auch einigermaßen komisch
ausschauen würde bei einer Veranstaltungsreihe, bei der sich die
MusikerInnen im Regelfall vor dem Auftritt nicht groß noch einmal umziehen.
Hier findet sich eher kein schicker Bühnenfummel, es gibt keine Show. Keine
Glitzerkugel, sondern gerade mal ein rotes und ein blaues Licht.
Aber 22 Jahre sind jetzt keine Kleinigkeit. In diese Zeitspanne passt
immerhin gleich zweimal die komplette Lebensdauer der Beatles von „Love me
do“ bis „Let it be“ rein, auch wenn die Biegungen mit den Beatles auf den
schnellen Blick wenig gemein zu haben scheinen. Schließlich kennt man die
Reihe vor allem als bedeutenden Spielplatz der Berliner Echtzeitmusik, die
nun wirklich nicht als besonders melodienselig verschrieen ist.
## Verzicht auf den expressiven Gestus
Im Ausland hatte diese sehr international aufgestellte Szene für
improvisierte, experimentelle Musik eine frühe Heimat. In Abgrenzung zu
einer älteren, im Free Jazz durchaus gleichfalls gern improvisierenden
Musikergeneration wird bei der Echtzeitmusik meist auf den expressiven
Gestus verzichtet. Ein sehr am Klang interessiertes Musizieren, wo sonst
gar nicht mehr viel dazu passieren muss. „Berlin Reductionism“ hat man das
genannt und melodisch mag man sich das vielleicht wie ein sacht
gezischeltes Krk-Brrrrmm-Zoing vorstellen.
Aber in diesen langen 22 Biegungenjahren war eben nicht nur so ein
melodisch möglicherweise unterkomplexes Krk-Zoing zu hören, sondern halt
auch verkanteter Pop, Irgendwiejazz und überhaupt Musik, die nicht so
einfach in irgendeine Schublade entsorgt werden kann.
An diesem Abend waren es zum Beispiel fahle Seufzer am Cello und
elektronisches Geplucker. Das Duo Ludwig Wittbrodt mit einer
zurückgenommenen Zuhörmusik, deren sacht moduliertem Brummen das
altersmäßig übrigens sehr gemischte Publikum mit einer Aufmerksamkeit wie
in einem Klassikkonzertsaal begegnete. Dort allerdings hätte das Klirren
von umfallenden Bierflaschen doch arg gestört. Im Ausland konnte man das
gut als eine musikalische Ergänzung hören.
## Krautrock miterfunden
Bei der Gruppe DEL, zweiter Programmpunkt des Abends, fand sich dann echte
Prominenz, einerseits mit dem US-amerikanischen, seit langem in Europa
lebenden Schlagzeuger Bill Elgart, (Jahrgang 1942, damit in etwa 8-mal die
Beatles), und als Gast in dessen Trio war mit Jochen Irmler an der Orgel –
schwarz-weiß gesprenkelter Bart, kleines Bäuchlein und weiter volles wirres
Haar – einer dabei, der mit seiner Band Faust Anfang der Siebziger
[3][immerhin den Krautrock miterfunden hat]. Schon eine Legende. Was sich
bei so einer Minderheitenmusik, wie sie im Ausland betrieben wird, eben in
diesen voll bepackten Raum umrechnet, der mit 50 Menschen bereits voll
wäre.
Zu hören waren scharrende, kreiselnde Töne. Quengelnde Störgeräusche kamen
untergehakt mit – doch – milden Melodien zu einem stimmungsvollen,
intensitätsgesättigten Augenblickjazz zusammen.
Wieder mal: ein musikalisch ertragreicher Abend im Ausland. Draußen die
Straße runter an den Fressständen und Kneipen amüsierte sich Berlin.
7 Mar 2024
## LINKS
[1] /Berlin-als-Heimat-fuer-schraege-Klaenge/!5963437
[2] https://ausland-berlin.de/biegungen-im-ausland
[3] /Retrospektive-von-Krautrockband-Faust/!5805357
## AUTOREN
Thomas Mauch
## TAGS
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