| # taz.de -- Grass-Ausstellung in Lübeck: Tanz den Literaturnobelpreisträger | |
| > Günter Grass und das Tanzen ist das Thema einer Ausstellung in Lübeck. Da | |
| > ist eine Mini-Love-Parade zur Eröffnung doch nur folgerichtig. Oder? | |
| Bild: Ute und Günter Grass tanzend | |
| Norddeutsche Stadtentwicklung in der Nussschale: „Früher wurden hier | |
| Schiffe gebaut“, [1][schreiben die Betreiber:innen] der Gollan | |
| Kulturwerft – „heute sind die alten Werfthallen der Kulturstandort in | |
| Lübeck“. Das „der“ muss dabei wohl bedeutungsschwer ausgesprochen werden, | |
| denn so wenige „Kulturstandorte“ gibt es ja gar nicht in der | |
| backsteinschönen Hansestadt – allein der Literatur sind hier zwei | |
| Ausstellungshäuser gewidmet. Gut: [2][Das Buddenbrook-Haus kriselt] derzeit | |
| etwas, und ganz unproblematisch ist der Hausherr und Namensstifter der | |
| anderen Institution auch nicht: Günter Grass (1927–2015). | |
| Für manche jedenfalls hat der Ruf des Literaturnobelpreisträgers von 1999 | |
| doch erkennbar Schaden genommen durch seine sehr spät öffentlich | |
| thematisierte Waffen-SS-Mitgliedschaft und sein [3][Israel zum potenziellen | |
| Kriegstreiber stilisierendes Gedicht] von 2006. (Dass es manchen sich | |
| Empörenden sehr gelegen gekommen sein muss, dem überzeugt | |
| sozialdemokratischen Verfasser der „Blechtrommel“ als verlogenem | |
| Gutmenschen am Zeug flicken zu können: Das wäre heute nicht anders.) | |
| Nicht überraschend, dass sie in Lübeck wohlwollender auf Grass blicken, der | |
| ab 1987 etwa 25 Kilometer südlich im Kreis Ratzeburg lebte. Seit 2002 | |
| würdigt ein – ausdrücklich unabhängiges – [4][„Günter Grass-Haus“] … | |
| malerische und plastische Schaffen des gebürtigen Danzigers. Untergebracht | |
| ist die Einrichtung in dem Haus in der Glockengießerstraße, in dem er zwei | |
| Jahrzehnte lang Sekretariat und Archiv unterhalten hatte. | |
| Dort gibt es einen sehr schönen, idyllischen Innenhof. Aber als nun die | |
| Vernissage für die neue Sonderausstellung „Grass tanzbar“ auszurichten war, | |
| ging man dafür vom kleinen eigenen Museum eben in die „Kulturwerft“. | |
| ## Immer wieder übers Tanzen geschrieben | |
| Denn so kurios das Thema der Schau vielleicht wirken mag, wollte man es | |
| doch umso mehr krachen lassen. Aber was heißt kurios? Günter Grass soll ein | |
| begeisterter Tänzer gewesen sein, seine erste Ehefrau Anna jedenfalls hatte | |
| es richtiggehend gelernt. Auch geschrieben hat der Schriftsteller immer | |
| wieder übers Tanzen. | |
| Entsprechend zusammengestellte Textstellen – von Grass, klar, aber etwa | |
| auch Karoline von Günderrode, Mascha Kaléko und Ralf Rothmann – trugen vor | |
| voller Halle jetzt [5][Die Spielkinder] vor. Das sind die Schauspielerin | |
| Lina Beckmann, ihre Geschwister Maja und Till sowie dessen Ehefrau Jennifer | |
| Ewert. Na gut: Charly Hübner, Lina Beckmanns Mann und eine Art Star, war | |
| auch dabei. | |
| Dieser gut gelaunte Familienbetrieb also begleitete sich selbst dann und | |
| wann musikalisch. Irgendwann kam noch die Seiltänzerin Ea Paravicini hinzu, | |
| übte ihre Kunst nervenschonenderweise aber nur zwei Meter über dem Boden | |
| aus. | |
| ## Dazu anständigen Weißwein | |
| Dass eine im Spielkinder-Programm nun nicht berücksichtigte Textstelle | |
| Grass’ Faszination für die Love Parade abbildet – zu finden im Buch „Mein | |
| Jahrhundert“ (1999) –, führte zum vielleicht kuriosesten Programmpunkt: | |
| [6][Love-Parade-Gründer Dr. Motte] war für ein Zwei-Stunden-Set gewonnen | |
| worden, mithin der Headliner des Eröffnungsabends. | |
| Es schlossen sich also allerlei Kreise; darin, dass Techno, andernorts | |
| [7][längst Museumsobjekt], auf eine Art an seine Ursprünge zurückkehrte, | |
| nämlich in umgenutzte Industriearchitektur, kann man ja auch als so einen | |
| erkennen. Natürlich ist eine schmuck hergerichtete Event-Immobilie nicht | |
| dasselbe, wie es wirklich sich selbst überlassene Ex-Industrie- oder | |
| Militäranlagen sind. Nein, hier traf die frisch zum immateriellen | |
| [8][Unesco-Kulturerbe gewordene „Technokultur in Berlin“] auf das höchst | |
| materielle Welterbe namens Lübeck (seit 1987 gelistet), und dazu gab es | |
| anständigen Weißwein. | |
| Überraschen konnte, wie begeistert sich hier weiß Gott nicht mehr | |
| jugendlich-überschwängliche Besucher:innen motivieren ließen von Mottes | |
| Bewegungsangebot. | |
| Günter Grass konnte aus gegebenem Anlass selbst nicht mehr mitraven – wenn | |
| das ohne die Option auf eine ganze exzessive Nacht überhaupt so heißt. | |
| 1 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://kulturwerft-gollan.de/geschichte/ | |
| [2] /Zukunft-des-Luebecker-Buddenbrookhauses/!5988646 | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Was_gesagt_werden_muss | |
| [4] https://www.grass-haus.de/ | |
| [5] http://die-spielkinder.org/ | |
| [6] /Dr-Motte-organisiert-Technoparade/!5862635 | |
| [7] /Techno-Museum-in-Frankfurt-am-Main/!5960044 | |
| [8] /Berlin-Techno-in-Unesco-Liste/!5996034 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Diehl | |
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