| # taz.de -- Sozialticket nach dem Berlin-Pass: Die missglückte Reform | |
| > Der Nachfolger des Berlin-Passes – der sogenannte Berechtigungsnachweis – | |
| > ist ein Bürokratie-Monster. Und gehört ganz schnell wieder abgeschafft. | |
| Bild: Hunderttausende Berliner*innen sind auf das Sozialticket angewiesen, doch… | |
| Natürlich war es gut gemeint. Die Reform des Berlin-Passes sollte die | |
| Bürgerämter entlasten – und in der Tat wäre uns allen damit gedient, wenn | |
| es dort wieder schneller und mehr Termine gäbe. Dumm nur, dass die | |
| Änderungen, die noch der alte rot-grün-rote Senat verfügt hat, dafür | |
| sorgen, dass nun andere Ämter – Sozialämter, Jobcenter, | |
| Landesflüchtlingsamt, Wohngeldstellen – Mehrarbeit haben. Und das ist | |
| beileibe nicht das größte Problem. | |
| Viel gravierender ist, dass tausende Nutzer*innen seit Jahresbeginn bei | |
| BVG-Kontrollen zu einem „erhöhten Beförderungsentgelt“ verdonnert wurden, | |
| weil sie den Nachfolger des Berlin-Passes im Bereich Verkehr – die | |
| „VBB-Kundenkarte Berlin S“ – nicht vorweisen konnten, um nachzuweisen, da… | |
| sie für die Nutzung des 9-Euro-Tickets berechtigt sind. Über 10.000 | |
| Geringverdiener*innen sollen nach taz-Informationen [1][eine | |
| 60-Euro-Buße] zahlen – weil eine Verwaltungsreform total in die Hose ging. | |
| Dabei hätte man Sicht von Nutzer*innen den alten Berlin-Pass ohnehin | |
| beibehalten können. Man bekam ihn unbürokratisch und ohne Termin bei den | |
| Bürgerämtern, musste nur Ausweis, Passbild und den Leistungsbescheid vom | |
| Amt mitbringen. Mit dem Pappkärtchen konnte man das günstige ÖPNV-Ticket | |
| kaufen, das seit der zwischenzeitlichen [2][Einführung des 29-Euro-Tickets] | |
| eben nur noch 9 Euro kostet. | |
| Außerdem bekamen Berlin-Pass-Inhaber*innen zahlreiche weitere | |
| Vergünstigungen bei kulturellen Angeboten – ein wichtiges Angebot, um armen | |
| Menschen soziale und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. | |
| ## Nicht diskriminierungsfrei | |
| Aus Verwaltungssicht hatte der Papier-Pass Nachteile: Erstens musste ihn | |
| jemand ausstellen – und vielleicht könnte man hier durch Digitalisierung | |
| oder Wechsel in der Zuständigkeit Zeit einsparen? | |
| Zweitens war er nicht ganz fälschungssicher, was angeblich vor allem die | |
| BVG gestört haben soll. Heißt es nun zumindest aus grünen und linken | |
| Politikerkreisen. Die BVG will die Neuerung nicht gewollt haben, wie | |
| überhaupt niemand mehr im politischen Berlin die Reform so, wie sie | |
| geworden ist, gewollt haben will. | |
| Drittens – ein Argument, das gegenüber der taz eine Linken-Politikerin | |
| vorbrachte – sei das Vorzeigen des Berlin-Passes in Bus und Bahn | |
| „diskriminierend“. Alle könnten sehen, dass die betreffende Person | |
| Sozialleistungsbezieher*in ist. | |
| An letzterem hat sich mit Einführung der neuen VBB-Kundenkarte Berlin S | |
| rein gar nichts geändert. Diese Kundenkarte sieht anders aus als die | |
| BVG-Abokarte: Sie ist grau, mit großem Foto und einem fetten „T“ in der | |
| Mitte – was immer das bedeutet. Wer sich damit in der Bahn ausweist, ist | |
| auf 20 Metern als „besonderer Fall“ zu erkennen. Diskriminierungsfrei ist | |
| die VBB-Karte also schon mal nicht. | |
| ## Überlastete Ämter | |
| Das größere Problem ist allerdings, dass es hochkompliziert ist, die Karte | |
