# taz.de -- Jemen, Huthis und der Kolonialismus: Seewege schützen reicht nicht | |
> Internationales Militär will die Seewege zwischen Europa und Asien | |
> schützen. Eine Wiederherstellung der Staaten Somaliland und Südjemen | |
> sollte folgen. | |
Bild: Was die heutigen Huthi-Milizen mit der Kolonialzeit zu tun haben | |
Das Rote Meer wurde im Jahr 1869 von einer maritimen Sackgasse zur | |
Hauptschlagader der Globalisierung. Die Eröffnung des Suezkanals zum | |
Mittelmeer schuf einen direkten Seeweg zwischen Europa und Asien und | |
erfüllte damit einen alten Traum europäischer Händler und Eroberer. Der | |
arabische Raum rückte mehr in den Fokus imperialer Geopolitik und der | |
Kanalbau nutzte vor allem dem britischen Empire. Der Weg aus London ins | |
britische Indien halbierte sich, die Anrainerküsten wurden britisches | |
Interessengebiet. | |
So wuchs der 1839 erworbene britische Hafen Aden an Jemens Südküste, von | |
Indien aus verwaltet, zur wichtigsten Bekohlungsstation für die | |
Dampfschifffahrt zwischen Suez und Bombay. Zu ihrer Absicherung entstand | |
das „Aden-Protektorat“, und auf der gegenüberliegenden Südküste wurde der | |
somalische Handelshafen Berbera zum Ausgangspunkt von Britisch-Somaliland, | |
das die Versorgung Adens mit Lebensmitteln gewährleistete – bis heute wird | |
aus dem Horn von Afrika, wo immer wieder Hungersnöte wüten, Vieh auf die | |
Arabische Halbinsel exportiert, die im Ölgeld schwimmt. | |
Nebenan entstand derweil Französisch-Somaliland, heute Dschibuti, aus der | |
französischen Bekohlungsstation Obock. All diese Kolonialgebiete | |
existierten mehr auf Landkarten als in der Realität, in der sich die | |
imperiale Präsenz weitgehend auf die Häfen beschränkte. Die | |
Nomadenbevölkerungen im Hinterland waren weder wichtig noch kontrollierbar. | |
150 Jahre später mag das Geschichte sein, doch die geografischen | |
Gegebenheiten haben sich nicht verändert. Wieder einmal steht die Sicherung | |
des Welthandels im Roten Meer im Fokus. [1][Die USA und Großbritannien | |
fliegen Luft- und Raketenangriffe auf jemenitische Rebellen], die EU | |
bereitet eine Marinemission vor, ein deutsches Kriegsschiff ist unterwegs. | |
Und wer die Küstengebiete kontrolliert, ist ähnlich offen wie im 19. | |
Jahrhundert oder auch in den 1960er Jahren, als Großbritannien sich erst | |
aus Somaliland und dann aus Aden verabschiedete – unvermittelt und hastig, | |
im Rahmen des Rückzugs aus der imperialen Verantwortung „östlich von Suez�… | |
Die gescheiterten Staaten Somalia und Jemen sind Paradebeispiele dafür, was | |
geschieht, wenn ein Empire einfach die Zelte abbricht, Dekolonisierung ohne | |
Konzept. | |
## Jemen und Somalia sind fiktive Staaten | |
Der Staat Jemen ist eine Fiktion. Die einstige Kolonie Aden wurde 1967 als | |
Südjemen unabhängig und wenig später eine sozialistische „Volksrepublik“, | |
die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 mit dem Nachbarstaat | |
Nordjemen um die alte Königsstadt Sanaa in den Bergen zum vereinigten Jemen | |
verschmolz, aber das ist längst wieder zerfallen. In Sanaa regieren heute | |
die Huthi-Rebellen, die aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza | |
Schiffe im Roten Meer beschießen. In Aden sitzt Jemens international | |
anerkannte Regierung in einer brüchigen Allianz mit Kräften, die das | |
