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# taz.de -- Militärmusikfestival in Bremen: Tschingdada Bumbum
> Mit klingendem Spiel demonstrieren Streitkräfte beim „Bremen Tattoo“ ihre
> Friedensliebe. Sie setzen dabei die Militärmusiktradition der Stadt fort.
Bild: Symbolbild, dass Militärmusik einen fertigmachen kann. Posaunist einer M…
Wo bleibt der solidarische Impuls? „Bremen Tattoo“ heißt das Event, und
Tattoo ist der verballhornte holländische Ausdruck für Zapfenstreich, der
sich als internationale Bezeichnung für Militärmusikschauen durchgesetzt
hat. Und jetzt marschieren mit Trompeten, Becken und Großer Trommel
bewaffnet die Mitglieder des Militärorchester aus Tschernihiw in die
ÖVB-Arena vulgo Stadthalle mit klingendem Spiel ein.
Was Musikalität und Intonation angeht, ist das um Längen besser als der
Schreichor der Bundeswehrmarine, der das Event eröffnet hatte: Unter der
Fuchtel von Stabsbootsmann Siegfried Knapke hatten die Blauen Jungs
Bremerhaven stillgestanden und trotzdem eine schlechtere Trefferquote als
ein heißgelaufenes G36-Sturmgewehr ergrölt. Die Tschernihiwer Musiksoldaten
hingegen bilden eine Keilformation und begleiten akkurat die Sängerin, die
auf Englisch ins Mikro schmettert, dass Blut und Tränen nie versiegen
würden zum Ruhme des Vaterlands, das sich prima auf Schmerz reimt: „Glory
to Ukraine“. Aus politischer Überzeugung müsste ich jetzt ergriffen sein.
Ich müsste, ganz wie die Besucher*innen in der Sitzreihe vor mir, dem
Drang nachgeben, mich mit dem kriegerischen Kollektiv zu identifizieren und
den eingängigen Zweierrhythmus mitklatschen. Aber ich fühle ihn nicht in
mir, den Drang: Wie will denn die Ukraine den Krieg gewinnen, wenn sie
ihre gefährlichsten Bläser in Bremen Angst und Schrecken verbreiten lässt?,
zersetzt ein gedachter Kalauer meine Solidarität. Was ist bloß mit mir los?
Okay, Albert Einstein fand [1][Militärkapellen auch doof]. Musiksoziologie
und Kriegstheorie übergehen sie meist mit Schweigen (Clausewitz) oder
zitieren sie als verächtliches Beispiel (Adorno).
Doch „Musik ist stets notwendiger Bestandteil organisierter Kriegsführung
gewesen“, hat [2][die rühmliche Ausnahme Eva Rieger] festgestellt. Aber
auch die Musikwissenschaftlerin fragt vor allem, wie das Klingkling, Bumbum
und Tschingdada die andere, vermeintlich absolute Musik infiltriert hat.
Dabei kann als korrespondierendes Gegenstück ihrer Einsicht gelten, dass
auch die, ja alle Musik stets und notwendig Krieg ist: denn sie erobert die
Körper der Hörenden. Denen bleibt, sich dem Klang und der ihn vortragenden
Gemeinschaft zu unterwerfen, oder eben, sie als Gewalt zu erleiden. Auf
Dauer bringt sie so jedes Bollwerk zum Einsturz: Das ist sozusagen die
Wahrheit des [3][biblischen Mythos von der Eroberung Jerichos]. Käme Musik
im Tattoo etwa nur zu sich selbst?
Im zweiten Teil macht das Publikum allmählich schlapp. Sind dreieinhalb
Stunden Ausdauermarschmusik zu viel? Oder verblassen die Acts einfach
gegenüber dem Auftritt der Propagandakapelle aus Shijiazhuang? Deren
großartige Show kurz vor der Pause hatte damit geendet, dass alle
begeistert der in einer Schwungtuchchoreografie präsentierten chinesischen
Staatsflagge zujubelten. Danach fällt das Mitklatschen schwächer aus,
verebbt manchmal ganz.
Auch wenn der Pazifist und Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde in Bremen
geboren ist und die Uni eine Zivilklausel hat. Die Stadt ist traditionell
Aufmarschgebiet der Militärmusik: Die jetzige Show ersetzt in derselben
Location die von 1965 bis 2017 von Kriegsgräberfürsorge und Bundeswehr
koordinierte „Musikschau der Nationen“.
Bei der hatten zunächst die Armeen der Nato-Partner, später dann aber auch
andere, wie von Russland, Weißrussland und Syrien ihre Korps in die Arena
geschickt, um Völkerverständigung und Friedensliebe zu demonstrieren. Das
Konzept hat der kommerzielle Veranstalter etwas aufgeweicht:
Er hält das mehrtägige Manöver nicht mehr nur in Bremen, sondern in
diversen anderen Städten ab. Auch ist knapp die Hälfte der Spielmannszüge,
die hier [4][im strammen Tritt, in Schritt und Tritt und Tritt und Schritt]
marschieren, nicht Teil der Streitkräfte ihrer Nationen. Ungewiss aber
bleibt, ob das nun auf eine Zivilisierung des Events hindeutet. Oder einen
höheren Militarisierungsgrad der Bevölkerung.
28 Jan 2024
## LINKS
[1] https://archive.org/details/worldasiseeit0000eins/page/4/mode/2up?q=brain
[2] http://www.eva-rieger.de/
[3] https://www.bibleserver.com/ZB/Josua6
[4] https://www.zgedichte.de/gedichte/detlev-von-liliencron/die-musik-kommt.html
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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