| zu bekommen – aus vielen Gründen. So kommen die Ämter nicht damit | |
| hinterher, den neuen Berechtigungsnachweis zu verschicken, der den alten | |
| Berlin-Pass ersetzt hat. Die Sozialämter etwa waren vorher schon | |
| überlastet, unter anderem wegen des Ukraine-Krieges, der ihnen viele neue | |
| „Kund*innen“, die Kriegsflüchtlinge, beschert hat. | |
| Der Sozialstadtrat von Neukölln, Hannes Rehfeldt (CDU), hat kürzlich im | |
| Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses vorgerechnet, dass das Sozialamt | |
| rund 10 Minuten pro Berechtigungsnachweis braucht – bei 14.000 „Kund*innen�… | |
| mache das also 140.000 Minuten Mehraufwand allein im Sozialamt Neukölln. | |
| Wir rechnen weiter: Das sind 2.333 Arbeitsstunden – oder 58 Wochen (!) | |
| Arbeit für eine fleißige Vollzeit-Biene. | |
| Das liegt auch daran, dass „Digitalisierung“ in der Berliner Verwaltung | |
| [3][nicht wirklich digital heißt]. Beim Berechtigungsnachweis ist es so, | |
| dass die nun angeblich fälschungssicheren QR-Codes von den | |
| Sozialamts-Mitarbeiter*innen händisch in ein 12-seitiges Papierdokument (!) | |
| eingeklebt werden müssen. Das sei offenkundig „auch nicht der Gipfel der | |
| Digitalisierung, die Berlin braucht“, monierte Rehfeld zu Recht. | |
| Etwas zu digital war dafür die Beantragung der VBB-Karte. Dafür mussten | |
| Berechtigte besagten QR-Code selbst scannen und ihn samt einem digitalen | |
| Passfoto auf einer Online-Plattform der BVG – beziehungsweise eines von der | |
| BVG beauftragten privaten Dienstleisters – hochladen. | |
| ## Ziel ist Teilhabe, nicht Zeitersparnis | |
| Die Sache ist an sich kompliziert, und nicht nur 85-jährige | |
| Bezieher*innen von Grundrente sind daran gescheitert. Dass rein | |
| digitale Angebote zwangsläufig Menschen ausschließen, hätte der | |
| Senatssozialverwaltung, die das Ganze veranlasst hat, von Beginn an klar | |
| sein müssen. | |
| Dazu kam, dass die Plattform in den ersten Wochen oder Monaten fehlerhaft | |
| lief, QR-Codes etwa nicht erkannt wurden. Immerhin: Seit einigen Wochen | |
| kann die VBB nun auch per Brief (schon wieder: Papier!) beantragt werden. | |
| Allerdings ist die Sache immer noch kompliziert – viel komplizierter als | |
| der alte Berlin-Pass. | |
| Die Forderung von Betroffenen und Sozialpolitiker*innen von CDU | |
| über Grüne, SPD bis Linkspartei, dass man daher zum Berlin-Pass | |
| zurückkehren sollte, bis eine wirklich praktikable andere Lösung gefunden | |
| ist, ist daher verständlich. Es braucht schnell und pragmatisch eine | |
| Lösung, damit ab sofort wieder alle, die auf die Vergünstigungen angewiesen | |
| sind, sie auch in Anspruch nehmen können. | |
| Dann können sich Politik und Verwaltung in Ruhe überlegen, was sie warum | |
| und wie ändern wollen. Und vielleicht denken sie nochmal ganz grundsätzlich | |
| darüber nach, was die Idee des Berlin-Passes war: eine Teilhabemöglichkeit | |
| für arme Menschen zu schaffen. Alles andere – Entlastung von Ämtern, | |
| Digitalisierung, Fälschungssicherheit – sollte diesem Ziel untergeordnet | |
| werden. | |
| 22 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nachfolger-des-Berlin-Passes/!5980705 | |
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| [3] /Modernisierung-der-Berliner-Verwaltung/!5950882 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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