unabhängige Südjemen zurückhaben wollen. | |
Auch der Staat Somalia ist eine Fiktion. Die einstige Kolonie Somaliland | |
wurde 1960 unabhängig und verschmolz nach nur einer Woche mit der ebenfalls | |
unabhängig gewordenen italienischen Nachbarkolonie Somalia weiter südlich | |
um Mogadischu. Somaliland-Rebellen sorgten aber 1991 für den Sturz des | |
damaligen somalischen Diktators in Mogadischu, der mit Sowjethilfe ihren | |
Aufstand brutal bekämpft hatte, und riefen ihre Heimat wieder als | |
unabhängigen Staat aus. Die Republik Somaliland ist seitdem relativ stabil, | |
während der Rest Somalias im Krieg versank. | |
Aber international werden Jemen und Somalia als geeinte Staaten anerkannt. | |
Die Kluft zwischen Landkarte und Realität hat zugleich auf beiden Seiten | |
des Golfs von Aden Staatenlosigkeit befördert. Es entstanden | |
Rückzugsgebiete für islamistische Terrorgruppen – Shabaab in Somalia, | |
al-Qaida in Jemen. Gegen Piraten aus Somalia entstanden schon einmal | |
internationale Marinemissionen. Die Verquickung von [2][Jemens | |
iranisch-saudischem Stellvertreterkrieg] mit dem Nahostkonflikt erzwingt | |
heute ein neues militärisches Eingreifen, aber auch nur zum Schutz der | |
Seewege. Ohne Klärung der Staatlichkeit in den Gebieten, die formal Jemen | |
und Somalia heißen, wird keine Stabilität einkehren. | |
## Imperiales und demokratisches Zeitalter | |
Es ist höchste Zeit, [3][die Republik Somaliland endlich als den souveränen | |
Staat anzuerkennen], der sie seit über 30 Jahren ist, und damit als Partner | |
in der Stabilisierung, während Somalias Regierende weiter südlich in | |
Mogadischu sich auf den Wiederaufbau ihres Staates konzentrieren, ohne dies | |
mit einem uneinlösbaren Machtanspruch auf Somaliland zu verbinden. Es wäre | |
ebenso sinnvoll, Südjemen als eigenen Staat mit der Hauptstadt Aden neu zu | |
gründen, die wieder zu einem florierenden Hafen aufgebaut werden könnte, | |
während die Huthi-Rebellen in Sanaa weiter nördlich ihr eigenes Staatswesen | |
pflegen und notfalls auch international bekämpft werden, ohne dass | |
irgendwer einen Machtanspruch auf das gesamte Jemen geltend macht, der | |
ohnehin undurchsetzbar wäre. | |
Das imperiale Zeitalter ist vorbei und keine auswärtige Macht kann einfach | |
so neue Staaten ausrufen. Aber das demokratische Zeitalter, das auf das | |
imperiale hätte folgen sollen, müsste eigentlich die Möglichkeit bieten, | |
dass Bevölkerungen ihre eigenen Belange neu ordnen. Ein unabhängiges | |
Somaliland und ein unabhängiges Südjemen würden dem Willen der | |
Mehrheitsbevölkerung in ihren jeweiligen Territorien entsprechen. Indem sie | |
koloniale Grenzen wiederherstellen, wäre ihre Neugründung auch kein Bruch | |
der ungeschriebenen UN-Regel, dass kolonial gezogene Grenzen zu | |
respektieren seien. | |
Die Kräfte, die das verstehen, werden mehr. Sie reichen von Äthiopien über | |
gewichtige Stimmen in Großbritannien bis zu den Vereinigten Arabischen | |
Emiraten. Sie müssten jetzt international dafür werben und auf Worte Taten | |
folgen lassen. Das wäre mehr noch als die Entsendung von Kriegsschiffen ein | |
Schritt hin zur Stabilisierung einer der wichtigsten Weltregionen. | |
12 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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